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4. Die Narrenidee in der satirischen Dichtung des Spätmittelalters und der frühen

4.4 Erasmus von Rotterdam

Seine Narreninterpretation gilt als erste »positive« Darstellung der Narrenidee in der europäischen Literatur.395 Dennoch betont Erasmus von Rotterdam gleichwohl selbst, dass sein Deutungsansatz keine bejahende Narrenlesart im Sinn hat.396 Bei ihm korreliert christliche Ethik vielmehr mit anti-kem Humanitätsideal, wodurch Narrheit zugleich vorteilhafte Züge besitzt und zur basalen Konstan-te des Lebens aufsKonstan-teigt.397 Christine Christ-von Wedel etikettiert Erasmus in ihrem Buchtitel deshalb als Anwalt eines neuzeitlichen Christentums398, der dem Narrenphänomen in einer neuen Weise entgegentritt. »Die Torheit loben heißt die Weisheit tadeln […]«399, so versteht Willems den Grund-gedanken der erasmischen Lobesrede. Denn Erasmus etabliert einen Weisheitsbegriff, der sich an der Lehre der Stoa400 orientiert und mit der Vorstellung des Narren in Christo in Einklang gebracht wird. Seine neustoizistische Lesart der Termini Narrheit und Weisheit reflektiert somit ex aequo dessen antikes wie christliches Erbe, dass für die neuzeitliche Geisteswelt sowie für die Literatur des Barocks wegweisend ist.401

Allerdings betont Studer, dass weder bestätigt noch ausgeschlossen kann, ob das 1509 von Eras-mus verfasste und 1511 publizierte Moriae Encomium sive Stulticiae Laus (Lob der Torheit oder alternativ Lob der Narrheit) eine konkrete Reaktion auf Brants Narrenlesart markiert. Vielmehr vermutet er zum Entstehungshintergrund der Loblektüre:

Über den Anstoss zu seinem witzigsten Buch sagt Erasmus selber, er habe auf der endlos langen Reise von Italien nach England […] an seinen Studienfreund gedacht, zu dem er unterwegs war: Sir Thomas More, der als humanisti-scher Publizist seinen Familiennamen zu Morus lateinisierte, was doch gar nicht zu seinem Wesen passte. Natürlich wußte Sir Thomas, dass ‛morus’ soviel wie ‛einfältig, töricht’ bedeutet. Dieser fein gebildetete Freund hatte also die

393 Ibd., S. 79.

394 Könneker 1966a, S. 180.

395 Könneker 1966b, S. 77.

396 Berger 1998, S. 89. Dem stimmt Welsford zu: »Erasmus is usually regarded as a revolutionary humanist of dubious orthodoxy. Yet Erasmus might equally well be regarded as the last great representative of medievalism.« (Welsford 1935, S. 241).

397 Vgl. ibd., S. 24.

398 Siehe Christ-von Wedel 2003.

399 Willems 2012, S. 360 ff.

400 Die Lehre der Stoa ist auf der philosophischen Suche nach einem irdischen wie jenseitigen Glück, das aus stoischer Sicht mittels apollinischer Tugendlehre zu finden ist. Damit einher geht die Verbannung sämtlicher Genüsse und Leidenschaften zugunsten der Unterwerfung der Affekte unter die Macht der tugendbildenden Vernunft (vgl. ibd., S.

361f.).

401 Ibd., S. 360.

Kühnheit gehabt, sich einen zum Lachen reizenden Namen zuzulegen. Im Kopf des Erasmus keimte nun die Idee, den Jugendfreund wirklich beim Namen zu nehmen und dessen witzige Frechheit zu übertrumpfen. Was ihm auf der Reise alles eingefallen war, schrieb er als Gast seines Freundes ‛Morus’ dann in wenigen Tagen nieder.402

