• Keine Ergebnisse gefunden

Das Fastnachtbrauchtum im Kontext christlicher Didaxe

9. Das Verhältnis von Narrenidee und Fastnacht, Fa-sching und Karneval

9.3 Philologische Erklärungsmodelle

9.3.3 Das Fastnachtbrauchtum im Kontext christlicher Didaxe

Viel ertragreicher erweist sich der Versuch, den Brauchkomplex965 »[…] vom Ablauf des Kirchenjah-res her, also christlich zu deuten […]:966 Denn ebenso wie der Abend vor dem Geburtsfest Christi

des Nationalsozialismus jedoch nicht durch ekstatische Kulthandlungen emporheben, sondern durch das Wort bzw.

die Dichtung. Das Thingspiel verkörpert somit eine archaisierende Maskerade, die jedoch so bemängelt Stumpfl keinerlei mimetische Funktion besitze. Hinter der Fassade des heidnischen Primitivismus des Thingspiels verbirgt sich vielmehr ein nüchterner Konservatismus des NS-Regimes, der keine rituelle Mimikry anstrebt. Das Theaterver-ständnis sowohl von Höfler also auch von Stumpfl erweist sich aus Perspektive der Nationalsozialisten somit als nur bedingt nutzbar; lediglich die volkskundlichen Aspekte bezüglich des Germanentums sind praktikabel, im Sinne der Stärkung einer deutschen Theatertradition, die kultischen Ursprunges ist (vgl. Biccari 2001, S. 230-233).

960 Rosenfeld 1969, S. 175.

961 Vgl. Hiß 1965, S. 162-168.

962 Rosenfeld 1969, S. 173.

963 Die Verbindung von Fastnacht und Nationalsozialismus entwirft ein Szenario, das sich zwischen antisemitischem Duktus und stiller Kritik am NS-Regime bewegt: Jedoch steht das Fastnachtsbrauchtum während der NS-Diktatur unter nationalsozialistischer Einflussnahme, weshalb der Narr der Fastnacht zum Propagandisten instrumentali-siert wird. Mit der Narrenmaske Opposition zu leisten, ist folglich ein schwieriges Unterfangen, wie Carl Dietmar und Markus Leifeld in ihrem in München publizierten Buch Alaaf und Heil Hitler: Karneval im Dritten Reich 2010 schildern. Denn das Fastnachtsbrauchtum fungiert als Diener der NS-Diktatur: Während das Narrentum die herr-schende Politik in der verkehrten Welt eigentlich verhöhnt; verbietet das Machtgefüge der NS-Ideologie jegliche Form der Narrenfreiheit und deklariert die Fastnachtsnarretei als antisemitische Folie, die Juden faschistisch ver-spottet, verfolgt und diffamiert. Somit wird aus dem jahrhundertealten Volksbrauchtum eine nationalsozialistische Inszenierungskultur (vgl. Jeggle 1980a, S. 227-239).

964 Ibd., S. 227f.

965 Mönkemöller schreibt über den Zusammenhang zwischen Festkultur, Narr und Kirche: »Diese Narrheit, die das Volk ab und zu wie eine Infektionskrankheit ergriff, hatte ihre tiefste Wurzel in wohlerwogenen Einrichtungen der Kirche, die immer wußte, wie fest sie das Volk durch Begünstigung erquicklicher Gebräuche am Gängelbande halten konnte.« (Mönkemöller 1983, S. 17).

966 Mezger 1991, S. 12.

Weihnacht heißt, bezeichnet Fastnacht denjenigen Abend, der dem Beginn der vierzigtätigen österli-chen Fastenzeit vorausgeht.967 Somit ist Fastnacht durch die Fastenzeit bedingt und verkörpert ein aus dem christlichen Jahresrhythmus erwachsenes Brauchtum,968 das sich im frühen Mittelalter herausbildet und sich terminlich969 nach dem Ostertermin richtet.970 Diese Theorie bestätigt gleich-falls die Brauchbezeichnung ›Fastnacht‹, die ihren etymologischen Ursprung in dem Wort ›Fasten‹

oder auch dem niederdeutschen ›vastavend‹ hat: Dieser bezeichnet den Vorabend der Fastnacht und ist noch heute als ›Fastelovend‹ im niederrheinischen Sprachgebrauch bekannt.971

