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Die Psychologie der Gruppe ist seit einem Jahrhundert Gegenstand psychologischer Forschung (vgl. Boos, 1997). Dabei hat sich gezeigt, dass die Gruppe nicht nur ein Aggregat ihrer Mitglieder ist, sondern eine eigene Dynamik entfaltet und in ihrer Gesamtheit untersuchenswert ist. Arbeitsgruppen sind Kleingruppen interdependenter Individuen, die in abgestimmter Weise an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten, um spezifische und gemeinsame Ziele zu erreichen (Brannick & Prince, 1997) und sich ihre Verantwortung für organisationale Ergebnisse teilen (Sundstrom, 1990).

In Organisationen werden wichtige und komplexe Entscheidungen oft Gruppen übertragen. Dabei wird angenommen, dass die Gruppenmitglieder über unterschiedliche Expertisen verfügen und der Gruppe dadurch einen breiten Zugang zu entscheidungsrelevanten Ressourcen ermöglichen (Larson, Foster-Fishman & Franz, 1998b). Beispielsweise muss ein Managementteam eine gemeinsame Entscheidung über die strategische Unternehmensplanung mit der Garantie einer langfristigen Gewinnmaximierung treffen, wobei die Mitglieder des Managements individuell durchaus unterschiedliche Ziele haben können.

Personalauswahlkommissionen mit Experten/-innen unterschiedlicher Fachabteilungen müssen entscheiden, welche/r Bewerber/-in den ausgeschriebenen Arbeitsplatz am besten ausfüllen wird.

OP-Crews1 müssen unter Zeitdruck entscheiden, wie in unvorhergesehenen Notfällen in der Behandlung des/der Patienten/-in weiter verfahren wird, wobei insbesondere die Abstimmung zwischen Chirurgen/-innen und Anästhesisten/-innen fehlerlos funktionieren muss: Die Chirurgen/-innen sind auf die verlässliche Rückmeldung aktueller Patientendaten durch die Anästhesisten/-innen angewiesen, nur gemeinsam können sie eine korrekte Versorgung gewährleisten.

1 Arbeitsgruppen im Operationssaal (OP) zeichnen sich durch eine Crew-Struktur aus, da die Gruppenmitglieder nicht dauerhaft in gleicher Zusammensetzung arbeiten, sondern vielmehr aus einem Pool verfügbarer Fachkräfte

Diese Beispiele zeigen den so genannten Synergieeffekt: Er besagt, dass die Gruppe als Ganzes mehr leisten kann als die Summe der individuellen Leistungen ergäbe (West, 2004;

Wilson, 2005) und ist der Grund für den strategischen Einsatz von Arbeitsgruppen (Scherm, 1998). Das Synergiepotential der Gruppe besteht bei Entscheidungsaufgaben in der Unterschiedlichkeit der Expertisen und Problemsichten der Gruppenmitglieder. Die Synergie wird möglich über den Austausch dieser unterschiedlichen Problemsichten und Erfahrungen und das gemeinsame Abwägen verschiedener, insbesondere negativer, Folgen von Handlungs- und Entscheidungsalternativen. Im Gegensatz zur reinen Ideenfindungsaufgabe erfordern Problemlöse- und Entscheidungsaufgaben von der Gruppe den effektiven Umgang mit Interdependenz, die in Organisationen durch unterschiedliche, aber sich gegenseitig beeinflussende, Verantwortungsbereiche der Gruppenmitglieder entsteht. Die Entscheidungsfindung erfordert zusätzlich eine Diskussion und Übereinkunft über die der Entscheidung zugrunde liegenden Bewertungsmaßstäbe (Boos & Sassenberg, 2001). Durch diese hohen Aufgabenanforderungen erreicht der Gruppenentscheidungsprozess eine Komplexität, die von den Gruppenmitgliedern nicht immer optimal bewältigt wird (Kerr & Tindale, 2004;

Mojzisch & Schulz-Hardt, 2006; Stasser & Titus, 1985). Diese Komplexität der Entscheidungsaufgabe erfordert, dass die Gruppenmitglieder ihre individuellen Handlungen koordinieren (Boos & Sassenberg, 2001; Dickinson & McIntyre, 1997; Scharpf, 1988; Tschan &

Semmer, 2001). Koordination stellt eine grundlegende Anforderung an Gruppenarbeit dar (Brauner, 2001) und ist in Gruppen hauptsächlich über Kommunikation möglich (Brauner, 2001).