Könneker verbindet mit dem Lob der Torheit die Wendung ins Positive403, da Erasmus die zarten humanistischen Standpunkte der Brantschen Dichtung konsequent weiterdenkt und in die Neuzeit überführt.404 Auf dieser Folie verleiht er dem Topos der Narrenidee eine neuartige Bedeutung, die den von Brant postulierten moraltheologischen Kontrast von Narrheit und Weisheit zugunsten sei-ner neuen Weltanschauung synthetisiert: Erasmus betrachtet das eben formulierte Differenzpaar nicht wie Brnat moralisch, sondern aus einer anthropologischen Perspektive, die den Gegensatz einer Trieb- und Geistessphäre, die dem Menschen inhärent ist, aufsucht. In diesem Kontext wird das Brantsche Weisheitsideal persifliert. Könneker kommentiert deshalb: »So liefert die Torheit in ihrem Plädoyer auf die Narrheit eine treffende Karikatur jenes Weisen stoischer Prägung, den Brant als Vorbild gepriesen hatte.«405 Denn hinter dem erasmischen Gedankengut, verbirgt sich ein huma-nistisches Narrenverständnis, das den Narren vordergründig als Weisen und den Weisen als Narren deklariert. Bei genauerer Betrachtung wird aus literaturhistorischer Analyse deutlich, dass Erasmus mittels vielfacher ironischer Überzeichnungen sowie durch Prinzipien der Metareflexion, genauso satirische Gesellschaftskritik ausübt, die keineswegs die Narrheit von Grund auf bejaht. Vielmehr bedient sich Rotterdam des Narrensymbols, um ironische Anklage an den Vertretern der Gesellschaft – wie beispielsweise an Theologen, Philosophen, Kardinälen, Bischöfen, Mönchen etc. – vorzuneh-men.406 Diese Vorgehensweise, ist der Brantschen Argumentation nicht unähnlich. Fuchs sagt über diese neuzeitliche Erzählstrategie:

Die geistigen und weltlichen Eliten (Repräsentanten) werden einer Kritik unterzogen, die nicht einfach nur auf den Austausch dieser Repräsentanten durch würdigere Leute im Rahmen derselben Ordnung drängt, sondern ihr Maß aus einer Alternative bezieht, die diese Ordnung mit einer christlichen (in Christo närrischen) Ordnung konfron-tiert, die die eigentliche und gottgewollte (im Prinzip flache) Gesellschaft wäre.407

Sündenverfallenheit oder Lasterhaftigkeit interessieren Erasmus jedoch weniger, ihm geht es in sei-ner Satire um eine tadelnde Beurteilung des zeitgenössischen Wissenschafts- und Frömmigkeitsbe-triebs. Er wirft den geistlichen Eliten seiner Zeit vor, nicht aus reiner Nächstenliebe zu agieren, son-dern lediglich zum eigenen Wohle zu handeln.408 In seiner Rede über die Vertreter der Disziplinen aus Medizin, Theologie und Juristerei klassifiziert er deren antihumanistische Gesinnung:

Jedoch von den Wissenschaften gelten am meisten die, welche am nächsten mit dem Menschenverstand, will sagen, der Torheit, verwandt sind; hungern muß der Gottesgelehrte, frieren die Naturforscher, verlacht wird der Sterndeu-ter und der Logiker verachtet; einzig allein der Arzt ›hält vielen anderen die Waage‹ um mit Homer zu reden. Aber selbst hier steht es so: je unwissender, frecher, bedenkenloser er ist, desto mehr zieht er, nicht zuletzt wie sie jetzt im Schwange, nichts als ein Scharwenzeln, genau so wie die Schönrederei. Der zweite Rang, wenn nicht der erste, ge-bührt den Rechtsformelnkrämern. Ihr Gewerbe verhöhnen die Philosophen, um meinerseits nicht zu sagen, einhel-lig als einen Beruf für Esel; und doch entscheidet die Laune dieser Esel in kleinsten und größten Dingen. Ihnen

402 Studer 1991a, S.20.

403 Könneker 1966b, S. 77.

404 Ibd., S. 77f.

405 Ibd., S. 79.

406 Augustijn 1986, S. 57.

407 Fuchs 2002, S. 11.

408 Vgl. Könneker 1966b, S. 81.

wachsen die Landgüter aus dem Boden, während der Theologe, den ganzen Himmelschrein durchforscht hat, am Hungertuch nagt und sich mit Wanzen und Läusen herumschlägt.409

