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2. Grundzüge einer Theorie öffentlicher Aufgabenwahrnehmung in Kleinstaaten

3.5 Einschätzung der empirisch feststellbaren Aufgaben- Aufgaben-erfüllung im Licht der Haupthypothesen zur

Aufgabenwahrnehmung im Kleinstaat Liechtenstein Im 2. Kapitel wurden vier Haupthypothesen (Abschnitt 2.3) zur Aufga­

benerfüllung im Kleinstaat entwickelt und in der Folge um ein diesbe­

zügliches Soll-Ist-Profil angereichert (Abschnitt 2.4). Abschliessend stellt sich die Frage, ob diese Haupthypothesen im Licht der Empirie des Klein­

staates eine vorläufige Bestätigung erhalten oder zu verwerfen sind.

Zur Beantwortung dieser Frage werden die Zwischenergebnisse (Ab­

schnitt 3.4) im Licht der Haupthypothesen gesichtet.94

- Haupthypothese 1: Selektive Aufgabenwahrnehmung im Kleinstaat Der Kleinstaat wird jene Staatsaufgaben, die ihm seine Souveränität, Identität und Prosperität sichern helfen, ohne Rücksicht auf die Aus­

gabenintensität selbst erfüllen.

Die Hypothese von der selektiven Aufgabenwahrnehmung erhält durch die Realität eine grundsätzliche Bestätigung. Allerdings sind bemerkens­

werte Modifizierungen vorzunehmen. Um dies zu zeigen, sind die in Ta­

belle 2.1 geäusserten, theoriegestützten Erwartungen über die relative Ausgabenintensität der öffentlichen Aufgabenerfüllung mit dem empi­

risch vorzufindenden Ist-Stand zu vergleichen.

94 Um die Lesbarkeit zu erleichtern, werden diese vier Haupthypothesen jeweils nochmals angeführt.

Einschätzung der empirisch feststellbaren Aufgabenerfüllung Es zeigt sich, dass die Erwartungen hinsichtlich der Funktion allge­

meine Verwaltung (Legislative und Exekutive, allgemeine Verwaltung) und der Funktion Beziehungen zum Ausland (politische Beziehungen und wirtschaftliche Beziehungen) vollumfänglich zutreffen. Der Klein­

staat ist hier aufgrund fehlender economies of scale pro Kopf mit einem Mehrfachen im Vergleich zur Schweiz belastet: Die Legislative und oberste Exekutive mit dem 2.5fachen, die allgemeine Verwaltung mit dem 4fachen, die Aussenpolitik mit dem 3.5fachen und die Aussenhan-delspolitik mit dem 4fachen. Natürlich werden auch die Steuern selbst erhoben. Die Aufwendungen ihrer Erhebung sind in der Funktion all­

gemeine Verwaltung enthalten.

Obige Aufgaben müssen selbst produziert werden. Ihr Nutzenradius bezieht sich vor allem auf Liechtenstein selbst, wenn man davon absieht, dass ein gut geführter und verwalteter Staat auch Nutzen für die Nach­

barn abwirft. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass - ge­

messen am Gesamtbudget - der Anteil des Personalaufwands in Liech­

tenstein deutlich unterhalb jenem der Schweiz und etwa auf der Höhe Österreichs liegt. Dies hängt damit zusammen, dass Liechtenstein einer­

seits nur einen Teil der Staatsaufgaben selbst erfüllt beziehungsweise er­

füllen kann. Diese kommen dann aber überproportional teuer zu stehen.

Andererseits hat Liechtenstein als Kleinstaat keine Länder- beziehungs­

weise Kantonsebene eingezogen.

Bemerkenswert ist ferner, dass der Kleinstaat Liechtenstein im Be­

reich innere Sicherheit (Rechtsprechung, Rechtsaufsicht) aufgrund sei­

ner Gebührenhoheit (verbunden mit der Attraktivität des Dienstlei­

stungssektors) sogar einen Uberschuss erzielt.

Eine Besonderheit des Kleinstaates besteht bei den prioritären Aufga­

ben darin, dass Staatsaufgaben, die in anderen Ländern als staatliche Kernaufgaben angesehen werden, von Liechtenstein nicht selbst produ­

ziert werden können, sondern vom Ausland bezogen werden. Hier be­

sorgt die öffentliche Hand auf dem Vertragsweg anstelle der eigenen Produktion lediglich die Bereitstellung, damit diese Leistungen von den Bürgern und Unternehmern entgeltlich mitbenützt werden können.

Daneben gibt es auch Leistungen des Auslandes, die unentgeltlich mit­

benützt werden können. Weitere Ausführungen dazu finden sich unten bei der Kommentierung von Haupthypothese 2.

