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5 Die Anfänge der ärztlichen Spezialisierung

Zwar hatten sich schon im 18. Jahrhundert vor allem drei Spezialfächer, die Ge-burtshilfe, die Orthopädie und die Kinderheilkunde, aus der Chirurgie und der Inneren Medizin herausgebildet.117 Aber ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl medizinischer Spezialfächer deutlich zu, auch ermöglicht durch die Abwendung von der Humoralpathologie hin zur lokalistischen Krankheitsauffassung.

Begünstigend auf die Spezialisierung in der medizinischen Forschung und Lehre, die der Spezialisierung in der ärztlichen Praxis vorausging, wirkte sich der Wandel der deutschen Universitätsstrukturen in dieser Zeit aus, die besonders die Teilnahme von jungen Wissenschaftlern an der Erforschung neuer Spezialdisziplinen förderte.

Von den neu geschaffenen Spezialfächern eigneten sich nicht alle gleichermaßen für die Spezialisierung in der ärztlichen Praxis. Dafür eigneten sich besonders „Organ-spezialitäten“ oder therapeutische Verfahren wie die Chirurgie, während Fächer wie die Physiologie oder pathologische Anatomie von vornherein auf die Wissenschaft beschränkt blieben.118

Der Spezialist in der ärztlichen Praxis war bis ins 20. Jahrhundert hinein vorwiegend eine Erscheinung größerer Städte, da sich nur hier die ausreichende Anzahl an Pati-enten finden ließ. Damit hatte die zunehmende Urbanisierung auch einen vorantrei-benden Einfluss auf die Entwicklung des ärztlichen Spezialistentums.119

Gleichzeitig stieg die „Nachfrage“ nach Spezialisten in dem Sinne, dass der Bevölke-rung für bestimmte Erkrankungen die entsprechenden Spezialisten mittlerweile ge-eigneter schienen als die Allgemeinmediziner.

„Dem Laien imponieren aus dem ganzen Gebiet der Medizin vor allem die techni-schen Leistungen, die er greifen und begreifen kann. Diese sieht er vorzugsweise bei den Spezialärzten und aus ihnen folgert er – nicht immer mit Recht – nicht nur ein besseres Können, sondern auch eine eingehendere Kenntnis dieser Aerzte.

‚Ich bin schon beim Spezialarzt gewesen’, ist eine häufig gehörte Aeusserung ei-nes Patienten, der damit sagen will, er habe schon das Aeusserste, überhaupt Mögliche für die Beseitigung seiner Krankheit getan.“120

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Hausarzt also nicht mehr die zentrale In-stanz in der Versorgung Erkrankter. Zunehmend wurde der Spezialist von Seiten der Allgemeinmediziner hinzugezogen oder von den Patienten selbst aufgesucht.121

117 Lesky 1967, 1018.

118 Huerkamp 1985, 178.

119 Eulner 1967, 30.

120 Quincke 1906, 1213.

121 Teicher 1992, 38.

Gerade durch die zunehmende Konkurrenzsituation zwischen den Allgemeinmedizi-nern und den Spezialärzten wurde diese Entwicklung hin zum Spezialistentum be-rufspolitisch von einer zum Teil heftig geführten Debatte begleitet. Ein Vorwurf lau-tete, dass der Spezialarzt aufgrund seiner fachlichen „Einseitigkeit“ den Patienten nicht mehr als ganzen Menschen wahrnehme, sondern nur noch das seiner Speziali-sierung entsprechende Organ sehe. Gleichzeitig fürchtete man durch die Existenz der Spezialisten eine Abwertung des Allgemeinmediziners unter dem Verlust seiner Vielseitigkeit.122 Darüber hinaus prangerten Kritiker nicht zu Unrecht an, dass die Be-zeichnung als Spezialarzt nicht nach einer geregelten Ausbildung verlangte. Die Ge-staltung des Spezialisierungsprozesses lag allein im Ermessen des spezialisie-rungswilligen Arztes. Vorschriften über Dauer und Qualität der Weiterbildung inklu-sive der entsprechenden Nachweisführung gab es in allgemeingültiger Form schließ-lich bis zum Bremer Ärztetag nicht. So kam es nicht selten vor, dass sich „Sechswo-chenspezialisten“ niederließen. Als solcher wurde bezeichnet, der

