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Die aktuellen Verfassungsschutzberichte irritieren

Im Dokument in den ländlichen Räumen (Seite 76-80)

Flächenbundesländer – dargestellt in 13 Kurzexpertisen

6.1 Die aktuellen Verfassungsschutzberichte irritieren

Nicht erst mit dem NSU-Skandal sind die Verfassungsschutzämter in die Kritik und einzelne sogar ins Zwielicht geraten. Im Vorgriff auf die 13 landesbezogenen Exper-tisen haben wir die aktuellsten Versionen der Verfassungsschutzberichte der einzel-nen Bundesländer ausgewertet. Die (mit einer Ausnahme) 2015 veröffentlichten Be-richte beziehen sich auf das Vorjahr, weshalb die dramatische Zunahme terroristischer Gewalt gegen Flüchtlinge und Flüchtlingseinrichtungen nicht erfasst ist. Dennoch:

auch die bereits 2014 auf rund 150 Gewalttaten gegen Asylbewerberunterkünfte (2015 waren es 924 Vorgänge) angestiegene terroristische Kriminalität findet in den Berich-ten selBerich-ten Erwähnung. Gelegentlich wird zwar auf den dahinter stehenden Rassismus und einen rassistisch definierten Volksbegriff hingewiesen (ex.: Innenministerium Baden-Württemberg 2015, S. 155). Doch der gewaltsame Rechtsterrorismus findet in mehreren Länderberichten weder in Form der Brandanschläge noch im Verweis auf die Verwobenheit einzelner Ämter in den NSU-Skandal Beachtung. Insbesondere die Berichte für die Länder Baden-Württemberg und Thüringen können derzeit nur be-dingt als taugliche Quelle für eine umfassende und glaubwürdige Betrachtung des Rechtster-rorismus herangezogen werden.

In den meisten Berichten wird in allgemei-ner Form von eiallgemei-ner Verkleiallgemei-nerung der neo-nazistischen Szene (z.B. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport 2015, S. 44, Hessisches Ministerium des Inneren und für Sport 201441) berichtet.

Detailgenauer dokumentieren lediglich die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. In den Ostländern bleibt das Potenzial rechtsextremer Subkultur stabil (ex.: Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern 2015, S. 20).

Aktuell werden für Mecklenburg-Vorpommern rund 15 (ebenda) und für Brandenburg über 20 (Ministerium des Inneren und für Kommunales des Landes Branden-burg 2015, S. 80 ff.) regionale Kameradschaften, Netzwerke und Verbünde aufgelistet.

Einen deutlichen Rückgang neonazistischer Kameradschaften vermeldet allerdings Sachsen-Anhalt (Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2015, S. 24). Wenig Beachtung findet die bundesweite Renaissance rechtsextremer Fuß-ball-Fan-Szenen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt kommt gar zu der verqueren Aussage: „Es gibt keine eindeutig rechte Hooliganszene in Sachsen-Anhalt“

(ebenda, S. 33).

Mehrere Verfassungsschutzämter führen aus, dass 2014 fremdenfeindlich moti-vierte Gewaltstraftaten, darunter in der Mehrzahl Körperverletzungen, im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen seien (ex.: Bayerisches Staatsministerium des Inne-ren, für Bau und Verkehr 2015). Das stellt bestenfalls eine Momentaufnahme dar.

Die Ereignisse des Jahres 2015 werden von einem rapiden Ansteigen aller Formen von Gewaltstraftaten begleitet. Auf die doppelte Hellfeld-Dunkelfeld-Problematik sei der Vollständigkeit halber verwiesen. Zwischen Polizei und Staatsschützern auf der einen und Akteuren der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite bestehen seit jeher erhebliche Differenzen über die Bestimmung dessen, was als „fremdenfeindlich motiviert“ zu gel-ten hat. Ferner besteht auch hier die klassische Problematik, dass nicht ohne weiteres

41 Aufgrund des späten Erscheinens des Berichtes für das Jahr 2014 wird für Hessen auf den 2014 erschienenen Bericht für das Vorjahr zurückgegriffen.

Quellen

ersichtlich ist, wie sich die Zahl nicht erfasster, weil z.B. gar nicht angezeigter Gewalt-straftaten entwickelt hat.

Eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Botschaften der Verfassungsschützer und ernst zu nehmenden Insider- und Expertenwahrnehmungen besteht bezüglich des Umfangs rechtsextremer Konzerte im Bundesgebiet. Zahlreiche Landesämter des Verfassungsschutzes weisen auf einen deutlichen Rückgang tatsächlich durchgeführter Konzerte hin. (ex.: ebenda, wenngleich mit dem Zusatz, dass die durchschnittliche Besucherzahl gestiegen sei; auch: Ministerium für Inneres und Sport des Lan-des Sachsen-Anhalt 2015, S. 33). Kurioserweise scheint man im NachbarbunLan-desland Niedersachsen andere Erkenntnisse zu besitzen. Die regionalen Schwerpunkte lägen unverändert in Sachsen und Sachsen-Anhalt (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport 2015, S. 37). Geradezu aberwitzig ist die Darstellung des branden-burgischen Amtes. Stolz vermeldet man für das Jahr 2014, dass es zu sieben Auflösun-gen geplanter Konzerte gekommen sei und nur ein einziges – im Landkreis Oberhavel – stattgefunden habe (Ministerium des Inneren und für Kommunales des Landes Brandenburg 2015, S. 102). Auf der anderen Seite weist das Amt auf 23 brandenburgi-sche Bands und ein knappes Dutzend rechtsextreme Liedermacher hin (ebenda, S. 97, 99). Wird da am Ende nicht mehr musiziert? In der Suche nach Antworten auf diese ebenso naheliegende wie banale Frage werden gleich mehrere Problematiken deutlich:

• Als „Konzerte“ gelten nur Musikveranstaltungen, die offiziell angemeldet werden.

• Die brandenburgische Provinz war, wie andere ostdeutsche Gegenden auch, ein sicheres Terrain für ungenehmigte Konzerte in aufgelassenen landwirtschaftlichen Gebäuden, ehemaligen Fabriken, leeren Kuhställen und Open-Air-Veranstaltun-gen. („Was war’n datt ? Es war so laut am Wochenende.“).

• Etliche Musikbeiträge kamen unter dem Dach schwerer zu verbietender Parteiver-anstaltungen zustande.

• Kleinere Events finden zahlreich jedes Wochenende im Umfeld der Bands statt, etwa in größeren Proberäumen.42

• Brandenburgische Bands und deren mitgereiste Unterstützer gastierten in grenzna-hen Orten Polens und Tschechiens.

In der Dokumentation und in der Analyse rechtsextremer Parteien fällt auf, dass in den aktuellsten Berichten mit wenigen Ausnahmen auf einen Rückgang von Mitglieder-zahlen und Bedeutung der NPD und ihrer Jugendorganisation JN verwiesen wird (ex.:

Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen 2015, Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2015, S. 78, Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales 201443). Z.T. wird dies als 42 Über die mittlerweile sehr ausdifferenzierte rechtsextreme Musikkultur wird an anderer Stelle (S.

169 ff) ausführlicher berichtet.

43 Weder gedruckt noch als Internetquelle lag bis November 2015 für Thüringen ein Bericht für das Jahr 2014 vor. Die Darstellungen beziehen sich somit auf das Jahr 2013.

Folge staatsschützerischer Bemühungen dargestellt. Mecklenburg-Vorpommern ist das einzige Land, in dem die Partei damals noch im Landtag vertreten war. Neben Sachsen stellt dieses Bundesland unverändert eine der beiden Hochburgen dar. Bei der Europawahl erreicht die NPD jedoch auch im hohen Norden nur 3 % der Stimmen (Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern 2015, S. 49). Mit 3,2% sind die NPD-Erwartungen auch bei den Kommunalwahlen 2014 nicht erfüllt worden (ebenda). In Sachsen und in Mecklenburg-Vorpommern finden sich dennoch die meisten kommunalen Mandatsträger der Rechtsextremen. Entgegen des Trends verzeichnete die Partei in Sachsen-Anhalt 2014 – wenngleich winzige – Zuwächse bei der Zahl von Mandaten in Kommunalvertretungen (Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt 2015, S. 79). Extreme Rückgänge sind vor allem in den westlichen Bundesländern zu verzeichnen. In Bayern gelang die Verteidigung der über Tarnlisten wie die „Bürgerinitiative Ausländerstopp“ erlangten Mandate in München und in Nürnberg (Bayerisches Staatsministerium des Inneren, für Bau und Verkehr 2015, S. 111). In der Mehrzahl der westlichen Bundesländer hatte die Partei nach 2012 eher Misserfolge. Diese gehen spätestens ab 2014 auf den stark gewordenen Rechtspopulismus in Form der Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes)-Bewegung und der gerade in diesem Jahr bei Wahlen sehr erfolgreichen Partei Alternative für Deutschland (AfD) zurück. Es irritiert, dass dieser eindeutige Zusammenhang in keinem der aktuellen landesbezogenen Verfas-sungsschutzberichte Erwähnung findet.

