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Das Fastnachtsbrauchtum und seine Festkultur

9. Das Verhältnis von Narrenidee und Fastnacht, Fa-sching und Karneval

9.5 Das Fastnachtsbrauchtum und seine Festkultur

Da der Ursprung des Fastnachtsbrauchtums nunmehr erörtert ist, sollen ebenso jene kulturhistori-sche Brauchinhalte berücksichtigt werden, die den Narren, in den Mittelpunkt der Fastnachtskultur manövrieren. In diesem Kontext ist festzuhalten, dass Fülle und Diversität jener Erscheinungsformen das närrische Treiben zu einem bunten Volksereignis erheben, das über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg im gesamten Einflussgebiet der römischen Kirche gefeiert wird.995 Franz Götz charakterisiert die Fastnacht aus diesem Grund als eine eigene Welt, für die sich unterschiedliche Forschungsdiszip-linen interessieren.996 Michail Bachtin, der in seinem Werk Literatur und Karneval. Zur

und Brauchtum bleibt aber selbst bei Moser unbeantwortet. Als weiterführende Literatur über das Fastnachtsver-ständnis von Dietz-Rüdiger Moser sind an dieser Stelle folgende Werke zu empfehlen: Moser 1976, 1980, 1981, 1982, 1983, 1984, 1986, 1988, 2002.

990 Mezger 1991, S. 13.

991 Vgl. ibd., S. 13.

992 Vgl. Mezger 1991, S. 14.

993 Vgl. ibd., S. 14f.

994 Vgl. ibd., S. 15. Nach erhaltender Zinsleistung, die zu Beginn des Jahres vom Volk geleistet wird, zeigen sich die Potentaten gegenüber dem Volk erkenntlich: Sozial niedrige Schichten dürfen während der Karnevalszeit von ihrem gesetzlich verankerten Heischerecht Gebrauch machen und um eine kostenlose Armenspeisung bitten. Dies impli-ziert unter anderem die Abholung eines Fastnachtsküchleins in öffentlichen Spitälern (vgl. ibd., S. 10f.).

995 Vgl. ibd., S. 15.

996 Götz 1980a, S. 89.

orie und Lachkultur den Einfluss karnevalesker Tendenzen in der Literatur des Mittelalters und der sich daran anschließenden Renaissanceliteratur erörtert, attestiert der europäischen Maskenland-schaft ein synkretistisches Wesen und beschreibt damit, eine sich zur Schau stellende Form von brauchtümlichen Charakter:997

Der Karneval bildet in einer konkret-sinnlichen, in einem Mischbereich von Realität und Spiel erlebten Form einen neuen Modus der Beziehung von Mensch zu Mensch aus, der sich den allmächtigen sozialhierarchischen Beziehun-gen des gewöhnlichen Lebens entgeBeziehun-gensetzt. Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden hie-rarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes), von der sie außerhalb des Karne-vals voll und ganz bestimmt wurden. Sie werden exzentrisch und deplatziert vom Standpunkt der Logik des gewöhn-lichen Lebens.998

Ein grundlegendes Merkmal des Brauchkomplexes ist die Partizipation der gesamten Bevölkerung auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei bleiben die Standesunterschiede der sozialen Realität gewahrt, da Klerus, Adel und Volk Fastnacht auf jeweils höchst differente Weise begehen.999 Um die hierarchi-schen Verhältnisse der Alltagswirklichkeit zu konstatieren, pflegt die Adelsschicht beispielsweise die Vergabe von karnevalesken Orden.1000 In diesem Kontext sagt Fuchs über den besonderen Reiz der Fastnacht:

Diese Referenz auf die Hierarchie in der Hierarchie durch deren simulierte Inversion, etwa durch Maskierungen und Verkleidungen (auch Männer als Frauen), die Parodierung der Messfeier, die Inthronisation von Bettlerbischö-fen, der blasphemische Vollzug der Messgeheimnisse, das Verbrennen alter Schuhe in Weihrauchfässern, die Pro-zessionen von Wagen, die mit Exkrementen angefüllt waren, die dann handvollweise unter die Leute geworfen wur-den – diese infernalische Referenz gewinnt eine besondere Kontur dadurch, dass sie sowohl verboten (aber auch of-fenbar unverbietbar) war als auch von den Spitzenkräften der kirchlichen Hierarchie wie der weltlichen Hierarchie zuweilen begünstigt, ja regelrecht gefördert wurde.1001