„nach absolvierter Staatsprüfung und nach kurzem Spezialstudium von wenigen Monaten in einer Universitätsklinik oder bei einem Privatspezialisten, oder sogar auch o h n e dieses kurze Vorstudium, sich als Spezialarzt für irgend ein Fach an-kündigt, lediglich in der Absicht, durch die Vorspiegelung der Tatsache, dass er in diesem Fache besondere Kenntnisse und technische Fertigkeiten besitze, Pati-enten anzuziehen und sich so allmählich zum Spezialisten auszubilden“.123

So entstand in der Ärzteschaft die Idee, man könne dieser negativen Entwicklung mit der Einführung von Prüfungen für Spezialärzte Einhalt gebieten. Gleichzeitig sah man dann aber die Gefahr, dass durch so ein spezialärztliches Examen

„das Ansehen der Spezialisten auf Kosten des ärztlichen Standes zu erheblich überhöht werden dürfte“.124

Man befürchtete, auf diese Weise der erneuten Entstehung einer Zwei-Klassen-Ärz-teschaft Vorschub zu leisten. Daher sprach sich der XX. Deutsche Ärztetag, der 1892 in Leipzig stattfand, gegen eine besondere Prüfung für Spezialärzte aus. Man einigte sich diesbezüglich auf folgende Resolutionen:

1. „Der Ärztetag erkennt an, dass sich in der Entwicklung des Spezialistentums Auswüchse gebildet haben, deren Bekämpfung im Interesse des ärztlichen Standes, sowie in demjenigen des Publikums liegt. Das wichtigste Mittel hierzu ist die Erhaltung und Förderung des Standesbewusstseins und die abermalige Befürwortung einer deutschen Ärzteordnung, welche dringender als je notwendig ist.

2. Die Einrichtung einer besonderen Prüfung für Spezialärzte ist zu verwerfen.

122 Huerkamp 1985, 183.

123 Peiper 1906, 7.

124 Peiper 1906, 8.

3. Ein Verbot jeder näheren spezialistischen Bezeichnung liegt weder im ärztli-chen Interesse, noch in demjenigen des Publikums.“125

In seiner Vorlesung „Einführung in die ärztlichen Berufs- und Standesfragen“ betonte Erich Peiper, Professor an der Universität Greifswald, dass ein Arzt, der für sich eine Zukunft in einem Spezialfach sieht, sich darüber klar sein müsse, dass er dies in ei-nem kleinen Wirkungskreise nicht neben allgemeiner Praxis tun könne, ohne sich mit seinen Kollegen in Gegensatz zu setzen.

„Das mit Reklameannoncen besetzte Mäntelchen des Spezialisten darf nicht zum Deckmantel für den Wettbewerb gebraucht werden, der dadurch ein unlauterer wird.“126

Das Königreich Sachsen formulierte in diesem Zusammenhang in der ärztlichen Standesordnung von 1904 die Forderung, dass die Spezialärzte eine gründliche Ausbildung in ihrem Spezialfach vorweisen und sich überwiegend in demselben be-schäftigen sollen.127 Genau nachzulesen ist dieser Paragraph in Abb. 4a.

Nachdem die Entwicklung der Spezialisierung in der ärztlichen Praxis nicht mehr aufzuhalten war und sich immer mehr Spezialdisziplinen etablierten, machte 1924 der 43. Deutsche Ärztetag in Bremen

„die Facharztfrage, welche den Frieden zwischen praktischen Aerzten und Spezi-alkollegen aufs ärgste bedrohte“128,

zu einem wesentlichen Thema. Für die Seite der praktischen Ärzte sprach der Mün-chener Kustermann, während sein Kollege Stülp aus Mülheim über den Standpunkt der Fachärzte zu dieser Frage berichtete.129 Der Bremer Ärztetag brachte als vorläu-fige Lösung zur Regelung des ärztlichen Spezialistentums die auch nach den Be-richterstattern benannten „Leitsätze zur Anerkennung und praktischen Tätigkeit von Fachärzten“130, die sog. „Bremer Richtlinien“, hervor. Diese wurden für alle Standes-organisationen verbindlich und nach ihnen sollte in Facharztfragen verfahren wer-den.131 Für die Bezeichnung als Facharzt waren vierzehn Sonderfächer132 vorgese-hen. Im Allgemeinen war es unzulässig, mehr als eine dieser Disziplinen oder ein in den Leitsätzen nicht aufgeführtes Fach als Facharztbezeichnung zu führen. Darüber

125 Zit. nach Peiper 1906, 8.

126 Peiper 1906, 9.

127 Nach Rumpelt 1904, 98.

128 Salomon 1924, 963.

129 Bergeat 1924, 926-927.

130 Kustermann und Stuelp 1923, 117-120. Die Leitsätze von Kustermann und Stuelp waren bereits vor ihrer Diskussion und Verabschiedung auf dem Bremer Ärztetag veröffentlicht worden, wonach sie schon im Oktober 1923 in Kraft treten sollten.