Für Fuchs hingegen ist das Lob der Torheit primär eine gesellschaftskritische Abhandlung, die den Fokus auf ein immanentes Leben lenkt und aufruft im Diesseits zu leben. »Das – so die paradoxe Inversion – wäre närrisch, also weise, wäre weise, also närrisch […]«410, bemerkt Fuchs. Studer greift den Gedanken auf und überlegt, dass, wenn also »[…] der Weiseste vor Gott ein Tor ist, muss es sich lohnen, der angeblichen Menschenvernunft, auf die sich viele berufen, auf den Grund zu schauen.«411 Unter der Berufung auf eine personifizierte divine Macht, präsentiert sich die Torheit nun selbst als autoreflexive Interpretin des Textes und nennt sich konsequent bei ihrem griechischen Namen Mori-a, lateinisch Stultitia, deutsch Torheit.412 Mit geistreicher Eloquenz und hintersinnigem Witz führt Erasmus den Leser durch sein unterhaltsames Werk und informiert das Auditorium über den Status dieser Göttin, die auf einer Metaebene ihr eigenes Lob verkündet und sich als Verursacherin der Welt betitelt.413 In ihren Sprechakten konstatiert sie ihren Machtwillen und betont, dass der Mensch das Leben in seiner Vielfalt, ausschließlich ihr zu verdanken habe.414 Daran anschließend definiert sie Narrheit als pathologisches Erbgut der Menschheit und differenziert im zweiten Schritt in ein positi-ves und negatives Narrentum, wobei Letzteres den Menschen zu animalischem Wahnsinn leiten kann.415 Stellvertretend für Erasmus begreift Moria Narrheit damit als kreatives Naturprinzip, das der Welt als Quell des Lebens ein signifikantes Wesen und eine philosophische Grundlage mit auf den Weg gibt.416

Dass Brant und Murner das Narrenphänomen als ekelerregenden Makel verstehen, verurteilt der Humanist. Ihm geht es im Wesentlichen darum, die Bedeutung der Narrenidee aufzuzeigen: Narrheit lässt sich schlichtweg nicht beseitigen, da diese der Welt wesenseigen ist. Könneker konstatiert

409 Erasmus von Rotterdam 1998, S. 67f.

410 Fuchs 2002, S. 11.

411 Studer 1991a, S. 21.

412 Ibd., S.21.

413 Ribhegge 2010, S. 65.

414 Sperna/Blockmans/Frijhoff 1988, S. 26.

415 Fuchs 2002, S.10f.

416 Problematisch erscheint die häufig postulierte These, in der Figur des Doktor Faustus einen Narren wahrzunehmen.

Meist begründet die Literaturwissenschaft diese Haltung damit, dass Faust sich lieber der Metaphysik, Alchemie etc.

anstatt der Vernunft widmet und auch seine Genusssucht erscheint als ein närrisches Kriterium. Dem ist jedoch zu widersprechen, denn Faust kommt erst aufgrund seiner Bildung auf die Idee, sich dem Bereich des Metaphysischen zu widmen, da sämtliche Konventionen ihm keine Antworten auf existenzielle Fragen liefern können. Wenn Johann Wolfgang von Goethe also seinen Titelhelden in der Nachtszene sagen lässt: »Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug wie nie zuvor […]«, dann reflektiert diese Aussage die Verzweiflung des Protagonisten, der immer noch auf Suche nach dem Sinn des Lebens ist (Goethe 2001, Vers 358f.).

Jedoch ist Faust nicht naiv, aggressiv oder komisch wie ein Narr. Ein weiterer Unterschied wird darin sichtbar, dass der Narr nie auf Sinnsuche ist; er hat seine sinnstiftende Funktion bereits in seiner Rolle als Insipiens gefun-den. Der Narrenfigur geht es vielmehr darum, sich im Laufe der Zeit von diesem Korsett zu befreien; die ihm zuge-wiesenen Charaktereigenschaften bejaht der Narr aber gänzlich. Von einer Sinnkrise ist daher aus Narrenperspekti-ve nicht zu sprechen. Oft wird der Vergleich von Faust mit dem Narren in Verbindung mit Erasmus von Rotterdam gebracht, der im Lob der Torheit den sinnstiftenden Nutzen von christlicher und allgemeiner Bildung hinterfragt und die zeitgenössische Theologie und Wissenschaft an den Pranger stellt. Ein solcher Vergleich der erasmischen Torheitsfigur mit Goethes Faust führt aber zu weit und definiert einen Narrenbegriff, der sich der Gefahr aussetzt, beliebig zu werden. Zwar lassen sich formale wie inhaltliche Strukturen zwischen dem Lob der Torheit und dem Fausttext ziehen, diese Wirkungsmechanismen spiegeln jedoch nicht faktische Aspekte der Narrheit des Spätmittel-alters und der frühen Neuzeit wieder, sondern thematisieren durch Erasmus einen diskursiven Umgang mit der Be-wertung und Bedeutung der Kategorien Diesseits und Jenseits.