Weiter belegen archivalische Dokumente, dass die Entwicklung von Schaubräuchen bereits Anfang des 13. Jahrhunderts beginnt: Zuvorderst im Rahmen kleinerer Wettbewerbe, Hochzeiten oder ande-rer Festlichkeiten ist das Fastnachtstreiben ein Element der Unterhaltung, das an Höfen im 14. Jahr-hundert den ritterlichen Lebensstil verballhornt.1002 Seit dem 15. Jahrhundert verliert das Fast-nachtsbrauchtum sukzessive seinen unbeschwerten Impetus. Da die Entstehung der fastnächtlichen Tradition in wohlhabenden Städten keimt, fühlt sich die kirchliche und weltliche Obrigkeit alarmiert, Reglementierungsmaßnahmen zu treffen, um die stets zunehmende Masse der zügellosen Fast-nachtsteilnehmer zu kontrollieren. Im Laufe des Jahrhunderts verliert die Fastnacht darum ihren spontanen Charakter und erhält eine institutionelle Patina.1003 Mezger erläutert jene Schutzschicht:

Das anfängliche Umführen des Pflugs, des Blocks oder anderer Gegenstände durch eine Handvoll Leute konnte sich unter bestimmten Bedingungen im Lauf der Zeit zu einem stattlichen Festzug ausweiten. In Einzelfällen stand am Ende sogar eine regelrechte Großveranstaltung wie der Nürnberger Schembartlauf. Solche Ereignisse, die einen ho-hen Grad an äußerer Organisation und einiges an inhaltlicher Konzeption voraussetzten, waren natürlich nur in wohlhabenden Städten möglich, wie überhaupt die markanteren Fastnachtsbräuche fast alle städtischen Ursprungs sind. Man benötigte dafür eine möglichst große Publikumskulisse, an der es zum Glück nicht mangelte: Die

997 Ibd., S. 47f.

998 Ibd., S. 48.

999 So zum Beispiel die sogenannte Pfaffenfastnacht: Vor allem für niedrige Kleriker findet das Fastnachtsbrauchtum bereits am Fastnachtssonntag sein Ende (vgl. Mezger 1991, S. 14).

1000 Ibd., S. 22.

1001 Fuchs 2002, S. 5f.

1002 Ibd., S. 18.

1003 Unter Anderem mischen sich unter die Fastnachtsmasken eine Art Spielpolizei, die als Schutztruppen bestehend aus vermummten und kostümierten Männern, die Funktion von Gerichtsdienern oder Polizisten einnehmen (vgl. Heers 1986, S. 302-331).

ger, die selbst nicht aktiv waren, fanden sich ein; die Frauenwelt schaute zu, auswärtige Gäste reisten an; und vor al-lem auch das Landvolk strömte herbei, um zu staunen und auf seine Weise teilzunehmen, soweit die Arroganz der Städter dies zuließ.1004

In diesem Klima kommt es also im deutschsprachigen Raum zu einer Etablierung von Bräuchen, deren Standardrepertoire die Selbstdarstellung der unterschiedlichen Zünfte1005 nachstellt1006: Als frühe Brauchmotive gelten beispielsweise das Pflug oder Eggenziehen1007, das Blockziehen1008, das Herumführen des Trottbaumes respektive einer Mühle, diverse Schiffsbauten1009 sowie die Etablie-rung von Schauumzügen. In diesem Rahmen ist der Nürnberger Schembartlauf1010 hervorzuheben, der neben alemannischen Narrenläufen in den Mittelpunkt spätmittelalterlicher Fastnachtstradition rückt.1011 Und auch das Fastnachtspiel verliert langsam seinen Stehgreifcharakter.1012

1004 Mezger 1991, S. 21.

1005 Es sind gerade Metzgereien, Bauern und Melkereien, die in der vorösterlichen Fastenzeit hohe ökonomische Einbu-ßen verzeichnen. Daher wurde jenen Zünften das Recht zugesprochen, sich als Erste in der Hierarchie der Fast-nachtsumzüge präsentieren (vgl. Mezger 1984b, S. 33).

