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Das neutestamentliche Narrenverständnis

3. Die Geburt der Narrenidee

3.5 Das neutestamentliche Narrenverständnis

Das Narrenbild der Neuzeit divergiert gänzlich von dem spätmittelalterlichen Narrenverständnis und invertiert basierend auf dem Neuen Testament »[…] den traditionsreichen Antagonismus von Tor und Weisem in einer gleichsam karnevalesken Verkehrung um.«280 Während das Alte Testament den Narren fortwährend als häretischen Sündernarren diskriminiert, erhebt das Neue Testament die Torheit des Narren zu dessen eigentlicher Weisheit. Der Narr erlebt somit eine invertierte Sinndeu-tung seines Torheitsprinzips, das nun eine Art naiv-intuitiven Zugang zum Leben darstellt, das sich auf diese Weise allein unschuldigen Geschöpfen wie Kindern und Narren offenbart, deren Blick auch keinerlei Berechnung verschleiert.281 Seine geistige Naivität lässt den Narren nunmehr sogar die Wahrheit um das Wesen Gottes erkennen, weshalb ihm als Medium göttlicher Weisheit in der Re-naissance, die Gnade der Unschuld zu Teil wird.282

Dieser so neuartige Bedeutungsgehalt der Narrenfigur fußt auf neutestamentlichen Aussagen, die sich auf den seit der Antike virulenten Aspekt des Prophetischen berufen.283 Die Gabe der Weissa-gung gilt demnach als »positiv« bewertetes Phänomen, weshalb der Wahnsinn der Narrenfigur nunmehr keine unheilbare Krankheit mehr darstellt, sondern zum desiderablen Gemütszustand avanciert.284 Das klassische Torheitsattribut, das bisher die Verleugnung Gottes repräsentiert, ver-mag nunmehr die Lehre Gottes in ihrem Kern zu begreifen und führt zur Prophetie285 des Narren, wie Karl Friedrich Flögel 1789 exemplifiziert:

280 Vgl. Pilarczyk 2004, S. 23.

281 Vgl. ibd., S. 23

282 Lever 1992, S. 20.

283 Dabei berufen sich Ärzte des Mittelalters auf die neuplatonische antike Vier-Säfte-Theorie, um die Ursachen von geisteskranken Störungen zu untersuchen. Ein Krankheitsbild manifestiert sich beispielsweise im Irrsinn und führt zu einem organischen Ungleichgewicht des Säftehaushaltes im menschlichen Körper. Ein ungesunder Lebensstil, ein asketisches Leben oder auch astrologische Konstellationen können ebenfalls in den Wahnsinn leiten. Hildegard von Bingen bezeichnet die Geisteskrankheit als eine physiologische Unordnung, die nach Meinungen mittelalterli-cher Medizin durch exorzistische Praktiken behandelt werden kann. Die damalige Rechtsprechung setzt sämtliche Familienmitglieder als gesetzlichen Vormund von Geisteskranken ein und jene sind somit bei Vergehen haftbar zu machen. Angst und Verzweiflung vor eventuellem Fehlverhalten der Kranken gelten daher als jene Antriebskräfte, die Familien veranlasst haben, ihre Schutzbefohlenen entweder zu Hause oder in Türmen vor der Stadtmauer zu verwahren. In Spitälern wurden bedrohlich wirkende Geisteskranke angebunden oder gefesselt. Joëlle Fuhrmann bezeichnet die dort anzutreffenden Lebensumstände deshalb als elend. Wenn allerdings kein Gefahrpotential für die Öffentlichkeit vermutet wurde, so durften die Betroffenen an königlichen und fürstlichen Höfen als Hofnarren agie-ren. Der Analogieschluss zwischen der gespielten Verrücktheit des Hofnarren von Berufswegen und des Geistes-kranken erscheint somit durchaus plausibel (vgl. Fuhrmann 1994, S. 47-52).

Weitere ergänzende Aspekte, die das Phänomen Wahnsinn zu erklären versuchen, liefert Schmitz und verweist neben der oben erwähnten Temperamentenlehre ebenso auf die aristotelische Pneuma-Lehre, die sich der Wech-selwirkung von Physis und Psyche verschreibt und darauf beruht, dass der Mensch einem bestimmten Gefühlskli-ma, also bestimmten Affekten seines Körpers ausgeliefert ist. Auf diesem Nährboden gründen auch erste medizini-sche Prozeduren im Umgang mit Geisteskrankheiten, die besagen, dass das humorale Gleichgewicht zwimedizini-schen Kör-per und Seele aus dem Lot geraten sei. Weiter führt Schmitz zum Beispiel den neuzeitlichen Melancholiekult an, in welchem Melancholie weniger Krankheit, sondern viel mehr als Kult fungiert (vgl. Schmitz 2004, S. 34-39).