Die Art dieser durch Kommunikation ermöglichten Koordination und ihrer Wirkungen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

Grundlage der Arbeit ist das Modell der Koordinations-Modi von Wittenbaum, Vaughan und Stasser (1998). Es betrachtet Koordination auf zwei Dimensionen: Zeitpunkt und Explizitheit der Koordination. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf expliziter Koordination während des Interaktionsprozesses, die im Folgenden als explizite Prozesskoordination bezeichnet wird.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in der Beschreibung expliziter Prozesskoordination von Arbeitsgruppen und in der Analyse ihrer Wirkung auf die Entscheidungsfindung. Thematisch lässt sich die Arbeit einordnen in die sozialpsychologische Forschung zur Entscheidungsfindung, Koordination und Interaktion in Gruppen (Becker-Beck, 1997; Boos, 1996b; Boos, Morguet, Meier & Fisch, 1990; Boos & Sassenberg, 2001; Ellis &

Fisher, 1994; Gurtner, 2003; Gurtner, Tschan, Semmer & Nägele, in press; Hackman & Morris, 1975; Hirokawa & Salazar, 1999; Kerr & Tindale, 2004; Larson, Christensen, Franz & Abbott, 1998a; Larson et al., 1998b; Sexton, 2004; Sexton et al., 2004; Stasser & Titus, 1987; Tschan, 2000; Tschan, Semmer, Nägele & Gurtner, 2000; Wittenbaum et al., 1998).

Nach der Darstellung des relevanten theoretischen und empirischen Hintergrundes soll explizite Prozesskoordination in Studie 1 und 2 aus der Perspektive der koordinierenden Personen bzw. auf der Bedeutungsebene betrachtet werden: Explizite Koordination wird von Gruppenleitern/-innen oder –mitgliedern intentional eingesetzt. Die individuellen Intentionen und Heuristiken des Einsatzes expliziter Koordinationsmechanismen werden im Rahmen subjektiver Theorien in der praktischen Gruppenkoordination unerfahrener Personen (Studie 1) und erfahrener Personen (Studie 2) erhoben. Dadurch soll, neben Erkenntnissen über die individuelle Bedeutung expliziter Koordination, eine differenzierte Phänomenbeschreibung im Rahmen der Grounded Theory2 (Glaser & Strauss, 2005) ermöglicht werden.

Nach der Betrachtung der subjektiven Perspektive soll auf der Handlungsebene die Umsetzung der Koordination in konkrete Handlungen untersucht werden. Im Fokus steht die Effektivität expliziter Koordinationshandlungen: Führen Handlungen expliziter Koordination während des Gruppenentscheidungsprozesses zu besseren Entscheidungen? Dazu werden in Studie 3 zwei ausgewählte explizite Koordinationsmechanismen in einer

2 Unter Grounded Theory ist keine Theorie, sondern eine Konzeptualisierung von Theoriebildung zu verstehen (Howitt & Cramer, 2005). Sie beinhaltet Richtlinien zur Erfassung, Kodierung und Analyse von Daten zur Generierung von Theorien (Glaser & Strauss, 2005) und legt einen flexiblen Gebrauch von Daten und

Gruppenentscheidungsaufgabe bezüglich ihrer Wirkungen auf die Gruppenentscheidung untersucht.

Die Ergebnisse der Studien 1 bis 3 werden ausführlich diskutiert, wobei die Notwendigkeit des systematischen Vergleichs des Einsatzes von Koordinationsmechanismen im Entscheidungsprozess von erfolgreichen versus erfolglosen Entscheidungsgruppen verdeutlicht wird.