1006 Da es oft zu Kontroversen bezüglich der Hierarchien kommt, entscheidet die weltliche Obrigkeit, in welcher Abfolge sich die einzelnen Zünfte präsentieren dürfen. Die Stadträte beschließen meist ein alternierendes System, in dem sich die Handwerksberufe des Müllers, des Bäckers, des Schmiedeknechtes sowie beispielsweise des Metzgers wie-derfinden. Das Sozialgefüge des Alltags bleibt somit allgegenwärtig (vgl. Mezger 1991, S. 21).

1007 Bei diesem Brauchphänomen geht es darum, landwirtschaftliche Geräte durch die Stadt zu ziehen, wobei unverhei-ratete Frauen und Mädchen unter Gelächter ins Geschirr gespannt werden (vgl. ibd., S. 19).

1008 An Stelle von Pflug und Egge werden hier kahlgeschlagene Baumstämme geschleppt auf denen rittlings unverheira-tete Töchter und alte Jungfern sitzen (vgl. ibd., S. 19f.).

1009 Dahinter verbirgt sich die Idee der Metamorphose mit dem Bild der Kelter. Es geht um die Darstellung des Ver-wandlungsprinzips: Wie aus der Traube Wein entsteht, so wird analog aus Getreide Mehl. Ab 1515 wird auf einem Spezialgefährt die Mühle zur zentralen Attraktion der Fastnacht. Zudem wird das Mahlwerk als sogenannte Altwei-bermühle bezeichnet, in der der Topos der Jungmühle zum Tragen kommt: Demnach werden alte Weiber zu jungen hübschen Mädchen »umgemahlen«. Das Herumführen von künstlichen Schiffen zeigt wiederum den Einfluss der zeitgenössischen moralsatirischen Literatur in Anlehnung an Brants Narrenbegriff (vgl. ibd., S. 20).

1010 Der Nürnberger Schembartlauf gilt zwischen 1449 und 1539 als Höhepunkt der spätmittelalterlichen Fastnacht: Es handelt sich hierbei um einen Schaulauf maskierter Nürnberger Bürger, die auf Umzugsschlitten, die sogenannten Höllen durch die Straßen und Gassen der Stadt umherziehen. Der Begriff Schembart wurde seit den 1960er Jahren oftmals diskutiert. Letztendlich ist scheint es gesichert, dass damit eine glatte, bartlose Maske bezeichnet wird. Für eine breiten Einblick in jenes Brauchtum vgl. Roller 1965.

Zur weiteren Anregung anbei folgende Werke: Spiewok, Wolfgang: Das deutsche Fastnachtspiel. Ursprung, Funktionen, Aufführungspraxis [1993]. Greifswald 21997; Bräunlein, Peter: »Das Schiff als ″Hölle″ im Schembart-lauf des Jahres 1506«. In: Jahrbuch für Volkskunde 17 (1994), S. 197-208; Müller, Wilhelm: »Der Nürnberger Schembartlauf. Herkunft und Deutung«. In: Archiv für die Geschichte von Oberfranken 62 (1982), S. 63-91; Hans Hubert: »Fastnachtsbräuche im alten Nürnberg«. In: Ranft, Ferdinand (Hg.): Vom Main zur Donau. Nürnberg 1961, S. 12-15.