284 Vgl. Pilarczyk 2004, S. 23.

285 Biblische Fürsprache für eine Inversion der Torheit findet sich bei Mt. 5,3; Mt. 11,25, als Jesus spricht: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast«. (Bibel 1980, S. 16.) Paulus hingegen konterkariert die Torheit des Christentums mit der Weis-heit der Welt (Kor 1, 18-31; 2, 14; 3, 18-20; 4, 10). Daneben finden sich biblische Textstellen, die wiederum den Sta-tus des Sündernarren prolongieren (Mt. 7, 24-27; 25, 1-3) (vgl. Osteneck 1971, S. 314-318 sowie Pilarczyk 2004, Fußnote 24, S. 23).

Viertel verweist bezüglich der Ursprünge der Prophetie auf weitere Bibelstellen, die unterschiedliche

Akzentuie-Mit den Narren hat es eine ganz andere Bewandniß; sie thun alles, was die Fürsten gerne haben, sie scherzen, sie la-chen und mala-chen ihnen nichts als Vergnügen. Ferner haben sie das gar nicht verächtliche Privilegium, daß sie we-gen ihrer Einfalt allein die Wahrheit sawe-gen können. Was ist aber schätzbarer als die Wahrheit? Denn ob man zwar dieselbe, nach dem gemeinen Spruchwort, als eine Eigenschaft der Kinder oder des Weines ansieht, so kommt sie doch eigentlich den Narren zu.286

Der Narr gewinnt daraufhin an Reputation und verliert im 16. Jahrhundert seinen bisher negativ konnotierten Status. Die Tatsache, dass sich die Weisheit der Welt nunmehr durch die Torheit des Narren erschließen lässt, ist mit einer Niederlage der theologischen Profession des Mittelalters zu vergleichen. Der Narr, der als dämonischer Parodist bisher den Wertebestand christlicher Lebens-führung auf den Kopf gestellt hat, erweist sich konträr als tiefgründiges respektive vertrauenswürdi-ges Wesen: So kulminiert der Topos der Narrenidee um Christi Willen im altrussischen Phänomen des Narren in Christo (Jurodivye), über das Pilarczyk ausführt:287

Zum Kreis dieser tiefgläubigen Männer, die freiwillig ein Leben der Entbehrung und der Demütigung auf sich nah-men, gehörten angeborene und selbstgewählte Toren gleichermaßen. Mit ihrem Narrenspiel suchten sie der Welt die Augen für das Auseinanderklaffen von gelebter Wirklichkeit und göttlichem Gebot zu öffnen und sie so der Erlö-sung näher zu bringen.288

Jene Narrentradition gründet sich auf den biblischen Worten des Apostel Paulus, der im 1. Korin-therbrief289 des Neuen Testaments über die Verantwortung und Probleme der jungen christlichen Gemeinde spricht: In diesem Kontext erörtert Paulus schließlich den Unterschied zwischen dem beseelten Geist des Einfältigen und dem irdisch gesinnten Menschen, der die Weisheit Gottes nicht begreifen kann. Die Genese eines Jurodivye setzt somit die christliche Askese voraus, weswegen ein potentieller Anwärter bereit sein muss, alle irdischen Bedürfnisse hinter sich zu lassen. Im Gegenzug erwartet ihn ein Christusnarrentum, das die diesseitigen Eitelkeiten der Welt endgültig überwinden vermag. Die damit einhergehende soziale Isolation des Jurodivye erlaubt ihm gleichsam Staat, Kirche und Gesellschaft zu kritisieren und sich hierbei auf seine wahnhaften Visionen zu berufen. Aus