her, dass Erasmus dem Narrenthema eine originelle wie befreiende Deutung417 verleiht, die keine Lehrdichtung noch Kampfschrift418 verkörpert, sondern das pessimistische Weltbild des Spätmittel-alters auflöst.419 »Die Brantschen Thesen werden also durch den Mund der Erasmischen Torheit in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Aus dem Nein wird ein Ja, aus dem Ja wird ein Nein.«420 »These und Antithese, Wahrheit und Lüge […]«421 sind verschmolzen, so dass sich der Leser »[…] ratlos fragen muss, wo in dem unentwirrbaren Geflecht von Schein und Echtheit der unangreifbare Kern zu su-chen ist.«422 Christ-von Wedel untermauert diese Aussage und ergänzt, dass stoische bzw. epikurei-sche Weisheitsideal somit ad absurdum geführt werde.423

Erasmus bedient sich im Vergleich mit Brant einer komplementären Ideenführung, die auf der verfremdungseffektiven Selbstdarstellung der personifizierten Torheit beruht. Die Begriffe Narrheit und Weisheit verkörpern keine sich ausschließenden Gegensätze mehr, sondern treten als sich be-dingende reziproke Ambivalenzen auf.424 Vor diesem Hintergrund eröffnet das panegyrische Selbst-lob der Moria ein scherzendes Gedankenspiel, das mittels Dialektik Narrheit und Weisheit in eine fruchtbare Synthese überführt.425 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Universalgelehrte das Narren-phänomen als positive Erscheinung bewertet. Er nimmt vielmehr eine Haltung ein, die doppeldeutig ist und von einer janusköpfigen Narrenidee ausgeht:

Das Wesen dieser kleinen Dichtung, die das Schlechte preist, das nicht zu Billigende verherrlicht, ist Zweideutigkeit.

Richtig und Falsch, Wahrheit und Lüge sind in ihr untrennbar ineinander verwoben; aber hinter dem irrlichternden Spiel des Witzes, der die Wertungen ständig durcheinanderwirbelt und mit Argumenten wie mit Bällen jongliert, verbirgt sich durchaus ein tiefer Kern, und auf die Frage nach dem wirklichen Verhältnis von Narrheit und Weisheit hat Erasmus sehr wohl eine, wenn gleich verschlüsselte Antwort bereit.426

Der erasmische Lösungsansatz kulminiert schließlich darin, dass sich Narrheit sowohl aus schlechten als auch aus guten Teilen firmiert, die allesamt auf den inneren Antrieb des Menschen rekurrieren.

Narrheit umfasst somit für Kuper ein breites Spektrum von Affekten, die in einem Wechselverhältnis mit der menschlichen Vernunft korrelieren:

Das Leben ist von Narrheit durchpulst, weil es Leben ist; der im zwiespältigen Spannungsverhältnis von Natursphä-re und GeistsphäNatursphä-re, Leidenschaften und Vernunft, TierbeNatursphä-reich und göttlicher SphäNatursphä-re als personifziertes Paradoxon des Widerspruchs hin- und hergerissene Mensch bleibt für die Dauer seiner irdischen Existenz bei jeglicher Aktivi-tät ein Narr, weil er eben lebt und die Welt gestalten muß, wobei irren, ignorieren, täuschen und mißverstanden werden untrennbar von ihm selbst zu seinem in Unvollkommenheit befangenem In-der-Welt-Sein gehören. Die Narrheitskonzeption des Erasmus geht von der Gleichsetzung von Narr und Mensch aus, und daß der Zustand der Welt untrennbar mit dem Stand der menschlichen Erkenntnis verknüpft ist.427

Der Mensch nimmt in diesem Spiel eine Zwitterstellung ein, die ihn einerseits von der animalischen Ebene des Tieres wegführt und andererseits von der Sphäre Gottes dennoch trennt. In diesem