1011 Nicht zu verlässigen ist das Fastnachtsspiel. Diese literarische Gattung des weltlichen Dramas erlebt ihren Kulmina-tionspunkt an der Wende zur Neuzeit. Allerdings ist davon auszugehen, dass zwischen allgemeinen Fastnachtsbräu-chen und den Fastnachtsspielen keine interdependente Wechselwirkung besteht. Der vorösterliche Fastnachtszeit-raum gibt vielmehr den besonderen Anlass, in städtischer Umgebung Fastnachtsspiele zu veranstalten. So finden sich nur selten konkrete Motive des Fastnachtsbrauchtums in den Fastnachtsspielen erwähnt. Viel mehr bedienen sich Autoren jener fastnächtliche Komik und zeichnen dabei aus inhaltlicher Perspektive ein kaum einheitliches Bild.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sich die Forschung mit Fastnachtsspielen auseinander. Seit den 1950er Jahren sind es vor allem die Werke von Eckehard Catholy, Werner Lenk, Jörn Reichel und Elisabeth Keller, die dazu beigetragen haben, das Fastnachtsspiel als literarische Gattung unabhängig vom allgemeinen Fastnachtsbrauchtum, städtischer Kultur und sonstigen Einflussfaktoren zu untersuchen. Betrachtet man beispielsweise die Fastnachts-spieltradition in Nürnberg, so sind rund 110 Einzelspiele in Form von Schwänken etc. zu verzeichnen. In der Regel besteht ein Fastnachtsspiel aus 250 Versen und lässt sich in zwei Grundformen einteilen: Das Reihenspiel und das Handlungsspiel. Als weiterführende Literatur empfohlen wird Catholy 1966, Lenk 1961, Keller 1992, Reichel 1985.

1012 Mezger 1991, S. 20.

Sukzessive entwickelt sich das Fastnachtsbrauchtum zum spektakulären Großereignis und vereint theatrale Wirkungsmechanismen in seiner Festkultur: In einem Spiel ästhetischer Konventionen vermengen sich somit Regierende, Volk, Zünfte, Narren aller Art, Darsteller, Maskierte, Gaukler, Wandertruppen, Possenreißer, Artisten, Musikanten und Zuschauer und sorgen für eine theatrale Grundstimmung.1013 Das Fest als solches fungiert hierbei als kollektive Identifikationsfläche des Ein-zelnen, der – sei es als Rezipient oder Akteur – am Gesamtgeschehen teilnimmt.1014 Hans Moser bezeichnet die karnevalisierte Welt deshalb als eine Koalition der Festelemente Gelage, Tanz und Maskierung.1015 Hierbei bleibt der Rezipient in der Regel selten passiv, sondern beteiligt sich aktiv am Fastnachtsgeschehen; sei es aus produktionsästhetischer Sicht durch das Tragen eines Kostüms, durch Gesänge oder Tänze. Auf rezeptionsästhetischer Folie ist jeder gleichsam Beobachter, der das Massentreiben sinnlich erfasst.1016 Von besonderer Bedeutung ist allerdings ein spezifischer Aspekt der Fastnachtskomik, nämlich das Prinzip des Rollentauschs: Jeder kann in die Rolle schlüpfen, die er begehrt und damit aus soziologischer Perspektive seinen gesellschaftlichen Status spielerisch ver-ändern: Ein Bauer kann sich daher als König verkleiden und vice versa ein Adeliger beispielsweise einen Bettler mimen und die jeweilige Identität seines Kostüms nach allen Regeln der Kunst verspot-ten. Die soziale Distanz zwischen der Karnevalsrolle des Dargestellten und derjenigen der realen Identität des Darstellers ist also im Idealfall möglichst groß, damit der Rezipient einerseits unter der anarchischen Oberfläche der Fastnacht, die Alltagsrealität im Lachen verdrängen kann und anderer-seits die Ordnungen des außerfastnächtlichen Leben dennoch spüren vermag. Gerade aus dieser sozio-theatralen Differenz heraus kann das Publikum die gesellschaftlichen Werte der realen Welt verhöhnen und sich dem Mummenschanz1017 enthusiastisch hingeben. Ihren dramaturgischen

1013 Oft kommt es bei Tanzveranstaltungen zu erotischen Begleitphänomenen: Tänze, bei denen sich die Akteure aus beiden Geschlechtern gruppieren, sogenannte Maidlintänze, gelten in der römischen Kirche als sichtbares Zeichen der Libido, der bösen sinnlichen Begierde (vgl. ibd., S. 147).