rungen aufweisen: In diesem Rahmen referiert Viertel von prophetischer Entrücktheit oder auch Raserei (1 Sam 10, 10; 1 Kön 18, 26-28; 2 Kön 9-11), die in einem ekstatischen Bewusstseinszustand münden, dem aufgrund seiner dio-nysischen Verzücktheit, fern allem Irdischen, eine Nähe zu Gott bestätigt wird. Propheten an Königshöfen gelten in der vorexilischen Zeit demzufolge als Seher und Gottesmänner, die mahnend die Einhaltung der Gebote Gottes ver-treten und sich für sozial schwache Bevölkerungsgruppen (wie zum Beispiel Waisen, Witwen etc.) einsetzen. In die-sem Rahmen nennt Viertel folgende biblische Propheten des 7. und 8. Jahrhundert v. Chr.: Amos, Hosea, Jesaja, Micha und Jeremia. Da jene in ihren Unheilsbotschaften meist bestätigt wurden, schenkte man deren Prophezeiun-gen Glauben. In der Exilzeit postulieren Propheten wie Deuterojesaja einen glanzvollen Neuanfang für das Volk Got-tes, wodurch sich die prophetische Grundbotschaft in ein positives Deutungsmuster verkehrt. Des Weiteren verkör-pert Johannes der Täufer, durch seine kritischen Worte an der Herrschaftssituation, den Prophetiegedanken der Hoffnung. In Kor 1, 11-26 wird die prophetische Gabe daneben als besonderes Charisma gelesen, das seelsorgerische sowie gottesdienstliche Pflichten mit sich bringt (vgl. Viertel 2005, S. 380ff.). Jörg Jeremias bezeichnet Propheten aus diesem Grund als jene Personen, die zwischen Gott und Menschen als Vermittler agieren. Als Sammelbegriff für Seher, Visionäre und Gottesmänner ist phänomenologisch zwischen Gruppen- und Einzelpropheten zu differenzie-ren. Die älteste erforschte Prophetengruppe wirkt um 1000 v. Chr. und postuliert einen ekstatischen Zugang zu Gott (Sam 1, 10,5-14; 19, 18-24). Um 800 v. Chr. treten Gruppierungen von sogenannten Hofpoeten auf, die den Willen Gottes vertreten: Während ältere Propheten die Hilfe Gottes in allen Lebenslagen propagieren, haben jüngere Pro-pheten wie Hosea oder Amos in ihren Visionen vornehmlich Untergangsprophezeiungen des Volkes Israels. Letztere begründen diese weniger mit der Individualschuld einzelner machtausübender Personen, sondern vernehmen im zeitgenössischen Weltbild als Indiz für das Erodieren einer gottgegebenen Ordnung, wodurch der Mensch sich all-gemein schuldig macht. Heilspropheten mahnen deshalb zur Treue gegenüber Gott, wohingegen neutestamentliche Propheten wie Johannes oder Jesus eschatologische Inhalte favorisieren (vgl. Jeremias 2007, S. 241-245).

286 Flögel 1789, S. 49.

287 Ibd., S. 23f.

288 Ibd., S. 23.

289 1. Kor 4, 10-13. Siehe ebenso Skrobucha 1976, S. 29.

sem Grund erfahren jene Narrentypen den Status eines Heiligen,290 denen ein hoher Grad an gesell-schaftlicher Verehrung zu Teil wird.291 Die Darstellung russischer Heiligenfiguren ist in der Ikonen-malerei daher ein beliebtes Objekt.292 Folglich wird in dieser Art Narrentum eine spezifische Form der Narrenfreiheit evident, die sich auf christlichem Fundament stützt.

Es ist daher festzuhalten, dass der alttestamentliche Narrenbegriff zu Beginn der Neuzeit einen elementaren Identitätswandel erfährt und vom Insipiens zum Sapiens aufsteigt. Aus diesem Grund gilt die Epoche der Renaissance auch als Blütezeit des Hofnarrentums. Hinter dieser Wandlung der Narrenidee steht allerdings ein vielschichtiger Entwicklungsprozess,der darin seinen Höhepunkt findet, dass sich der Narr von seiner Zuordnung als Gottesleugner verabschiedet und prophetischen Zugang zu einer höheren Weisheit erlangt; vor allem erkennt er aber an, dass die wahre unerreichba-re Weisheit allein bei Gott liegt.293 Mezger kommentiert diese ideengeschichtliche Transformation und beschreibt die Verflechtung von Narrenidee, Vanitas und memento mori-Gedanken:

Je mehr der Narr am Vorabend der Neuzeit als Vergänglichkeitsbote verstanden und je mehr ihm deshalb geradezu eine prophetische Gabe unterstellt wurde, desto stärker entfernte er sich von der ursprünglichen Rolle des Stultus.

Er war nicht mehr wie im 13. Jahrhundert einfach nur der dumme Tor des 52. Psalms, der im weisen König sein po-sitives Gegenüber fand, sondern er avancierte zusehends deutlicher […] zum Vermittler von Einsichten, die dem König ohne den Narren vielleicht verschlossen geblieben wären. Hier liegen die Anfänge jener komplizierten Ent-wicklung, die gelegentlich zum Rollentausch zwischen Sapiens und Insipiens führte, und die bei Shakespeare damit endete, dass sich der Narr als einsamer inmitten einer Welt voller Toren wiederfand.294

Als Wissender und Warner295 taucht der Narr somit in seine Rolle als Vanitaskünder noch tiefer ein, wodurch »[…] die Weisheit der Hofnarren häufig aus düsteren Vorahnungen bestand und […] ihre Ratschläge oft die Form eindringlicher Warnungen hatten.«296