Des Weiteren belegen philologische Forschungen von Helmut Rosenfeld972 und Hans Moser973, dass der konstitutive t-Ausfall und die damit einhergehende Verschleifung zu ›Fasnacht‹ sich als Mutation erweist, die zu keiner semantischen Wesensveränderung des Brauchtumsbegriffs führt.974 Albert Hiß spricht lediglich von einer Differenzierungsform und erläutert, dass wenn es sich in Chro-niken, Urkunden etc. um die Schilderung von Sitten und Gebräuchen handelt, meist die Lautform ohne ›t‹ seit dem 17. Jahrhundert auftritt. Ist in Dokumenten allerdings explizit Bezug auf die kirch-liche Fastenzeit hergestellt, so steht die Schreibweise mit t bei geistkirch-lichen Autoren im Vordergrund.975 Die bayerische Bezeichnung ›Fasching‹ lässt sich gleichermaßen auf die Wortwurzel ›Fasten‹ zu-rückführen: ›Vaschang‹ beziehungsweise ›vastschang‹ bedeutet ›Ausschenken des Fastnachtstrun-kes‹, ein Ritual, das am Vorabend der Fastnacht erfolgt.976 Der erste sprachliche Beleg für Fasching erscheint 1283 in einer Passauer Weberordnung als ›vastschanc‹ und bezeichnet die

967 Vgl. ibd.

968 Ibd.

969 Den zeitlichen Anstoß zum Fastnachtstreiben gibt traditionell der Dreikönigstag, der als fixer Festtag auf den 6.

Januar terminiert ist. Da die Fastnacht der Fastenzeit vorausgeht, ist deren Länge durch Letztere somit zeitlich de-terminiert. Gemäß dem biblischen Bericht über das vierzigtätige und nächtige Fasten Jesu in der Wüste (Mt, 4,2), fordert die kirchliche Fastenzeit dieselbe Zeitdauer von ihren Gläubigen. Rechnet man allerdings von Ostern aus vierzig Tage und vierzig Nächte zurück, so ergibt sich als Fastenbeginn der Dienstag nach dem sechsten Sonntag vor Ostern, der auch als Dominica Quadragesima respektive Invocavit betitelt wird. Realiter erfolgt der heute übliche Fastnachtstermin jedoch nach der Regelung, die das Konzil von Benevent im Jahre 1091 verabschiedet hat. Einem Impuls Papst Gregor des Großen nachkommend gelten seitdem die Sonntage vor der Auferstehung Jesu als Ge-dächtnistage, an denen kein Fastenverbot vorherrscht. Diese werden bei der Zählung der vierzig Tage und vierzig Nächte nicht berücksichtigt, so dass der Beginn der Fastenzeit um sechs Tage vorrückt. Folglich rückt ebenso die Fastnacht im christlichen Festkalender nach vorne, so dass diese seither dem Aschermittwoch vorausgeht.

Im europäischen Raum findet sich die Tradition bereits am 11. November eines Jahres die Fastnacht einzuleiten, da dem Geburtsfest Jesu Christi ebenfalls eine vierzigtätige Fastenzeit vorausgeht. Um das Verzehren der Lebens-mittel wie Fleisch, Eier und Milchprodukte zu zelebrieren, bedient man sich pragmatischerweise fastnächtlicher Veranstaltungen. Da bis Epiphanias jedoch die Fastenzeit den christlichen Alltag bestimmt, ist der eigentliche Be-ginn der Fastnacht der sogenannte Schmotzige Donnerstag, der auf den Donnerstag vor dem Aschermittwoch fällt und an dem traditionell aus Schmalz gebackene Fastnachtsküchlein verspeist werden. Die darauffolgenden Tage werden als Nelkensamstag, Tulpensonntag, Rosenmontag und Veilchendienstag bezeichnet, an welchen die Höhe-punkte der Fastnacht zelebriert werden. Ende des fastnächtlichen Treibens ist der Aschermittwoch, der sich nach dem Termin des Osterfestes richtet. Um Mitternacht verlieren die Narren ihren Herrschaftsanspruch, der meistens mit einer symbolischen Verbrennung der Narrenfigur einhergeht (vgl. Moser 1986, S. 19f.).

970 Moser 2002, S. 94.

971 Mezger 1991, S. 12.

972 Vgl. Rosenfeld 1969, S. 175-181.

973 Zur tieferen Lektüre erweist sich als besonders aufschlussreich Moser 1967.

974 Mezger 1991, S. 12.

975 Hiß 1965, S. 162.

976 Vgl. Mezger 1991, S. 12.

österreichische Fastnacht977; die schwäbisch-alemannische ›Fasnet‹ indes bezieht sich auf den süd-deutschen Raum sowie auf Teile der Nordost- und Zentralschweiz.978