Einige neue rechtsextreme Kleinparteien haben in einzelnen Bundesländern eine zumindest strategische Funktion und Bedeutung. Die 2013 gegründete, in ihrem Pro-gramm unverhohlen an den Nationalsozialsozialismus anknüpfende Partei Der III.

Weg (ex.: Ministerium des Inneren, für Sport und Infrastruktur Rheinland-Pfalz 2015, S. 37 ff.) hat neben der innerhalb der rechtsextremen Szene nicht unty-pischen Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen einschlägigen Parteien und Grup-pierungen auch eine Auffangfunktion für zwischenzeitlich verbotene neonazistische Kameradschaften. So überrascht es nicht, dass sich sechs der derzeit bundesweit elf44 als „Stützpunkte“ bezeichneten regionalen Gliederungen in Bayern befinden und weit-gehend den bisherigen geografischen Schwerpunkten des verbotenen „Freien Netzes Süd“ (FNS) entsprechen (Bayerisches Staatsministerium des Inneren, für Bau und Verkehr 2015, S. 114). Nach dem bayernweiten Verbot des FNS verlagerte die zugehörige „Fränkische Aktionsfront“ ihre Aktivitäten nach Plauen und gründete dort einen III.-Weg-„Stützpunkt“.

Nach der – noch mit Zustimmung ihres 2013 verstorbenen Mäzens Gerhard Frey möglich gewordenen – Fusion der Deutschen Volksunion (DVU) mit der NPD kam es unter maßgeblicher Beteiligung des Neonazis Christian Worch 2012 zur Gründung der

44 Unklar ist, wie mit der Vermeldung einzelner Neugründungen umzugehen ist. Es könnte sich aktuell auch um 14 oder 15 derartiger „Stützpunkte“ handeln.

Partei Die Rechte. Neben versprengten Angehörigen verbotener oder sich selbstauflö-sender Kameradschaften will sie auch jene ehemaligen DVU-Mitglieder binden, die den Übertritt zur NPD nicht vollziehen wollten. Das aktuelle Parteiprogramm wurde in seinen Grundzügen vom früheren Programm der DVU abgeleitet. In rund der Hälfte der Bundesländer können Aktivitäten dieser Partei nachgewiesen werden, so in Bayern (ebenda, S. 120),

Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen (Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen 2015, S. 49), in

gerin-gem Umfang in Mecklenburg-Vorpommern (Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern 2015, S. 66), Baden-Württemberg (Innenministerium Baden-Württemberg 2015, S. 208), in Brandenburg eher als „Familienbetrieb mit angeschlossenem Kreisverband“ (Ministerium des Inneren und für Kommunales des Landes Brandenburg 2015, S. 12).

In Nordrhein-Westfalen erzielte die Partei vor allem in Großstädten einzelne Man-date bei Kommunalwahlen. In Bautzen nahm eine führende Aktivistin gegen eine Asylbewerberunterkunft ihren für die NPD erzielten Stadtratssitz beim Parteiwechsel mit in die Partei Die Rechte (Staatsministerium des Innern des Freistaates Sach-sen 2015, S. 49).

Eine Sonderstellung hat die Partei Pro NRW. Diese nach dem Modell der an der Schnittstelle zwischen Neonazismus und Rechtspopulismus angesiedelten Grup-pierung „Pro Köln“ gegründete Partei ist aktuell in 19 Kommunalvertretungen mit 65 Mandaten vertreten (Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2015).

Im Dokument in den ländlichen Räumen (Seite 76-80)

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