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10. Der Narr in der Literatur der Neuzeit

10.3 Shakespeare

10.3.3 All’s Well That Ends Well

Über die Gattungszuordnung von All’s Well That Ends Well ist viel und umstritten diskutiert worden:

Das Drama zählt zu den sogenannten problem plays, da es Merkmale einer Komödien- sowie einer Tragödienstruktur in sich trägt, die dem komödienhaften Duktus des Werkes eine ernsthafte Note verleihen. Damit meint Ina Schabert, den drameninhärenten Verlust einer märchenhaften Erzählwelt zugunsten einer realistischeren Atmosphäre, die klassische Shakespeareelemente wie Verkleidungen und Verwechslungen, die soziale Akzeptanz von Liebe, die Dominanz politischer Macht, den Wald als eskapistisches Freiheitsmotiv usw. hinter sich lässt, umdeutet oder neu konfiguriert, um den Nukleus der Handlung aus dem Märchenhaften ins Realistischere zu überführen.1180

Bezüglich der Gattungsfrage setzen die literarischen Epochen einen jeweils eigenen thematischen Schwerpunkt, so dass von kategorischer Vereinheitlichung nicht die Rede sein kann. »Der Begriff Problemstück wird somit bis heute […] nicht von allen Forschern akzeptiert, er hat sich aber über hundert Jahre gehalten und besitzt mehr als heuristischen Wert.«1181 Folglich kursieren divergieren-de Gattungsbezeichnungen, die allesamt versuchen, das Wesen von All’s Well That Ends Well zu erfassen. Joseph G. Price zählt eine Vielzahl an Deutungsansätzen auf und bekundet gleichsam seine interpretatorische Haltung:

The critical and theatrical history of All’s Wellmay be categorized under six major interpretations which have em-phasized single aspects: farcical comedy, sentimental romance, romantic fable, serious drama, cynical satire, and a

1176 Röhr 1997, S. 160.

1177 Langenbach-Flore 1994, S. 265.

1178 Schabert2009, S. 426f.

1179 Vgl. ibd., S. 427.

1180 Vgl. Schabert, S. 433f. Als jene Problemstücke gelten Troilus and Cressida, All’s well that ends well und Measure for Measure (ibd., S. 434). Zur Fundierung gemeinsamer Merkmale dieser drei Werke siehe Thomas 2005, S. 21-29.

1181 Ibd., S. 437.

thematic dramatization. The emphasis of each illustrates the subjective response of the critic. […] I believe that the ideal production will trust to Shakespeare: the serious scenes will be played with respect for the gravity of the issues;

the comic scenes will give full play to both wit and farce; the suspense of the plot will swing the audience along the road of high romance, untroubled by the fabulous complications; most important, the human qualities of all the characters will be affectingly unfolded. For All’s Well That Ends Well is a very human play.1182

Christian A. Gertsch ergänzt eine Differenzierung in zwei basale Lesarten, nämlich »[…] ahistorische (psychologisierende und thematische) und solche, welche historische Bedingtheiten […]«1183 des elisabethanischen Zeitalters und der Moderne kontextualisieren. Die historischen Interpretationen betonen das Widersprüchliche der Lektüre und favorisieren damit »[…] das moralisch Fragwürdige des Bett-Tricks, die unwahrscheinliche Heilung des Königs und nicht zuletzt Helenas ‘unweibliche’

Entschlossenheit, ihr Ziel zu erreichen.«1184 Die ahistorischen Deutungsvarianten versuchen indes die Handlung psychologisch zu erschließen. Eine Vereinigung beider Lektüreansätze führt meist zu ein-seitigen, dichotomen oder isolierten Ergebnissen, die überaus defizitär erscheinen:

Wer das Geschehen in erster Linie als ein märchenhaftes verstand, den störte der Realismus in der Charakterisie-rung der Figuren; umgekehrt bemängelte die psychologisierende Kritik die märchenhaft-mechanische Handlung, besonders aber die unglaubhafte Auflösung der Komplikationen in der letzten Szene. Es wurde daher häufig der Versuch unternommen, eine höhere Einheit im Stück zu entdecken, sei es aufgrund der Handlungsstruktur oder der Thematik.1185

