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KAPITEL 4: Migrationstheoretische Überlegungen zur Green Card

4.2. Die Humankapitaltheorie

Die Humankapitaltheorie ist eine Weiterentwicklung der neoklassischen Mikroökonomie. Die neoklassische Mikroökonomie geht grundsätzlich davon aus, daß Individuen rationale Entscheidungen treffen, um ihren ökonomischen Nutzen zu maximieren. Dabei werden bei Migrationsentscheidungen vor allem die Lohnhöhe und die Beschäftigungschancen berücksichtigt. Die Humankapitaltheorie berücksichtigt die Heterogenität der Individuen. Sie führt zu der Erkenntnis, daß jedes Individuum in Abhängigkeit von seinen Charakteristika die Erträge und Kosten einer Migration unterschiedlich bewerten wird. Dabei ist Migration als eine Investition in Humankapital zu sehen, dessen Erträge im Erwerbsverlauf auch in der Form langfristiger oder zukünftiger Einkommenssteigerungen erwartet werden können (Haug 2000: 5; Zimmermann et al. 2002: 11).

Die Humankapitaltheorie geht davon aus, daß Individuen die Kosten und Erträge des Lebens an verschiedenen Orten berechnen können20. Der Einzelne entscheidet sich dann für den Ort, wo seine bisherigen Humankapitalinvestitionen für ihn den größten Nutzen stiften bzw. wo er Humankapital mit späterem Nutzen akquirieren kann21 (vgl.

Molho 1986: 398f.). Gerade für hochqualifizierte Arbeitskräfte bietet die Globalisierung die Möglichkeit, weltweit nach dem Arbeitsort Ausschau zu halten, an dem ihre Investitionen in Humankapital die höchsten Erträge abwerfen werden (Straubhaar/ Wolter 1997: 174), bzw. wo sie für sie besonders interessantes Humankapital erwerben können.

Die Kosten der Migration beinhalten neben den reinen Reise- und Umzugskosten vor allem das Erlernen einer neuen Sprache, die Schwierigkeiten des Einlebens in ein neues Umfeld und in eine neue Kultur sowie die psychologischen Kosten der Trennung von Familie und Bekannten (Massey et al. 1993: 434). Je nach Individuum

20 Zur genauen Berechnung der Kosten und Erträge der Migration siehe Molho 1986: 398.

21 Da so gut wie nie alle relevanten Informationen verfügbar sind, um exakte Berechnungen zu tätigen, zieht der Einzelne nur wenige Alternativen und Faktoren in Betracht und wählt dann die Alternative aus, die für ihn am zufriedenstellsten ist (Siebert 1993: 230)

und seinen Merkmalen (z.B. sein Risikoverhalten) fallen diese Kosten mehr oder weniger hoch aus (Münz et al. 1999: 26).

Einen wesentlichen Einfluß auf die Erträge des Migranten spielt der Grad der Transferierbarkeit des im Herkunftsland akkumulierten Humankapitals. Das Ausmaß, in dem sich die im Herkunftsland erworbenen Fähigkeiten im Zielland umsetzen lassen, hängt von der Ähnlichkeit zwischen dem Herkunfts- und dem Zielland ab.

„Ähnlichkeit“ bezieht sich hierbei nicht nur auf die Wirtschafts- und Produktionsstruktur, sondern umfaßt auch den Grad der geographischen, sprachlichen und kulturellen Nähe zwischen dem Herkunftsland und dem Zielland (Golder 1999: 74ff.).

Demnach werden sich eher Menschen aus Ländern, die Deutschland kulturell ähnlich sind, oder Menschen, die die deutsche Sprache bereits gelernt haben, für eine Zuwanderung nach Deutschland interessieren. Dies dürfte bei Angehörigen der osteuropäischen Staaten vermehrt der Fall sein, da eine kulturelle Nähe zu Deutschland vorliegt, und die deutsche Sprache verbreitet ist. Auch besitzt Deutschland für Menschen aus dem osteuropäischen Rekrutierungsraum den Vorteil räumlicher Nähe, wodurch die Kosten der Migration (u.a. die Trennung von Familien und Freunden) weniger hoch ausfallen als im Falle einer beruflichen Veränderung in Richtung USA oder Kanada. Personen hingegen, die im Rahmen ihrer Ausbildung die englische Sprache vermittelt bekommen haben, wie es z.B. bei den besser Ausgebildeten in Indien der Fall ist, werden eher weniger Interesse an Deutschland zeigen und eher in englischsprachige Länder gehen (Martin/ Werner 2000a: 4).

Der Zuwanderer muß entscheiden, inwiefern er in ziellandspezifisches Humankapital investiert. Zum ziellandspezifischen Humankapital gehören beispielsweise Sprachkenntnisse oder die Vertrautheit mit den Eigenheiten lokaler Märkte. Der Aufbau dieser Art von Humankapital ist wichtig für die Produktivität und Integrationsfähigkeit des Zuwanderers (Dustmann 2000: 13). Ziellandspezifisches Humankapital kann der Zuwanderer bereits im Herkunftsland erworben haben, z.B.

indem er einen entsprechenden Sprachkurs besucht hat. Er kann es sich aber auch erst im Rahmen der Tätigkeit und Weiterbildung im Zielland aneignen. Der Arbeitgeber wird seinerseits darauf achten, daß der Zuwanderer ziellandspezifisches

Humankapital aufbaut und ihn zu entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen schicken, da er die volle Produktivität des Zuwanderers ausschöpfen will22.