Zusammenfassend kann zur Haupthypothese 1 festgehalten werden, dass in einzelnen Bereichen tatsächlich sehr erhebliche Grössennachteile

für den Kleinstaat bestehen, dass er aber in vielen bedeutsamen Berei­

chen staatlicher Aufgabenerfüllung - zum offensichtlich gegenseitigen Nutzen - gutnachbarschaftliche Dienste des Auslands in Anspruch nimmt. Dadurch kann der Aufwand des Kleinstaates trotz vorhandener diseconomies of scale insgesamt innerhalb der Grenzen der Pro-Kopf-Aufwendungen der Vergleichsstaaten gehalten werden, ohne dass Auf­

gäben unerfüllt blieben.

- Haupthypothese 2: Spezifische Make-or-buy-Entscheidungen Der Kleinstaat kann und muss nicht alle Staatsaufgaben selbst produ­

zieren: Einrichtungen mit kleinem (das heisst internem) Einzugsge­

biet wird der Kleinstaat selbst bereitstellen. Die Ausgabenintensität (Nettobelastung) sollte nicht von jener grösserer Staaten abweichen.

Er wird die Nutzung von Einrichtungen, die ein grosses (das heisst überstaatliches) Einzugsgebiet erfordern und die die Nachbarstaaten ohnehin für ihre Bevölkerung bereitstellen, über Verträge absichern, soweit sie nicht unentgeltlich zur Verfügung stehen.

In Haupthypothese 2 wird eine Make-or-buy-Entscheidung angespro­

chen. Sie muss bezüglich des Inlandsteiles ("sollte nicht von jener grös­

serer Staaten abweichen") verworfen werden: Dort, wo Liechtenstein Aufgaben mit internem Nutzenradius selbst produziert, treten in aller Regel deutlich höhere Belastungen für die öffentliche Hand auf.

Beispiele dafür sind nicht so sehr die unter Haupthypothese 1 ge­

nannten Kernfunktionen staatlicher Tätigkeit in den Bereichen der Staatsführung und Verwaltung. Es sind hier vielmehr die Fürsorge, das Bildungswesen einschliesslich der höheren Berufsbildung, die Kran­

kenversicherung, das Strassenwesen, die Ver- und Entsorgung, die Ge-wässer- und Lawinenverbauung und der soziale Wohnbau angespro­

chen. Hier fallen Belastungen an (vgl. Tabelle 3.26), die ein Mehr- bis Vielfaches der Pro-Kopf-Belastung des Auslandes ausmachen, obwohl keine produktions- und nutzenseitigen diseconomies of scale zu erken­

nen sind.

Zu den bedeutsamen vertraglich-entgeltlichen Aufgaben, die fremd­

bezogen werden, gehören ausgewählte Bereiche der Berufsbildung, das tertiäre Bildungswesen (Hochschulen), die sozialpsychiatrische Betreu­

ung, der Strafvollzug und die (hochspezialisierte) stationäre Kranken­

versorgung. Hier fallen im Kleinstaat unterproportionale Ausgaben an,

Einschätzung der empirisch feststellbaren Aufgabenerfüllung die bei einem Viertel (Strafvollzug) oder rund der Hälfte der Pro-Kopf-Belastung des Auslandes zu liegen kommen. In diesem Zusam­

menhang spielen die Möglichkeit der Auswahl zwischen mehreren Institutionen des Auslandes und günstige vertragliche Gestaltungen dieser grundsätzlich freiwilligen Austauschbeziehungen eine Rolle.

Umgekehrt wird durch die liechtensteinische Mitbenützung eine Reihe ausländischer Institutionen besser ausgelastet, so dass der Vorteil beid­

seitig ist.

Daneben nimmt der Kleinstaat eine Reihe von bedeutsamen Infra­

strukturleistungen im weiteren Sinn vom Ausland weitgehend unent­

geltlich in Anspruch. Die Palette reicht hier von der militärischen Lan­

desverteidigung bis zum höherrangigen Verkehrsnetz (Auto- und Eisen­

bahn). Aber auch die Partizipation an den Regelungen des Geld- und Währungswesens der Schweiz, der Sicherung der Aussengrenzen durch den Zollvertrag mit der Schweiz und wesentlicher Teile des Regelwerks des Sozialversicherungsbereiches (Alters- und Hinterlassenenversiche-rung, Invaliditätsversicherung) sind hier aufzulisten.

Zusammenfassend ist zu Haupthypothese 2 festzuhalten, dass in we­

sentlichen Bereichen der Liechtenstein-internen Produktion von Staats­

leistungen bei jenen Leistungen, die lediglich einen internen Nutzer­

radius aufweisen, stark überproportionale Belastungen zu konstatieren sind, während der Fremdbezug überwiegend zu Pro-Kopf-Belastungen führt, die sehr deutlich unter den vergleichbaren Aufwendungen des Auslandes liegen.