Als dramengeschichtlicher Rettungsanker auf der zwanghaften Suche nach einer Gattungszugehörig-keit von All’s Well That Ends Well entflammt schließlich die Idee, Shakespeare einen experimentier-freudigen Charakter zu unterstellen, der eine Fülle von zeitgenössischen Themen in die literarische Mangel nimmt: Der gesellschaftliche Umgang mit Schuld, Vergebung und Gnade, kollektive Moral-verdikte, gesellschaftskritische Perspektiven am gültigen Rechtssystem (Mündelwesen, Adel etc.), die Auseinandersetzung mit Gender-Fragen, eine neuartige Annäherung an den modernen Mythos; das Postulat einer neuen Wirkungsästhetik, die jene Unzulänglichkeiten auf der Theaterbühne auszuba-lancieren versucht oder aber allegorische Ausführungen, die das allgemein Gute und Böse auf der Folie der conditio humana in den dramatis personae aufsuchen. All diese Blickwinkel definieren unterschiedliche Herangehensweisen, die meist aus dramenhistorischer Perspektive eine zögerliche Zwitterhaltung einnehmen und dem Schauspiel deswegen den Stempel der Tragikomödie aufdrü-cken.1186 Es wundert deshalb nicht, dass All’s Well That Ends Well zu den eher selten aufgeführten Dramen zählt. »Ein Hauptgrund dafür mag wohl die besondere Schwierigkeit einer Interpretation von All’s Well sein, die ja eine Inszenierung auch immer ist.«1187

Derartige Umwälzungstendenzen zeigen sich beispielsweise in einer möglichen Kritik an der Posi-tion der Herrscherfigur: Aus inhaltlicher Sicht greift der König1188 von Frankreich in die Privatsphäre von Bertram ein und zwingt ihn aufgrund persönlicher Motive, in eine Ehe mit Helena einzuwilligen.

Helena ist die bürgerliche Tochter des verstorbenen Arztes Gerard de Narbonne und

1182 Price 1968, S. 133 sowie S. 171f.

1183 Gertsch 1988, S. 21.

1184 Ibd., S. 22.

1185 Ibd., S. 24.

1186 Vgl. ibd., S. 24-28.

1187 Ibd., S. 12.

1188 Schabert sieht in der Darstellung des französischen Königs einen kritischen Verweis auf das patriarchalisch-absolutistische Selbstverständnis des Stuart-Königs James I. (vgl. Schabert 2009, S. 436).

wird seit dessen Tod von der Gräfin von Rossillion als Mündel erzogen. Allerdings hat sich die junge Frau in den Sohn der Gräfin, den adeligen Bertram, unsterblich verliebt. Ihr entschlossener Plan, jenen zu erobern, misslingt, da der Auserwählte kein Interesse an der Bürgerlichen hegt und viel-mehr damit beschäftigt ist, endlich als Soldat in Oberitalien Karriere zu machen. Doch Helena schmiedet den Plan, dem todkranken König ein Heilmittel zu verabreichen, das ihn tatsächlich ge-sunden lässt. Im Gegenzug darf sie sich nun ihren Gemahl aussuchen. Trotz vehementer Einsprüche muss Bertram Helena ehelichen und findet dennoch einen märchengleichen Fluchtweg: Erst wenn Helena seinen Ring am Finger trage und ein Kind von ihm erwarte, werde er bei ihr als Ehemann seine Pflicht ausüben. Mittels einer Intrige erfüllt Helena Bertrams Postulat und jener muss sich unfreiwillig seinem Schicksal beugen.

Die Entstehungszeit der Lektüre ist zwischen 1598 und 1608 anzusiedeln. Hierbei beruft sich Shakespeare auf die »[…] Erzählung von Beltramo von Rossiglione und Giletta von Narbona, die sich in Boccaccios Decamerone als 9. Novelle des 3. Tages findet.«1189 Naumann erklärt: »Der Geist des Florentiner Bürgertums, dessen Streben es war, sich Vorteile zu sichern und das Leben zu genießen, wird von Shakespeare in einen Idealismus der Liebe verändert.«1190 Zentrale Figur ist Helena, die Trägerin eines allegorischen Liebesgefühls, die ihre Liebessehnsucht mithilfe von Heilkraft stillt:

Bertram wird ihr Ehemann, der mit ihr ein gemeinsames Leben gegen seinen Willen verbringen muss.

