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Eine funktionale Theorie zur Entscheidungsfindung in Gruppen

2 Informationsaustausch und Entscheidungsfindung in Gruppen

2.2. Eine funktionale Theorie zur Entscheidungsfindung in Gruppen

In der Existenz unterschiedlicher Problemsichten besteht das Synergiepotential einer Gruppe. Wie kann dieses Potential genutzt werden? Wie können die unterschiedlichen Problemsichten und Expertisen integriert werden? Dazu müssen zunächst die individuell

unterschiedlichen Informationen durch Kommunikation ausgetauscht werden. Die funktionale Theorie der Gruppenentscheidungsfindung (Gouran & Hirokawa, 1996; Hirokawa, 1983, 1985, 1990; Orlitzky & Hirokawa, 2001) beinhaltet Aussagen zum Zusammenhang zwischen dem Gruppeninteraktionsverhalten und der Entscheidungsfindung. Das effektive Erfüllen der komplexen und unstrukturierten Entscheidungsaufgabe erfordert, dass die Interaktion der Gruppenmitglieder vier kritische Funktionen erfüllen muss:

1. Das bestehende Problem muss analysiert werden. Die Gruppe muss ein gründliches und genaues Verständnis der Natur, des Ausmaßes, der Ernsthaftigkeit und der Gründe des Problems entwickeln.

2. Es müssen Bewertungskriterien aufgestellt werden, die beschreiben, wie das Entscheidungsergebnis aussehen soll.

3. Entsprechend den Bewertungskriterien müssen Lösungsalternativen generiert werden, die sowohl realistisch als auch akzeptabel sind.

4. Die generierten Lösungsalternativen müssen sorgfältig bezüglich ihrer möglichen positiven und negativen Konsequenzen bewertet werden.

Das Erfüllen dieser kritischen Kommunikationsfunktionen beeinflusst die Entscheidungsfindung positiv. Besonders wesentlich für die effektive Gruppenentscheidungsfindung ist neben der Problemanalyse die Bewertung eventueller negativer Konsequenzen einzelner Entscheidungsalternativen (Hirokawa, 1985; Orlitzky & Hirokawa, 2001).

Die bisherige Forschung konnte zeigen, dass die Kommunikationsfunktionen weniger im Sinne eines normativen Ablaufmodells nacheinander in der gleichen Reihenfolge auftreten müssen. Ausschlaggebend für die Qualität der Gruppenentscheidung ist lediglich die Erfüllung der funktionalen Anforderungen, weniger die Einhaltung bestimmter Diskussionsprozeduren (Hirokawa, 1985). Es scheint nicht den einzig richtigen Diskussionsablauf im Sinne einer gleichförmigen Sequenz bestimmter Kommunikationsphasen zu geben, der Gruppen mit effektiver Entscheidungsfindung von solchen mit ineffektiver unterscheidet (Hirokawa, 1983).

Eine sequentiell lineare Abfolge funktional unterschiedlicher Phasen mag in Gruppen als

implizite Norm des Vorgehens vorhanden sein, ist empirisch hingegen nicht zu finden und entspricht einer zu starken Vereinfachung des Gruppenprozesses (Poole, 1983 zit. n. Boos, 1996b). Boos (1996a) konnte in Gruppendiskussionen im Rahmen einer Problemlösungsaufgabe ebenfalls keine funktional voneinander abgrenzbaren Phasen finden. Allerdings konnten dennoch Unterschiede im zeitlichen Verlauf zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Gruppen festgestellt werden: Erstere analysieren zunächst das Problem, bevor sie Entscheidungsalternativen sammeln, erfolglose Gruppen hingegen beginnen sofort mit der Lösungssuche, ohne das Problem genau analysiert zu haben (Hirokawa, 1983). Tschan (1995) kam ausgehend von der Handlungstheorie in einer Untersuchung von Gruppenprozessen bei einer Konstruktionsaufgabe zu ähnlichen Ergebnisse: Gruppen, deren Kommunikation in einem so genannten idealen Zyklus ablief (beginnend mit Orientierung und Planung, endend mit Evaluation) zeigten bessere Leistung als solche, deren Kommunikation nicht dem idealen Zyklus entsprach.

Darüber hinaus muss auch überlegt werden, inwieweit tatsächlich allein die Orientierung an funktionalen Anforderungen das Entscheidungsverhalten von Gruppen erklären kann und nicht noch weitere Faktoren, z.B. die Dynamik der Gruppe, als verhaltensbestimmende Faktoren hinzugezogen werden sollten (Boos, 1996b).