Des Weiteren gibt es noch eine weitere Ebene, die den Rollentausch des Narren reflektiert, die so-genannte literarische Markolf-Tradition:297 Diese stellt eindrucksvoll den ideengeschichtlichen Kon-trast zwischen Torheits- und Weisheitsprinzip in Frage und hat ihre literarhistorischen Wurzeln im 11. Jahrhundert. Trotz theologischer Gegenmaßnahmen behauptet sich dieses Sujet im europäischen Sprachraum und berichtet im Wesentlichen von den verbalen Konflikten des biblischen Königs Sa-lomon298 und seinem widerspenstigen Konterpart Markolf:299 Die gewitzte Bauernfigur, die Salomon

290 Pilarczyk nennt als bekanntesten Vertreter den Heiligen Basilius, nach dem in Moskau die Basiliuskathedrale be-nannt ist. Unter den westlichen Heiligen erscheint Franz von Assisi als paradigmatisches Beispiel zu fungieren. Dass das Phänomen des Christusnarren im westlichen Raum wenig Anklang fand, führt Heinz Otto Luthe auf die lange Tradition der Exegese zurück, die sich in Westeuropa einer wörtlichen Auslegung der paulinischen Theologie des Kreuzes verweigert (vgl. Pilarczyk 2004, S. 23 sowie Luthe 1992, S. 57f.).

291 Vgl. Skrobucha 1976, S. 29f.

292 Meist werden die Christusnarren als Ikonen mit wirrem Haar dargestellt, deren asketischer Körper oft nackt ge-zeichnet ist und lediglich einen Lendenschurz aufweist. Die Abbildung eines Narren in Christo, der ein Gewand trägt, ist eher selten (vgl. ibd., S. 30).

293 Vgl. Mezger 1981, S. 45.

294 Vgl. ibd., S. 45f.

295 Ibd., S. 45.

296 Ibd., S. 48.

297 Ibd., S. 45f.

298 Salomon übernimmt Mitte des 10. Jahrhunderts v. Chr. die Staatsmacht Davids und baut diese wirtschaftlich, ver-waltungstechnisch sowie außen- und innenpolitisch erfolgreich aus. Als bedeutsamstes Ereignis nennt die Bibel sei-nen ersten Tempelbau, wodurch die Heiligtümer außerhalb Jerusalems sukzessive irrelevant werden. Darüber hin-aus lobt das Alte Testament Salomons vielseitiges Wissensspektrum, vor allem seine Weisheit, die den Begriff des sognannten Salomonischen Urteils prägt (vgl. Legner 1968, S. 274f.).

immer wieder für seine Handlungen kritisiert, konzentriert sich seit dem 12. Jahrhundert vornehm-lich darauf, den König mittels spaßiger Redensarten und plumper Sprüche zu parodieren. Die inhalt-liche Parallele zur Insipiensfigur des Psalms 52 erscheint offenkundig, weswegen Markolf ab dem 14.

Jahrhundert als Typus des Sündernarren interpretiert wird. Diese Aussage belegen ebenfalls ikono-graphische Funde sowie eine Vielzahl an Druckgraphiken, die der Markolf-Figur die äußere Gestalt einer Eselsohrentracht verleihen.300

Im 15. Jahrhundert erlebt Markolf aus literatur- wie kunsthistorischer Perspektive einen konstitu-tiven Identitätswandel: Aus Salomon, der bisher als typologische Verkörperung des Weisheitsideals fungiert, wird ein törichter Narr und aus der populären Bauernfigur geht eine vernünftige Person hervor. Damit wird die neuzeitliche Narrenkonzeption in Markolf virulent, der nun als prophetischer Vermittler von höherem Wissen gilt.301 Mezger vernimmt darin ein weiteres Erkennungszeichen für die Loslösung der Neuzeit von mittelalterlichen Denkstrukturen, von der auch das Narrenwesen profitiert: Als Vergänglichkeitsmetapher und Statussymbol erfüllt das realhistorische Hofnarrentum neben seinem Amt als Spaßmacher ebenso politische Aufgaben und berät Regenten in öffentlich-keitsrelevanten Fragen.302 Dies ist ein historischer Befund, der keineswegs pauschalisierend verstan-den werverstan-den kann; auf einige europäische Hofnarrenpersönlichkeiten aber durchaus zutrifft.303 Bevor jedoch weitere Detaillbeobachtungen über das typologische Verhältnis zwischen König und Hofnarr erfolgen, muss zuvorderst die ideengeschichtliche Verbreitung der Narrenidee als moralphilosophi-sche Größe erörtert werden.

299 Kuper hebt grundlegende Gesichtspunkte in Kapitel VIII seiner Dissertation hervor (Kuper 1993, S. 130-141).

300 Mezger 1991, S. 98.

301 Ibd., S. 100f.

302 Pilarczyk 2004, S. 25.

303 Vgl. Kapitel 7 und 8.