In diesem gefühlsdominierenden Szenario spielt ebenso eine Narrengestalt mit Namen Lavatch als zeitgenössisches Kulturphänomen eine Nebenrolle. Als domestic fool, also klassischer Hausnarr im Dienste der Gräfin Rossillion repräsentiert er die Aufgaben und Fähigkeiten eines künstlichen Hofnarren, der meist als Begleitung seiner Herrin auftritt. Vor diesem Hintergrund geben gerade sein erster und letzter Auftritt unmittelbar Auskunft über sein narrenspezifisches Selbstverständnis, als der alte Lord Lafew ihn gezielt danach befragt und der Narr entgegnet: »A fool, sir, at a woman’s service, and a knave at a man’s.«1191 Damit konstatiert Lavatch seine Loyalität gegenüber der Gräfin und gleichzeitig seinen Sinn für Humor: Denn als Schurke, würde er seiner Herrin den Hof machen und versuchen, sie für sich zu gewinnen; da ihr Mann verstorben ist, wäre dies aber pure Zeitver-schwendung. Generell genießt Lavatch die Freiräume seiner Narrenfreiheit und überspannt gerne den Bogen seiner ihm geduldeten Möglichkeiten; jedoch stets in dem gesicherten Wissen, dass ihm am Hof von Rossillion, niemand wirklich böse ist.

Besonders scheint die Narr-Herr-Konstellation des Dramentextes: Während der Narr in der Lite-ratur- und Theatergeschichte meist an einen König gebunden ist, zeigt sich Lavatch hier als Narr einer Frau; die im Übrigen das Bühnenstück wesentlich beeinflussen: Helena, die Witwe Capilet von Florenz, ihre Tochter Diana und die Gräfin sind nicht nur für den Handlungsfortgang verantwortlich, sondern dominieren die männlichen Rollen. Daß der Narr also der machtvollen Gräfin zugeordnet wird, scheint vor diesem Hintergrund eine logische Konsequenz. In diesem Rahmen agiert Lavatch als wortgewandtes Narrenwesen, das in zahlreichen Dialogen seine Herrin gelungen unterhält. Spie-lerisch lässt sie sich auf seine eloquenten Ideen ein und genießt die Witze ihres Narren (O Lord sir, –

1189 Gertsch 1988, S. 17.

1190 Naumann 1978, S. 314.

1191 Shakespeare 1988, S. 206. Der Narr hat in folgenden Szenen seine Auftritte: 1. Akt, Szene 3; 2. Akt, Szene 4 und 5; 3.

Akt, Szene 2; 4. Akt, Szene 5.

There’s a simple putting off. More, more, a hundred of them).1192 Gertsch formuliert über deren Kommunikationsstruktur (beispielsweise im zweiten Akt, 2. Szene):

Das Wortgeplänkel zwischen der Gräfin und der Lavatch folgt stellenweise einer eigenen Logik. Da die Gräfin das gegenüber einem Hausnarren angebrachte Standespronomen thou zugunsten von you fallen läßt, darf angenommen werden, daß sie sich hier in ein Rollenspiel mit Lavatch einläßt, in dem sie eine Bittstellerin mimt, während er den galanten Höfling spielt.1193

Daneben fungiert Lavatch als Bote seiner Regentin und berichtet ihr mitunter über die Flucht Ber-trams vor der Ehe mit Helena (So say I, madam, if he run away, as I hear he does. […] For my part, I only hear your son was run away1194). Über die Narrenfunktion resümiert hingegen Naumann:

Die Gräfin schickt den Narren mit einer Nachricht zu Helena an den Hof. Das Ganze ist eine kurze Verhöhnung ei-nes bestimmten höfischen Benehmens. Der Narr dient als Kritiker von Umständen der Zeit. Ein affektiertes höfi-sches Benehmen, das wohl gerade zu der Zeit beliebt war und dessen Satire jeden Zuhörer amüsierte, wird ver-höhnt.1195