131 Neumann 1957, 279.

132 Kustermann und Stuelp hatten 1923 noch 13 Sonderfächer vorgesehen, später wurden jedoch die Harnkrankheiten als eigene Disziplin aus der Gruppe der Haut-, Harn- und Geschlechtskrankheiten herausgelöst.

hinaus wurde die Bezeichnung des Facharztes geregelt. Nicht erlaubt war der Titel

„Prakt. Arzt und Facharzt für …“ genauso wie die Bezeichnung „Badearzt und Fach-arzt für …“.

Auf Antrag des Nürnberger Mediziners Stauder beschloss der Ärztetag, dass die Be-zeichnung als Facharzt oder Arzt für ein Sonderfach ohne die notwendige Vorbildung nicht gestattet ist und dass eine solche Bezeichnung prinzipiell die Berechtigung zur Ausübung der allgemeinärztlichen praktischen Tätigkeit ausschließt.133 Außerdem machten die Bremer Richtlinien Vorgaben über die zu absolvierende Ausbildung, die für die Berechtigung, sich Facharzt zu nennen, vorausgesetzt wurde, und über die Nachweis zu führen war. Die Anerkennung als Facharzt war bei dem für den ge-planten Praxisstandort zuständigen Standesverein zu beantragen.

Einig war sich die Ärzteschaft von Beginn an in der Ablehnung einer Prüfung für Fachärzte, ebenso wenig wollte man die gesetzliche Regelung der Facharztfrage.

Man war der Meinung, sie sei

„lediglich eine ärztliche Standesfrage, die die praktischen Aerzte und die Fach-ärzte in gleicher Weise berührt und nur durch kollegiales Verständnis und durch Zusammenarbeiten beider gelöst werden kann, bei gemeinsamer Vertretung aller ärztlichen Belange innerhalb der örtlichen Standesvereine und innerhalb der gro-ßen Organisationen“.134

Um die Facharztfrage innerhalb des ärztlichen Standes regeln zu können, einigte sich der Ärztetag auf Verhaltensgrundsätze für praktische Ärzte und Fachärzte, die auch in den Leitsätzen festgehalten wurden. Man kam unter anderem überein, die Zwangsüberweisung zum Facharzt nicht einzuführen, allerdings wurden die Allge-meinmediziner aufgefordert, im Sinne ihrer Patienten rechtzeitig einen Facharzt hin-zuzuziehen. Dieser wiederum war verpflichtet, den Patienten nach erfolgter Spezial-behandlung wieder an den praktischen Arzt zurück zu überweisen. Außerdem wur-den die praktischen Ärzte und die Fachärzte dazu aufgefordert, sich bei der Durch-setzung berechtigter Interessen in den Standesvereinigungen gegenseitig zu unter-stützen.

Während des Nationalsozialismus wurden weder strukturell noch inhaltlich wesentli-che Änderungen an den Bremer Richtlinien vorgenommen.135 Mit geringen Abänderungen übernahm die Kassenärztliche Vereinigung, die 1935 für den Vollzug des Facharztwesens zuständig wurde, die Bremer Richtlinien als sog. Deutsche Facharztordnung. Als Bestandteil der „Berufsordnung für die deutschen Ärzte“136 er-ließ die Reichsärztekammer 1937 eine Facharztordnung (§§ 29 bis 34), die auch im

133 Bergeat 1924, 928.

134 Kustermann und Stuelp 1923, 120.

135 Hoppe 1997, A-2486.

136 Dtsch. Ärztebl. 67 (46), 1031-1037 (1937).

Wesentlichen die Vorschriften aus den Bremer Richtlinien von 1924 enthielt und keine weiteren Facharztgebiete aufgenommen hatte.