417 Könneker 1966b, S. 77.

418 Ibd., S. 78.

419 Ibd., S. 78f.

420 Ibd., S. 80.

421 Könneker 1966a, S. 258.

422 Ibd.

423 Vgl. Christ-von Wedel 1981, S 66.

424 Kuper 1993, S. 183.

425 Vgl. Pilarczyk 2004, S. 48.

426 Könneker 1966b, S. 80f.

427 Kuper 1993, S. 80.

men spricht Erasmus nunmehr von einer zur Verfügung stehenden sittlichen wie frommen Freiheit, über die jedes Lebewesen selbst entscheiden vermag: Im ungünstigen Fall vegetiert der Mensch also ohne seine Gabe der Vernunft vor sich; im optimalen Fall macht er sich die Kraft dieser Narrheit zu Nutze. Dieser Gedanke symbolisiert demnach ein Modell der Lebensführung, das auf Prozessen der Erkenntnis beruht. Die Existenz der Narrheit in der menschlichen Seele zu verleugnen verurteilt Erasmus ganz und gar, denn dies führe zur Negation der eigenen Menschlichkeit. Könneker, die sich hierbei auf Walther Nigg beruft, betrachtet das Lob der Torheit deshalb als das »[…] Bekenntnis zur Narrheit als dem Fundament christlicher Weltbegegnung […]«.428 Das Narrenphänomen versinnbild-licht somit eine schöpferische Kraft, die folgerichtig den Triumph des Geistes über das dionysisch Triebhafte bedingen kann.429

Während Brant eine pessimistische Gedankenführung verfolgt, die bei Murner sodann durchgrei-fende Verschärfung erfährt, zeichnet Erasmus ein Bild des Närrischen, das eine positive Zukunfts-prognose malt und erste Tendenzen des Begriffs Individuum430 aufkeimen lässt.431 Der Narr bleibt dabei – wie bereits bei Brant und Murner – solides und verlässliches Medium der Kritik. Vor diesem Hintergrund genießt Erasmus jedoch das Spiel mit den vielfältigen Ebenen der Narrheit: Er fordert den Leser auf, ihm zu lauschen, als höre man dem theatralen Spiel einer Hanswurstiade zu. Ergo bezeichnet er sein Werk voller Selbstironie als kunstlose Stehgreifrede.432 Einen Moment der wahren Ernsthaftigkeit darf man demzufolge nicht erwarten, sonst würde sie literarisch versagen. Ihr Reiz liegt vielmehr in dem oszillierenden Schein von Spaß und Ernst. Deswegen bleibt Erasmus sich am Ende des Moriae Encomium sive Laus Stultitiae auch treu und formuliert in den letzten Zeilen seiner Lektüre:

Und jetzt – ich sehs euch an – erwartet ihr den Epilog. Allein, da seid ihr wirklich zu dumm, wenn ihr meint, ich wisse selber noch, was ich geschwatzt habe, schüttete ich doch den ganzen Sack Wörtermischmasch vor euch aus.

Ein altes Wort heißt: ›Ein Zechfreund soll vergessen können‹. Drum Gott befohlen, brav geklatscht, gelebt und ge-trunken, ihr hochansehnlichen Jünger der Torheit.433

Aus formaler wie inhaltlicher Folie betrachtet Könneker das Lob der Torheit als den literarischen Kulminationspunkt in der satirischen Auseinandersetzung mit der Narrenidee im 15. und 16. Jahr-hundert.434 Das Belehrende der Lektüre richtet sich nämlich nicht an die Summe des Volkes, sondern vornehmlich an alle Wissensbevollmächtigten.435 Es ist jener Gelehrtenkreis, den der Kulturphilo-soph mit seinem Sinngehalt zu erreichen versucht, um deren Gesinnung zu einem vernunftbasierten Nachdenken zu bewegen.436 Sein Weisheitsideal kann deshalb nicht von jedermann dechiffriert

428 Könneker 1966a, S. 326. Zitiert nach Nigg 1956, S. 138f. sowie S. 142.

429 Vgl. ibd., S. 327.

430 Der Individualitätsbegriff von Erasmus basiert auf einerseits auf christlichem Gedankengut sowie auf dem Geist antiker Philosophie. In diesem Rahmen spielen die Lehren Jesu Christi für Erasmus eine elementare Rolle ebenso wie antike Morallehren. Darauf fußt sein Humanismus- und daraus hervorgehendes Individualitätsverständnis. Das erasmische Menschheitsideal gründet sich daher auf antiker und christlicher Literatur, die zu vernunftorientierter Selbstverwirklichung führt (Gail 1999, S. 11 und S. 23).

431 Könneker 1966b, S. 82ff.

432 Vgl. Erasmus von Rotterdam 1998, S. 16ff.

433 Ibd., S. 188.

434 Vgl. Könneker 1966a, S. 248.

435 Dieses Faktum erklärt, weshalb das Lob der Torheit keine Breitenwirkung wie das Narrenschiff erfahren hat (vgl.

Mezger 1991, S. 58).