Diese Erkenntnisse können auch grafisch umgesetzt werden: Immer, wenn Liechtenstein ausländische (Infrastruktur-)Einrichtungen mit­

nutzt, fällt die Nettobelastung geringer aus, als wenn das Land solche Einrichtungen selbst bereitstellt. Man könnte diese Erkenntnis auch noch etwas allgemeiner fassen und den in Abbildung 3.26 dargestellten Zusam­

menhang zwischen Aufgabenmodus und Ausgabenintensität herstellen.

Die Höhe der Kosten (Ausgaben, Belastungen) hängt auf das engste mit dem Ausmass an Eigenfertigung und Fremdbezug zusammen.

- Haupthypothese 3: Budgetrelevante Besonderheiten des politischen Prozesses und der öffentlichen Verwaltung

Der politische Prozess sowie Grösse und Struktur der öffentlichen Verwaltung im Kleinstaat unterscheiden sich deutlich von jenen in grösseren Staaten und führen zu höherer Ausgabenintensität.

Abbildung 3.26: Verhältnis von Aufgabenmodus und Ausgabenintensität

hoch

Kosten

gering

Eigenproduktion Fremdbezug

1. Eigenproduktion: diseconomies of Scale, aber unverzichtbare Aufgabe für Kleinstaat.

Eigenerstellung durch Land oder Gemeinden.

2. Eigenproduktion: Produktion durch eigene Verwaltung. Aufgabenumfang überschreitet nicht das räumliche Produktionsoptimum des Kleinstaates (keine nennenswerten spill-overs).

3. Fremdbezug: Produktion im Inland (öffentliche Aufträge, Betrauung Dritter). Aufga­

benumfang für Kleinstaat räumlich optimal (keine nennenswerten spillovers).

4. Fremdbezug: Produktion im Ausland. Gemeinsame Einrichtung mit dem Ausland, ver­

tragliche Kostenteilung.

5. Fremdbezug: Produktion im Ausland. Mitbenützung vertraglich und entgeltlich ge­

sichert.

6. Fremdbezug: Produktion im Ausland. Aufgabenumfang überschreitet Produktionsopti­

mum des Kleinstaates bei weitem. Unentgeltliche Mitbenützung bzw. Bepreisung priva­

ter Nutzer.

Unter Haupthypothese 2 wurde ausgeführt, dass bei einer Reihe von Aufgaben, die in Liechtenstein produziert werden und einen landes­

internen Nutzenradius aufweisen, deutlich überproportionale Belastun­

gen auftreten. Damit bleibt als erklärende Grösse vor allem der politi­

sche Prozess, der in der vergleichsweise lockeren Budgetrestriktion gün­

stige Bedingungen vorfindet.

Der politische Prozess manifestiert sich hier auf verschiedene Weise:

Zum ersten dürfte im Beschaffungs- und Erhaltungsbereich von Infra­

struktur der Wettbewerb zuwenig genutzt werden: Hier sind die Hoch-und Tiefbauten (Strassen, Wasser- Hoch-und Lawinenverbauung) angespro­

chen. Ein Teil dieser Belastungen ist, zweitens, darauf zurückzuführen, dass die im Ausland übliche Höhe der Gebühren-, also Äquivalenzfi­

Einschätzung der empirisch feststellbaren Aufgabenerfüllung nanzierung, in Liechtenstein wohl aus politischen Gründen deutlich ex­

tensiver genutzt wird. Beispiele dafür sind in den Bereichen Abwasser-und Abfallbeseitigung zu finden, bei denen in Liechtenstein die 5fache beziehungsweise 9.5fache Belastung der öffentlichen Haushalte gegen­

über der Schweiz vorliegt. Damit bleibt gerade im Umweltbereich ein wesentliches marktwirtschaftliches Steuerungsinstrument ungenutzt.

Ein dritter Bereich bezieht sich auf den Einsatz von Transferzahlungen, die im Fürsorge-, Kultur- und Sportbereich sowie im Krankenversiche­

rungswesen zu deutlich überproportionalen Ausgaben führen. Ein gutes Beispiel für das, was die politische Ökonomie mit "Stimmenkauf" be­

zeichnet, findet sich bei der im Vergleich zur Schweiz 8fach höheren Förderung des sozialen Wohnbaus in Liechtenstein. Sie liegt damit auch noch um ein Fünftel höher als die umfassende Wohnbauförderung, mit der die Österreicher verwöhnt werden (vgl. Gantner 1998).