Das Erscheinungsbild Lavatchs ist kaum umrissen, außer dass der Narr wohl von fülliger Statur ist (I will show myself highly fed1196) und eine Marotte1197 als Narreninsignie besitzt. Zur etymologischen Bedeutung seiner Namensgebung notiert Langenbach-Flore:

'Lavatch' läßt sich sowohl auf das französische 'lavages' ('Küchenjunge') als auch auf das italienische 'lavaccio' ('Spülwasser', 'Schweinefutter') zurückführen. Da man unweigerlich, auch wenn fälschlicherweise an das französi-sche 'la vache' ('Die Kuh' bzw. 'Die Schlampe') denkt, französi-scheint es als erwiesen, dass der Narr […] bereits durch seinen Namen nicht nur als ein komischer Charakter, sondern auch als ein Lümmel und Taugenichts ausgewiesen werden soll.1198

Damit spielt sie auf die vielfältigen Begabungen dieser Narrenentität an, denn Lavatch ist nicht bloß klassischer Spaßmacher. Er verfügt über ein bemerkenswertes poetisches wie gesangliches Improvi-sationstalent, das ihm hilft, seinem Unterhaltungsauftrag nachzukommen. Er ist wortgewandt, geist-reich, klug und frech, und verfügt über ein frivoles Temperament, das zu vulgären Obszönitäten neigt. Sich über sexuelle Topoi auszulassen, liebt Lavatch über die Maßen und läßt damit sein anti-petrachistisches Frauenbild durchblicken. Genervt von seinen schwachen männlichen Kollegen, die sich gegenüber den Frauen nicht emanzipieren können, klagt er deswegen auch Bertram und Parolle, einen intriganten Gefolgsmann des Grafen, mit seinem Spott ernsthaft an, wie Langenbach-Flore untermauert:

Lavatch erzeugt nicht nur Komik, er kritisiert auch und karikiert ebenfalls, wenn auch mit komischen Mitteln. Gera-de bei seiner Lächerlichmachung Gera-des Hoflebens wird Gera-deutlich, daß es Shakespeare gelingt, Gera-dem Publikum mit Lava-tch den von ihm geforderten komischen Schauspieler zu liefern, ohne niveaulose Clownereien und Klamauk bieten zu müssen.1199

Um seinem erzürnten Empfinden gegenüber der Männerwelt Ausdruck zu verleihen, beschließt La-vatch gegen seine männlichen Vorbilder demonstrativ zu protestieren: So beschließt er, seine Verlob-te Isabel nicht zu ehelichen und sie lieber zur Bettgespielin zu degradieren. Langenbach-Flore sieht

1192 Ibd., S. 97.

1193 Ibd., S. 94.

1194 Ibd., S. 139.

1195 Naumann 1978, S. 310.

1196 Shakespeare 1988, S. 95.

1197 Vgl. Langenbach-Flore 1994, S. 218.

1198 Ibd., S. 217f.

1199 Ibd., S. 245.

darin dessen Hauptaufgabe begründet, nämlich die Diskussion um den Stellenwert beider Geschlech-ter anzuregen und in diesem Rahmen die männlichen Höflinge für ihre Machtlosigkeit nach Strich und Faden zu verlachen. Somit erfüllt Lavatch die wesentlichen Hofnarreneigenschaften, die zur Zeit der Renaissance das Hofnarrenwesen konstituieren: Ob als Spaßmacher, Unterhalter oder Kritiker, Lavatch schlägt sich auf allen Ebenen der Narrenkomik mit Bravour. Allein die zeitgenössische Gabe der Prophetie kann er wie Touchstone aus As You Like It sowie die metaphorische Bedeutung des Vergänglichkeitsboten nicht sein Eigen nennen; die Narrengestalt Feste in Shakespeares letztem Lustspiel Twelfth Night, or What You Will dagegen schon, wie im nächsten Kapitel dargelegt werden.