Zur handlungsanalytischen Untersuchung wurden daher zwei Methoden zur Erfassung expliziter Prozesskoordination entwickelt: Das Kodiersystem zur mikroanalytischen Erfassung von Koordination in Gruppendiskussionen (Methodenentwicklung 1) dient der detaillierten Beschreibung von Koordinationshandlungen der Gruppenmitglieder und ermöglicht deren sequentielle Betrachtung. Es wurde sowohl deduktiv (theoriegeleitet und ähnliche Verfahren integrierend) als auch induktiv (datennah) entwickelt. Die Methode zur Einteilung von Kodiereinheiten in Transkripten verbaler Interaktionsprozesse (Methodenentwicklung 2) widmet sich dem methodischen Problem bisher nahezu fehlender Verfahren zur systematischen Extraktion von Kodiereinheiten aus den Redebeiträgen der Gruppendiskussionen. Es werden ein Design zur Anwendung beider Verfahren im Rahmen eine Prozessanalyse zum systematischen Vergleich erfolgreicher und erfolgloser Entscheidungsgruppen3 sowie Empfehlungen für weiterführende Forschungen entwickelt.

Tabelle 1 fasst den skizzierten Forschungsplan zusammen.

3 Die Umsetzung des vorgestellten Designs ist nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

Tabelle 1: Übersicht über den Forschungsplan der vorliegenden Arbeit Theoretische

Anforderungen Methodische Anforderungen Erwartete Resultate 1.

Phänomen-beschreibung keine Qualitativ-quantitative Analyse von Gruppenkoordination

Experiment zur Untersuchung des Einflusses von

Arbeitsmodell Entwicklung von

Verhaltensbeobachtungsinstrumenten zur Erfassung von Koordination (Methodenentwicklung 1, Methodenentwicklung 2)

Aussagen über konkrete Koordinationsverhaltens-abfolgen und –muster, die erfolgreiche Gruppen von nicht erfolgreichen unterscheiden (Handlungsebene)

Die genannten Ziele legen der vorliegenden Arbeit forschungsmethodisch sowohl einen quantitativen als auch einen qualitativen Ansatz zugrunde (vgl. Kapitel 3.6). Die Untersuchung von Gruppenkoordination im Rahmen sozialpsychologischer Kleingruppenforschung entbehrt bisher einer grundlegenden Theorie der Koordination. Es existieren Taxonomien einzelner Koordinationsformen (vgl. Wittenbaum et al., 1998) und vereinzelte empirische Befunde zur situativen Erscheinung und Effektivität dieser Koordinationsformen (vgl. Espinosa, Lerch &

Kraut, 2004; Grote, Zala-Mezö & Grommes, 2003). Jedoch wurde bisher weder eine formale Theorie zu Inhalt, Bedingungen und Wirkungsweise noch eine normative Theorie zum idealtypischen Ablauf von Koordination postuliert, was allerdings durch die sehr unterschiedlichen Koordinationsanforderungen der jeweiligen Gruppenaufgabe (motorische Aufgabe, Ideen- oder Entscheidungsfindung) bedingt sein mag. Die vorliegende Arbeit verfolgt

nicht den Anspruch, eine Theorie der Koordination aufzustellen. Vielmehr soll sie einen Beitrag dazu leisten, bisherige theoretische Ansätze (Wittenbaum et al., 1998) zu präzisieren und den Gegenstand expliziter Prozesskoordination differenziert zu betrachten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist einerseits die Verwendung qualitativer Methoden erforderlich (Interviews und Verhaltensbeobachtung), um neben einer quantitativ-experimentellen Überprüfung Koordination aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können: Subjektive Sichten koordinierender Personen (Studie 1 und Studie 2), Effektivität von Koordinationsmechanismen (Studie 3) und Verhaltensbeobachtung durch Dritte (Methodenentwicklung 1 & 2).

Vor der Darstellung der durchgeführten Studien werden grundlegende theoretische Konzepte zum Informationsaustausch und zur Entscheidungsfindung in Gruppen (Kapitel 2) sowie zur Koordination von Gruppen (Kapitel 3) erläutert.