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Deutsche Zustände – zentrale Ergebnisse der zehnjährigen Forschung über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Im Dokument in den ländlichen Räumen (Seite 36-40)

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2.6 Deutsche Zustände – zentrale Ergebnisse der zehnjährigen Forschung über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Zwischen 2002 und 2011 hat ein ForscherInnen-Team um Wilhelm Heitmeyer Deutsche Zustände beforscht und dabei vor allem Entwicklungen von Ras-sismus, Fremden- und Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Se-xismus und die Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitar-beitslosen im Zehnjahresverlauf festgehalten. Eine weitere Dimension stellt die Betrachtung des Beharrens und Einforderns von „Etabliertenvorrechten“12 dar.

Eine Gemeinsamkeit der beforschten Jahre ist Entsicherung, die aus einer Vielzahl krisenhafter Entwicklungen resultiert, wie etwa den Kontrollverlusten der Politik ge-genüber dem Finanzkapital, der Undurchschaubarkeit der Finanzkrisen, Unkalku-lierbarkeiten im Markt- und Weltgeschehen (Heitmeyer u.a. 2010 a, S. 19). Die reale und auch die gefühlte Entsicherung verbindet sich mit einer politischen und kultu-rellen Richtungslosigkeit, die ihren Ausdruck in fehlenden politischen Debatten, der Beschleunigung von Entscheidungsabfolgen und einem Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts findet (ebenda, S. 20). Bekannte Reaktionsmuster sind:

• die Aufspaltung der gesellschaftlichen Realität in eine gesellschaftliche und eine individualistische Sphäre,

• kollektive Schuldzuweisungen und

• Moralisierung in dem Sinne: „Wenn die Politik nichts tut / mich im Stich lässt, ist (mir) alles erlaubt“ (hierzu ausführlich: Zick / Lobitz / Gross 2010, in: ebenda, S. 72 ff).

• Der ständige Krisendruck erzeugt eine Sehnsucht nach Beruhigung (Heitmeyer u.a. 2015, S. 24). Dem Bedürfnis nach Reduktion verwirrender Komplexität kom-men die Anbieter autoritärer, rechtspopulistischer oder gar rechtsextremer Lö-sungsmuster entgegen.

Die Befunde der leider mit Ergebnissen aus dem Jahr 2011 zu Ende gehenden Studie signalisieren keine Entwarnung. Nach einer geringen Abnahme in den „mittleren Er-hebungsjahren“ nahmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie die Abwertung missliebiger Gruppen wie Behinderter, Obdach- und Langzeitarbeitsloser wieder zu.

Islamfeindlichkeit blieb auf demselben Niveau.13 Zu den Ergebnissen im Zehnjahresverlauf im Einzelnen:

• Sexistische Einstellungen haben zwischen 2002 und 2011 deutlich abgenommen.

12 Beim Begriff „Etabliertenvorrechte“ geht es um die Frage, inwieweit Menschen der Meinung sind, dass bei der Vergabe von Ressourcen „Alteingesessene“ bzw. „Deutsche“ bevorzugt berücksichtigt werden sollten.

13 Wie auf Seite 18 in Fußnote 8 bereits erwähnt, haben die weltpolitischen Ereignisse seit dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ die Islamangst und -feindlichkeit wieder deutlich ansteigen lassen.

• Auch antisemitische Einstellungen haben im Verlauf der Forschungen abgenom-men. 2002 war mehr als jeder fünfte Befragte der Meinung, dass Juden zu viel Ein-fluss in Deutschland hätten. 2011 vertraten nur noch 13% der Befragten diese Mei-nung (ebenda, S. 38).

• Fremdenfeindlichkeit wird in diesen Forschungen als Überfremdungsangst sowie in Konkurrenz um knappe Ressourcen erfasst. Der Einschätzung, dass in Deutsch-land zu viele Ausländer lebten, stimmten 2002 fast 55% der Befragten zu. Die Zu-stimmungsquote fiel bis 2009 auf 45,8% und hatte 2011 wieder zugenommen (47,1%) (ebenda).