Die Annahmen der funktionalen Theorie der Entscheidungsfindung konnten empirisch bisher teilweise unterstützt werden (Gouran & Hirokawa, 1996). In Bezug auf soziale Einflüsse, die die Gruppe möglicherweise daran hindern, die kritischen Funktionen umzusetzen, diskutieren und revidieren Gouran und Hirokawa (1996) Funktionen, deren Erfüllung durch die Gruppe eine gute Entscheidung ermöglicht. Sie postulieren, dass gute Gruppenentscheidungen dann möglich werden, wenn die Gruppenmitglieder

1. ihr Interesse an der bestmöglichen Gruppenentscheidung betonen, 2. relevante Entscheidungsfindungsressourcen identifizieren,

3. eventuell auftretende Hindernisse erkennen, 4. einzuhaltende Verfahrensweisen spezifizieren, 5. Grundregeln der Interaktion festlegen,

6. versuchen, die wesentlichen Aufgabenerfordernisse zu erfüllen, indem sie a. ein korrektes Problemverständnis zeigen,

b. die Minimalkriterien bestimmen, denen jede akzeptable Alternative gerecht werden muss,

c. relevante und realistische Alternativen generieren,

d. die Alternativen sorgfältig bezüglich der Minimalkriterien überprüfen,

e. die Alternative auswählen, die am wahrscheinlichsten die angestrebten Merkmale enthalten wird,

7. angemessene Interventionen einsetzen, um kognitive, affiliative und egozentrische Einschränkungen, welche die Erfüllung der wesentlichen Aufgabenerfordernisse beeinträchtigen könnten, zu überwinden und

8. den Entscheidungsfindungsprozess kritisch prüfen und gegebenenfalls die Entscheidung als getroffen ansehen (Gouran & Hirokawa, 1996).

Durch die Erweiterung der Bedingungen, die die Gruppenmitglieder zur Entscheidungsfindung beachten müssen, verdeutlichen Gouran und Hirokawa (1996), dass neben

den reinen performanzbezogenen Prozesskriterien (a–e) der Gruppenentscheidungsfindungsprozess auch soziale und kognitive Anforderungen an die Gruppe stellt. Darüber hinaus benennen sie nun den in der ursprünglichen Theorie fehlenden Schritt des Treffens der Entscheidung, auch wenn dieser im Vergleich zu anderen Entscheidungsmodellen (z.B. Ellis & Fisher, 1994) immer noch relativ wenig spezifiziert wird.

Der Vorteil der funktionalen Theorie der Entscheidungsfindung liegt jedoch in der Postulierung kritischer Funktionen, die während der Gruppenentscheidungsfindung erfüllt werden müssen.

Die Effektivität des Erfüllens dieser Funktionen ist teilweise empirisch sehr gut bestätigt (Orlitzky & Hirokawa, 2001) und bietet Entscheidungsfindungsgruppen daher eine Prozessunterstützung, die insbesondere durch die Führungskraft oder den/die Diskussionsleiter/-in beachtet werden können (Wilson, 2005). Darüber hinaus ermöglicht die

funktionale Theorie die theoriegeleitete Beobachtung des Gruppenprozesses (Hirokawa, 1982), deren Ergebnisse zur Rückmeldung an die Gruppe im Rahmen von Interventionen und zu Forschungszwecken genutzt werden können. Sie verdeutlicht die Komplexität und den damit verbundenen Koordinationsbedarf von Gruppenentscheidungen, auf den in Kapitel 3.1 genauer eingegangen wird.

Festzuhalten bleibt, dass für eine gute Gruppenentscheidung die kritische Bewertung vorgeschlagener Lösungsmöglichkeiten und Entscheidungsalternativen durch alle Gruppenmitglieder wesentlich ist (Gouran & Hirokawa, 1996; Orlitzky & Hirokawa, 2001). Nur so kann das Wissen aller Gruppenmitglieder ausgeschöpft werden und der empirisch vielfach bestätigten Tendenz von Gruppen, sehr risikofreudige Entscheidungen (Wittenbaum et al., 2004b) zu treffen, entgegengewirkt werden. Inwieweit die Gruppenmitglieder ihre individuellen Informationen tatsächlich austauschen, wird im nächsten Abschnitt dargestellt.

2.3. Empirische Befunde zum Informationsaustausch und zur