1014 Vgl. ibd., S. 17.

1015 Vgl. Moser 1967, S. 155.

1016 Das Symposion Karnevalsaufführungen vom Mittelalter bis heute der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikge-schichte beschäftigte sich vom 11.-13. November 2011 an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln mit Fragestel-lungen, die nähere Auskunft über das Verhältnis von Musik und Karneval geben sowie sich mit der musikalischen Partizipation des Rezipienten während des Karnevals als performatives Ereignis befassen. Neben vielen Anregun-gen, Thesen und Bemerkungen manifestiert sich der basale Aspekt, dass Oper und Karneval nicht nur historisch eng verwoben sind, sondern sich auch gegenseitig beeinflusst haben. Beispielsweise findet Opernmusik von Gaetano Donizetti, Giuseppe Verdi oder Carl Maria von Weber Eingang in den Karneval, wie Christine Siegert in ihrem Vor-trag Die Karawane zieht weiter: Zur Oper im Karneval jenseits und diesseits der Alpen formuliert.

Des Weiteren scheinen die Überlegungen über Oper und Karneval von Silke Leopold von elementarer Bedeu-tung: Sie empfiehlt zu differenzieren, ob die Oper als Teil des Karnevals fungiere oder prinzipiell karnevalistische Elemente aufweise. Betrachtet man beispielsweise Opernaufführungen des venezianischen Karnevals des 17. Jahr-hunderts, so ist klar zu formulieren, dass jene nicht als künstlerischer Kreativakt, sondern als gesellschaftliches Er-eignis zu lesen sind: Oper ist in diesem Kontext karnevaleske Festaktivität in Venedig und verkörpert keinen theat-ralen Höhepunkt (der zudem nur höheren gestellten Gesellschaftsschichten zugängig ist). Ob eine Oper allerdings karnevalistische Elemente besitzt, die den Rezipienten auch außerhalb des terminlich fixierten Festzusammenhangs zum Schunkeln einladen, erscheint Leopold eine grundsätzliche Frage, die vor allem der Tonsatz einer Oper beant-worten könnte. Daneben warnt sie davor, dramaturgische Elemente der Verkleidung, Täuschung und Grenzüber-schreitung per definitionem als karnevalistisch zu betrachten, da diese ebenso wesenseigene Charakteristika der opera buffa verkörpern. Die Überlegung danach, was man in der Oper als karnevalistisch bezeichnen könnte und inwiefern sich Oper, Karneval und Performativität auf einen Nenner bringen lassen, benötigt für Leopold weitere Kriterien, die im Rahmen des Symposions lediglich tangiert werden konnten.

1017 Dieser Begriff verweist im ursprünglichen Sinn auf ein Glücksspiel mit Würfeln, das mitunter Einfluss auf die Ge-staltungsvielfalt des Fastnachtsbrauchtums hat: Darsteller verkleiden sich mit Masken und bieten Privathaushalten während der Fastnacht Glückspiele an. In den letzten drei Jahrhunderten ist der Aspekt der Kostümierung

derma-sprung leitet die inszenatorische Gestaltung der jährlichen Festzeit mitunter aus höfischen Interme-dien ab und auch in den Kostümen und Bühnenbildern findet man deutliche Anleihen bei diesen.1018

Thematisch setzt sich das Fastnachtsbrauchtum überdies mit der Darstellung folgender Aspekte auseinander: Dem maßlosen Verzehr von Speisen, triebhaft-erotischer Sexualität sowie brutaler Ge-walt.1019 Letzteres Sujet äußert sich vorwiegend in oral-sublimierter Form und zwar in verbalaggres-siven Beschimpfungen skatologischer Art1020 und der blasphemischer Kritik gegenüber der geistli-chen und weltligeistli-chen Obrigkeit.1021 Könneker spricht in diesem Kontext von dem Geschlechtlichen

»[…] in seiner gröbsten und entstelltesten Form, das in der Narrheit seinen Siegeszug antritt und sich alles unterwirft, was an geistigen und sittlichen Kräften im Menschen lebendig und wirksam ist.«1022 Daneben fällt neben dem körperlichen Aspekt der Lust ebenso der enorme Konsum von Lebensmit-teln auf, der gleichsam den sinnlich-frivolen Aspekt vor der Fastenzeit verkörpert.1023