Der Zeithorizont über den sich die Kosten und Erträge der Migration erstrecken, wird ebenfalls in die Überlegungen des Individuums mit einbezogen (Molho 1986: 399).

Eine längere antizipierte Verweildauer im Zielland vergrößert die Anreize, in ziellandspezifisches Humankapital zu investieren, da sich die sogenannte „pay-off“

Periode (Zeit, die das Individuum auf dem Arbeitsmarkt des Ziellands nach Tätigung der Investition verbringt) verlängert. Das Investitionsverhalten des Migranten hängt also maßgeblich davon ab, ob es sich um dauerhafte oder befristete Zuwanderung handelt, und wenn die Zuwanderung befristet ist, wie lange ihre Dauer ist (Golder 1999: 76ff.). Generell bieten befristete Arbeitsverträge für Zuwanderer wenig Anreize, in ziellandspezifisches Humankapital zu investieren, was sich folglich auch negativ auf die Arbeitsmarktperformance und Integrationsfähigkeit auswirkt23 (Dustmann 2000: 14). Auch das Investitionsverhalten des Arbeitgebers in das Humankapital des Zuwanderers variiert mit der Dauer des Arbeitsvertrages. Grundsätzlich wird er schon investieren wollen, um die Produktivität des Zuwanderers zu steigern. Je kürzer aber die Befristung des Arbeitsvertrags, desto niedriger wird er seine Einarbeitungs- und Weiterbildungskosten halten (Werner 1996: 41), da ansonsten für ihn „sunk costs“

entstehen (Einarbeitungs- und Weiterbildungskosten, die bei der Beendung des Arbeitsverhältnisses noch nicht amortisiert worden sind (vgl. Keller 1997: 334)).

An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß die Arbeitserlaubnis, die an ausländische IT-Spezialisten in Deutschland erteilt werden kann, auf maximal fünf Jahre befristet ist (siehe S. 11). Diese Tatsache werden die potentiellen Zuwanderer aus der IT-Branche bei ihrer Entscheidung, nach Deutschland oder in ein anderes Land zu gehen, berücksichtigen. Dies spielt ebenfalls bei ihren Überlegungen bezüglich Humankapitalinvestitionen und bei denen ihres Arbeitgebers eine Rolle.

22 Insgesamt wird der Erwerb von ziellandspezifischem Humankapital weder im Herkunfts- noch im Zielland in großem Umfang über das öffentliche Bildungssystem stattfinden, da durch die Globalisierung und die damit verbundene erhöhte Mobilität der Individuen immer geringere Anreize für Regierungen bestehen, das öffentliche Bildungssystem zu subventionieren (Andersson/

Konrad 2001).

23 Bestehen aber wiederum zwischen dem Ein- und Auswanderungsland große Ähnlichkeiten, dann verstärken sich selbst bei einer Befristung des Arbeitsvertrags die Anreize für den Zuwanderer, in ziellandspezifisches Humankapital zu investieren, da diese Investitionen auch bei der Rückwanderung Erträge abwerfen werden, bzw. der Migrant daraus bei seiner Rückkehr ins Heimatland einen Nutzen ziehen kann.

Bei der Errechnung des Nutzens einer Migration nach Deutschland braucht die Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung nicht weiter thematisiert zu werden, da die Existenz eines Arbeitsvertrages die Vorbedingung für die Einreise des ausländischen IT-Spezialisten nach Deutschland ist. Auch ist grundsätzlich von einem bestehenden Lohndifferential des Herkunftslands gegenüber Deutschland auszugehen (Martin/

Werner 2000a: 4). In Bezug auf die Green Card sind es somit hauptsächlich individuelle Merkmale (u.a. die Ausstattung mit Humankapital und die Zeitpräferenz), die zu einer unterschiedlichen Bewertung der Erträge und Kosten einer Migration nach Deutschland bzw. in ein anderes Land führen.

Schlußfolgerungen in Bezug auf die Green Card:

⇒ Auf eine Green Card werden sich hauptsächlich Fachkräfte aus Osteuropa bewerben, da sie ihr Humankapital relativ leicht zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland (in beide Richtungen) transferieren können.

⇒ Für Fachkräfte aus Südasien24 ist Deutschland sicher nicht erste Wahl, da diese Englisch und nicht Deutsch gelernt haben, und sie somit höhere Erträge aus einer Beschäftigung in einem englischsprachigen Land erzielen werden.

⇒ Ausländische Fachkräfte werden aus humankapitaltheoretischer Sicht eher in Länder gehen, in denen der Übergang von befristetem zu unbefristeten Aufenthalt möglich ist, da sich so die Erträge der Migration vergrößern und die Kosten gleichzeitig verringern.

⇒ Die Green Card spricht eher Fachkräfte an, die bereits über Deutschkenntnisse verfügen, da sich ein späterer Erwerb der deutschen Sprache aufgrund der Befristung des Aufenthalts nicht lohnt.

⇒ Die Befristung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis auf maximal fünf Jahre wird die ausländischen IT-Fachkräfte davon abhalten, mehr ziellandspezifische Investitionen als nötig zu tätigen.

24 Südasien umfaßt in Anlehnung an Gayatbi (2002) Indien, Pakistan, Bangladesh und Sri Lanka.

⇒ Ähnliches gilt für die Bereitschaft der deutschen Arbeitgeber, in das Humankapital der Green Card-Inhaber zu investieren.