Die Hypothese vom "Stimmenkauf" darf aber nicht überstrapaziert werden: Gerade im Bereich der öffentlichen Besoldung muss Liechten­

stein wegen der niedrigeren Steuern weniger den Arbeitsmarkt der Schweiz fürchten. Es gilt vielmehr, einigermassen konkurrenzfähige Löhne und damit Lebenseinkommen zur privaten Wirtschaft in Liech­

tenstein (insbesondere zum Finanzdienstleistungssektor) zu bezahlen.

Hier sind die Liechtensteiner Gebietskörperschaften ein Opfer der von ihnen massgeblich mitgestalteten positiven wirtschaftlichen Rahmenbe­

dingungen.

- Haupthypothese 4: Unspezifische kommunale Aufgabenerfüllung, aber hohe Zentralisierung

Auf der Gemeindeebene dürften sich die Aufgaben und Ausgaben­

strukturen nicht von jenen anderer Staaten unterscheiden. Hingegen ist ein hoher Zentralisierungsgrad zu erwarten, da im Kleinstaat ein­

heitlichen Regelungen und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ein sehr hohes Gewicht beigemessen werden dürfte.

Die Haupthypothese, die Aufgaben der Gemeinden würden sich inter­

regional nicht unterscheiden, ist zu verwerfen: Gemessen an den recht­

lichen Kompetenzen liegt Liechtenstein zwischen der Schweiz (mehr Kompetenzen der Gemeinden) und Österreich (geringere Kompeten­

zen). Diese Feststellung sagt jedoch noch wenig über die tatsächlichen Aktivitäten der Gemeinden aus.

Der Vergleich der Gemeindehaushalte stützt sich auf zwei Auswer­

tungen. Zum einen werden die Liechtensteiner Gemeinden mit allen Schweizer Gemeinden bezüglich des Jahres 1995 konfrontiert. Anderer­

seits liegt ein interregionaler Vergleich der Gemeindehaushalte zwischen Liechtenstein, St. Gallen und Vorarlberg für das Jahr 1993 vor.

Insgesamt können die Liechtensteiner Gemeinden im Jahr 1995 (1993) um rund 30 (bzw. 10) Prozent mehr ausgeben als ihre Schweizer (St. Galler) Pendants und gar 50 Prozent mehr als die Gemeinden in Vor­

arlberg. Die Liechtensteiner Gemeinden haben nicht nur in vielen Auf­

gabenbereichen höhere Ausgaben, sondern schonen ihre Bürger und die ansässigen Unternehmen auch vergleichsweise deutlich bei den Ge­

bühren.

Zudem fällt auf, dass das höhere Haushaltsvolumen, mit dem die Liechtensteiner Gemeinden wirtschaften, vornehmlich für die allge­

meine Verwaltung (das Doppelte dessen, was die Nachbargemeinden aufwenden), für Kultur/Sport (das 3fache) und für Bauwesen/technische Infrastruktur (das 3fache) aufgeht.95 Auch in die Sozialhilfe fliesst das Doppelte des Schweizer Wertes. Einzig bezüglich des Gesundheitswe­

sens und der Schuldenverwaltung können relativ geringe Nettobelastun­

gen der Liechtensteiner Gemeinden konstatiert werden.96

Die tatsächlichen Aktivitäten der Gemeinden dürften zusammenfas­

send stärker durch das Einnahmenvolumen bestimmt sein als durch den rechtlich determinierten Aufgabenbestand. Mithin ist der zweiten Hypothese, wonach das Ausmass der Einnahmen das Ausgabenvolu­

men determiniert, einiges Gewicht beizumessen.

Abschliessend zu Kapitel 3 ist festzuhalten, dass (internationale) Aus­

gaben- oder Belastungsvergleiche wesentliche Einsichten in die Beson­

derheiten staatlicher Aufgabenerfüllung im Kleinstaat generiert haben.

Staatliche Aufgabenerfüllung geht aber, wie die Ausführungen zu Be­

reitstellung und zu den institutionellen Aspekten einzelner Aufgabenbe­

reiche gezeigt haben, über die rein haushaltsmässige Betrachtung hinaus.

Deshalb sollen im folgenden 4. Kapitel Fallstudien für einige ausge­

wählte Bereiche angestellt werden.

95 Bemerkenswert sind hier die Nettobelastungen der Gemeinden aus der technischen In­

frastruktur Abwasser, Wasser und Abfall.

96 Einen wesentlichen Ausgabenschwerpunkt der Schweizer Gemeinden bilden die Schu­

len/Kindergärten, während diese für die Vorarlberger (österreichischen) Gemeinden keine grosse Rolle spielen. Die Vorarlberger Gemeinden werden hingegen zur Finanzie­

rung der sozialen Wohlfahrt/Gesundheit relativ stark herangezogen.

4. Fallstudien zur Wahrnehmung öffentlicher