Es ist daher zu konstatieren, dass fastnächtliche Bräuche eine eskapistische Gegenwelt zur dog-matisierten Alltagswelt generieren, in der die Ernsthaftigkeit des Lebens unter der ausgelassenen Folie einer allgegenwärtigen Lachkultur persifliert wird. Im gleichen Atemzug soll Fastnacht gleich-ermaßen auf die Einschränkungen der Fastenzeit vorbereiten. Diese gibt eine Reihe von Verboten vor, die jede Art von allgemeiner Lustbarkeit im Dienste der Buße verbieten.1024 Fastnacht ist somit eine doppelte Zeit der Fleischlichkeit: Einerseits verkörpert der allgemeine Genuss von Fleisch1025

ßen in den Vordergrund getreten, so dass sich dieses Spiel zum Inbegriff des zeitgenössischen Maskentheaters ent-wickelt hat und demnach eine allgemeine Maskerade respektive ein Maskenspiel bezeichnet (vgl. Lexer 1989, S.

389).

1018 Schumacher 1992, S. 42ff., S. 60 sowie S. 64.

1019 Die Zahl der ikonographischen Darstellungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist sehr hoch: Jene versinnbildlichen mit Vorliebe den ungezügelten Sexualtrieb des Fastnachtsnarren. Narrenverkleidungen wie der Hahn oder der Bock sind somit ein beliebtes Karnevalsmotiv, das dessen Triebhaftigkeit verkörpert. Oft werden in Holzschnitten junge, nackte Mädchen als Allegorie der Sünde dargestellt, die dem Karnevalstoren buchstäblich die Sinne rauben und ihn zu anstößigen Handlungen verleiten. Daneben wird der Fastnachtsnarr in Kupferstichen gerne mit jungen Dirnen abgebildet, die auf die unmittelbaren Folgen von käuflicher Liebe hinweisen, die der Narr in Anspruch nimmt. In einigen Bilddokumenten werden sogar Zärtlichkeiten zwischen Narren und Frauen geschildert, die im 16. Jahrhun-dert zweifellos anstößig wirken. Nicht nur in druckgraphischen Erzeugnissen, sondern ebenfalls in plastischen Dar-stellungen wird der Konnex zwischen Fastnachtsnarren und unsittlichen Mädchen virulent. Aus realhistorischer Sicht wimmelt es bei fastnächtlichen Umzügen von Narren, deren beliebteste Objekt, die weibliche Bevölkerung darstellt. Zudem finden sich in den literarischen Texten der Fastnachtsspiele ebenso wilde Sexualphantasien, die öf-fentlich verbalisiert werden. Was in diesen Texten als bloße Vorstellungskraft angedeutet, wird im Fastnachts-brauchtum real, weshalb dieses Fest als eine Zeit intensiver sexueller Aktivität gilt (vgl. Mezger 1991, S. 133-170).

1020 Da mit dem Fastnachtsnarren das Motiv der sexuellen Begierde verbunden wird, scheint es logisch, dass der Narr mit dem Moralkodex seiner Umwelt in Konflikt tritt. Dabei geht die pejorative Selbstdarstellung der Narrenfigur mit einer obszönen wie skatologischen Sprachverwendung einher. Die ungenierte Verrichtung der Notdurft in aller Öf-fentlichkeit verweist beispielsweise auf die ideengeschichtlichen Grundlage der Narrenidee: Die Defäkation in der Öffentlichkeit gilt im Spätmittelalter als Beleidigung und untermauert die egozentrische Subversivität der Narrenge-stalt (vgl. ibd., S. 170-181).

1021 Es kommt zu einer Verspottung durch Blasphemien und Obszönitäten auf vielfältige Art: Männer in Frauenkleidern, falsche Doktoren und Mönche, die mit Schweinsblasen und Mehl aufeinander werfen (Burke 1981, S. 197).