Des Weiteren besitzt die romanische Bezeichnung ›Karneval‹ einen ebenso engen Sinnbezug zur Fastenzeit: Im 10. Jahrhundert fungieren die lateinischen Begriffe ›carnislevam‹, ›carnisprivium›

sowie ›carnetollendas‹ bereits als Synonyme für den Fleischverzicht. Aus diesem Begriffsfeld entwi-ckelt sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts schließlich das italienische ›carnelevare‹, das gleichbedeu-tend mit der Formulierung ›Fleisch, lebe Wohl‹ ist.979 1780 etabliert sich im rheinischen Sprachraum das Wort ›Karneval‹.980 Auf dieser Folie stellt Karl Simrock in seinem 1853 in Bonn publizierten Wörterbuch Handbuch der deutschen Mythologie die These auf, ›Carneval‹ sei eine Ableitung des antiken Begriffs ›carrus navalis‹. Nicht nur, dass er hiermit die Idee von Brants Narrenschiff imi-tiert; der Terminus ›carrus navalis‹ ist gleichsam eine Gelehrtenerfindung Simrocks.981

Im niederdeutschen Sprachgebrauch von Hamburg bis nach Pommern ist der Terminus ›Fastela-bend‹ weit verbreitet.982 Daneben weisen europäische Synonymverwendungen eine ebenfalls hohe Ähnlichkeit auf, die allesamt auf den Vorabend der Fastenzeit rekurrieren: Funktionsäquivalente Begrifflichkeiten sind die französische Vokabel ›la veille de carême‹, das italienische Verb

›carnelasciare‹ mit all seinen differierenden Varianten wie ›carnescialare‹, ›karlevá‹, ›karnolevare‹,

›karnilivari‹ oder ›carnaval‹ sowie das Rumänische ›lasare de carne‹, das Katalanische ›carnes tol-tes‹ und das Spanische ›carnes tolendas‹. Jene Formen verweisen also auf denjenigen Zeitraum im Festkalender, wo das Fleischessen aufhört.983

Darüber hinaus gibt die Bildende Kunst ebenso Belege für die kollektive Abhängigkeit der Fast-nacht durch die Fastenzeit; so zum Beispiel in der Malerei des ausgehenden 16. Jahrhunderts: Pieter Brueghel der Ältere984 konzeptioniert sein Bildmotiv Der Kampf zwischen Fasching und Fasten in einem eindeutigen Bezugssystem zur Fastenzeit: Fastnacht und Fastenzeit werden hierbei mittels Personifikationen versinnbildlicht, die einen symbolträchtigen Krieg austragen. Hierbei stehen sich Motive der Narrenidee wie beispielsweise Torenattribute oder der Topos des sozialen Narren, Freu-den der Gaumen- und Lebenslust sowie Inhalte der christlichen Symbolik diametral gegenüber und verkörpern zwei grundverschiedene Arten von Liebe:985 die niedere fleischliche Liebe, amor carnalis, und das hohe Ideal der christlichen Nächstenliebe, caritas.986 Das Gemälde lässt sich deshalb als

977 Von Fasching spricht man vor allem in Niederbayern, der südlichen Oberpfalz sowie im Osten von Oberbayern, einschließlich München und Österreich (vgl. Hiß, S. 168).

978 Fas(t)nacht und ihre regionalen Ausformungen werden im südwestdeutschen Raum Badens und Württembergs sowie in Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Franken, im westlichen Oberbayern, der Oberpfalz, der Schweiz, Liech-tenstein und im Westen Österreichs ritualisiert gefeiert (vgl. Mezger 1984a).

979 Mezger 1991, S. 12.

980 Der rheinische Karneval findet vornehmlich im Raum Köln, Bonn, Düsseldorf, Dortmund, Eschweil, Aachen und Mönchengladbach statt (vgl. ibd., S. 12).

981 Vgl. ibd., S. 11.

982 Hiß 1965, S. 169.

983 Meisen 1967, S. 11.

984 Peter Brueghel der Ältere, ist ein flämischer Maler, der durch realistische, naturgetreue Darstellung seine Umwelt allegorisierend in seinen Werken malt. Neben der Zeichnung ländlichen Milieus widmet er sich biblischen Szenen;

gestaltet pittoreske Bildgleichnisse, die sich mit menschlicher Komik befassen und illustriert Themen der Tragik, Tugend und Laster auf satirische Weise (vgl. Harenberg 1983, S. 250).

985 Mezger 1991, S. 469-474.

986 Unter Caritas versteht das Christentum »[…] die Liebe zu Gott […] und die Liebe zum Nächsten […], das höchste

enzyklopädisches Schaubild lesen, das versucht, auf einer begrenzten Raumfläche einen möglichst breiten Überblick über zeitgenössische Braucherscheinungen zu geben.987