436 Vgl. Könneker 1966a, S. 255.

den und es wurde für seine elitäre Ansprache auch immer wieder kritisiert.437 Mezger resümiert über Erasmus und sein Lob der Torheit:

Mit geistvoller Leichtigkeit und Eleganz und vor allem mit der Waffe der Ironie kleidete er seine Zeitkritik kurzer-hand in ein zum Schmunzeln anregendes Lob der Torheit. Verglichen mit der starren schematischen Sichtweise der übrigen Vertreter der Narrenliteratur, die zwischen Richtig und Falsch, zwischen gut und Böse, zwischen Weisheit und Narrheit klar unterscheiden zu können glaubten, war das ein geradezu revolutionäres Unterfangen. Was sich daraus an Konsequenzen ergab, kann für die Erweiterung des Verständnisses von Narrheit in der Folgezeit nicht hoch genug eingeschätzt werden. Erasmus propagierte nämlich als erster offiziell den spielerischen Umgang mit der Sphäre des Närrischen, indem er die zuvor vielen Menschen moralisierend aufgezwungene Narrenrolle aus ihrer dumpfen Schicksalshaftigkeit löste und ihr einen geradezu heiteren Vorführcharakter verlieh. So lehrte das ›Moriae Encomium sive Stultitiae Laus‹, dass man […] dann und wann durchaus auch einmal herzlich lachen durfte.438

Für Erasmus ist der Narr somit diejenige satirische Folie, anhand derer er sein humanistisches Ver-ständnis über die Vormachtstellung von Affekt und Vernunft exemplifizieren kann.439 Damit versucht er einerseits seine Gedanken über das Diesseits zu artikulieren und sich andererseits über das Jen-seits durch das Spannungsverhältnis von Narrheit und Weisheit klarer zu werden.440 Ein solches Vorgehen ist ebenso Programm bei Brant und Murner; nur bedienen sich Letztere anderer Wege, Aussagen und Motivationen.441 Pilarczyk formuliert diesbezüglich:

In einem organischen Weltbild gelingt es Erasmus, Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit aufeinander zu beziehen und den im 16. Jahrhundert so virulenten Zwiespalt zwischen christlich asketischer Weltverachtung und diesseitig orien-tierter Lebensbejahung, der auch Brant umtrieb, zu überwinden. […] Dies vermag er freilich nur, indem er wie Foucault zu Recht kritisiert, eine vernunftgeleitete Apologie der irrationalen Torheit unternimmt, die so bedeu-tungsvolle Momente wie das Böse ausklammert.442

Und auch die Frage nach der Vergänglichkeit klingt in seiner Rede auf die Torheit wie in allen satiri-schen Narrendichtungen an. Allerdings sucht er den christlichen Humanismus um Rat, um die Un-gewissheiten zu beschreiben, das Leben als endlich definieren.443

Die Narreninterpretationen aller drei Literaten verfügen damit über einen ähnlichen Bildungs- und Zeithorizont,444 weshalb sich deren Thesen zwar als miteinander verwandt, aber dennoch völlig unterschiedlich erweisen. Zudem reflektieren die nachgezeichneten Satiren, deren jeweils spezifische Epochenwahrnehmung und überführen den sündenblinden (Brant) wie diabolischen Narren (Mur-ner) des Spätmittelalters in die Zeit des Humanismus, in dem die Narrenidee als konziliante Chiffre (Erasmus) agiert. In allen drei Dichtungen erfährt der Mensch als Narr also Kritik und ist der Mah-nung ausgesetzt, stets auf der Folie christlicher Richtlinien zu handeln. Dies bedeutet jedoch, fort-während einem inneren Konflikt ausgeliefert zu sein, denn Nähe zu Gott kann nur über die Einhal-tung von christlichen Gesetzen vollzogen werden. Gleichsam beginnt der Mensch sich aber in einer gegenläufigen Tendenz als gänzlich irdisches Wesen wahrzunehmen, das diesseitige Bedürfnisse ebenso stillen will. Damit auflebende persönliche Themenbereiche wie Wohlstand o. ä. sind von ego-istischer Natur und widersprechen dem Kodex christlicher Weltanschauung. Diese Erkenntnis

437 Ibd., S. 258.

438 Mezger 1991, S. 58.

439 Willems 2012, S. 362

440 Langenbach-Flore 1994, S. 78.

441 Könneker 1966a, S. 319.

442 Pilarczyk 2004, S. 49.

443 Vgl. Fietz 1995, S. 189ff.

444 Könneker 1966a, S. 250.

ziehen Brant, Murner und Erasmus, jedoch erarbeitet jeder seinen eigenen Umgang mit der

ziehen Brant, Murner und Erasmus, jedoch erarbeitet jeder seinen eigenen Umgang mit der