1022 Könneker 1966a, S. 59.

1023 Lever 1992, S. 14f.

1024 Verboten sind der Verzehr von Fleisch, Eiern und Milchspeisen sowie der Genuss von Wein und Spirituosen jegli-cher Art. Für die Fastenzeit ist es erlaubt, eine Mahlzeit um die Mittagszeit einzunehmen und abends auf ein paar Nüsse auszuweichen. Kulturelle Aktivitäten, die der gesellschaftlichen Unterhaltung dienen, wie beispielsweise ein Theaterbesuch, sind ebenfalls nicht gestattet. Des Weiteren ist das Gebot der Enthaltsamkeit in der Ehe strikt ein-zuhalten sowie Kriege oder Gerichtsprozesse zu führen (vgl. Meisen 1967, S. 15 f.).

1025 Man behängt sich in der Öffentlichkeit nicht nur gerne mit Lebensmitteln wie Würsten, sondern veranstaltet soge-nannte Narrenfeste: Diese Form des Festes wird seit dem 13. Jahrhundert zwischen Weihnachten und Epiphanias

und diversen Eierspeisen1026 eine ökonomische Notwendigkeit, da es in der Fastenzeit zu einer Ver-änderung des Nahrungsmittelkonsums kommt.1027 Andererseits avanciert die Fastnacht aus theologi-schem Motiv zum beliebtesten Hochzeitstermin des Jahres, da die vorösterliche Fastenzeit jegliche Form der Abstinenz postuliert.1028

Ein weiteres aufschlussreiches Modell zur Erklärung des Wesens der verkehrten Welt gibt der So-zialanthropologe Victor Turner: Der groteske Leib1029 des närrischen Fastnachtswesens dient für ihn der ephemeren Abkehr von alltäglichen Ordnungsmustern und systemstabilisierenden Verhaltens-weisen; dennoch geht es im Wesentlichen darum, in den unterschiedlichen Phasen des Karnevals die Perpetuierung des Status quo zu bestätigen.1030 Die vordergründige Umkehrung des mittelalterlichen Ordnungsgefüges ist deshalb auch – wie bereits formuliert – von der kirchlichen wie von der weltli-chen Obrigkeit geduldet: Parodien auf geistige und weltliche Würdenträger, Festzüge mit dämonisch anmutenden Bildern sowie maskierte Repräsentanten einer christlichen Unmoral überführen die mittelalterliche Weltordnung mit ihren festgefügten Hierarchien in einen illusionären Raum der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten.1031 Geregelte Regellosigkeit, institutionalisierte Unordnung sowie die vorübergehende Verkehrung des Gewöhnlichen erzeugen damit eine diametrale Kontrast-folie zum Alltagsleben. Folglich verfügt die Komik der Fastnacht über eine ganz eigene

periodisch zeremonialisiert. Hier erfährt Prinzip der Inversion eine ganz sakrale Ausformung, denn dieses festum stultorum folgt der Dramaturgie der verkehrten Welt: Die jungen Mitglieder einer geistlichen Gemeinschaft wie zum Beispiel Chorknaben inszenieren eine karnevalisierte Form des katholischen Gottesdienstes, in dem ein Pseudobi-schof gewählt, sich burleske Parodien kirchlicher Rituale vollziehen und sämtliche Bestandteile des Meßrituals iro-nischen Spott erfahren. Die maßlose Überschreitung jeglicher gesellschaftlicher Regeln kulminiert überdies in blas-phemischen Handlungen. So werden während der Zelebration der Messe mitunter Würste verspeist, obszöne Lieder

periodisch zeremonialisiert. Hier erfährt Prinzip der Inversion eine ganz sakrale Ausformung, denn dieses festum stultorum folgt der Dramaturgie der verkehrten Welt: Die jungen Mitglieder einer geistlichen Gemeinschaft wie zum Beispiel Chorknaben inszenieren eine karnevalisierte Form des katholischen Gottesdienstes, in dem ein Pseudobi-schof gewählt, sich burleske Parodien kirchlicher Rituale vollziehen und sämtliche Bestandteile des Meßrituals iro-nischen Spott erfahren. Die maßlose Überschreitung jeglicher gesellschaftlicher Regeln kulminiert überdies in blas-phemischen Handlungen. So werden während der Zelebration der Messe mitunter Würste verspeist, obszöne Lieder