• Nach einer geringen Abnahme der Islamfeindlichkeit erreichte diese in den Jahren 2010 und 2011 wieder annähernd das Niveau der Ausgangsjahre.12

• Eindeutig rassistische Haltungen blieben im Zeitverlauf relativ stabil. Jeder achte Befragte sah Weiße zu Recht in einer führenden Position in der Welt.

• Ebenfalls stabil blieben diskriminierende Haltungen gegenüber behinderten Men-schen und Obdachlosen.

• Die Ablehnung von Langzeitarbeitslosen ist in den beiden letzten beforschten Jah-ren wieder angestiegen. Das Niveau der Abwertung von Langzeitarbeitslosen über-stieg unter den Befragten mit höheren Einkommen dasjenige unter den Armen (Heitmeyer u.a. 2015, S. 28). Heitmeyer (2012, in: Heitmeyer u.a. 2015, S. 35) sieht darin einen Ausdruck roher Bürger-lichkeit. Es gehe offenkundig darum, eigene soziale Privilegien durch die Abwertung und Desintegration von als „nutzlos“ etikettier-ten Menschen zu sichern oder auszubauen (ebenda). Die Ergebnisse zu Etabliertenvorrechten sind in den ersten Jahren bis 2007 stark angestiegen, dann gesunken, um 2010 wieder ein hohes Niveau zu er-reichen.

• Zick, Hövermann und Krause nahmen 2012 (Heitmeyer u.a. 2015, S. 64 ff) in einem gesonderten Beitrag die Gruppe der Asylbewerber hinzu. Dem Item „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“ stimmten 2011 31,7% „eher zu“ und 15,0“ „voll und ganz zu“ (ebenda, S. 67).

Als gemeinsamer und verbindender Kern wird eine Ideologie der Ungleichheit iden-tifiziert, die alle beforschten Dimensionen prägt. Die Querauswertung von Susanne Johansson (2011) enthält interessante übergreifende Befunde: Mit Blick auf fremden-feindliche Haltungen von Frauen wird festgestellt, dass insbesondere niedrig qualifi-zierte Frauen aus Ostdeutschland fremdenfeindlichen, islamophoben und rassistischen Aussagen zustimmen. Dieser Befund wird damit erklärt, dass die Gruppe niedrig qua-lifizierter ostdeutscher Frauen in besonderem Maße von sozialer Desintegration be-droht ist (ebenda, S. 267). Männer sind antisemitischer eingestellt als Frauen. Dabei finden klassisch antisemitische Einstellungen im Westen höhere Zustimmung (ebenda,

Ideologie

S. 268). Diejenigen, die sich subjektiv von der (ökonomischen, arbeitsmarktbezoge-nen) Krise bedroht fühlen, stimmen antisemitischen Äußerungen eher zu als Befragte, die sich weniger stark von der Krise betroffen oder gefährdet fühlen (ebenda).

Mit Blick auf die neueren Entwicklungen beschreibt Zick (2015) eine „massive Pola-risierung“ der deutschen Gesellschaft. Die derzeitigen Demonstrationen und Debatten machen deutlich, dass einerseits eine starke Wut auf Flüchtlinge und andererseits eine große Solidarität mit Flüchtlingen vorhanden ist. Bei einer Umfrage sagten 2011 42%

der Befragten „Die meisten Asylbewerber werden gar nicht verfolgt“ (ebenda). Ferner ist die Zahl der gewaltsamen Übergriffe auf Fluchtunterkünfte massiv gestiegen. Ande-rerseits kommt es zu einer Vielzahl solidarischer Handlungen. Doch wie willkommen sind MigrantInnen denn nun wirklich? Zick (ebenda) konstatiert: „36% plädieren für eine stärkere Willkommenskultur und 31% lehnen diese ab. 54,7% finden es gut, wenn sich MigrantInnen in Deutschland zu Hause fühlen, doch nur 35,9% gefällt es, dass sich so viele MigrantInnen für Deutschland als neue Heimat entscheiden“.

Bei Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, Rassismus sowie der Abwertung von Ob-dachlosen und Behinderten sind die Werte zwischen 2002 und 2010 in den Neuen Ländern stabil höher als in Westdeutschland (ebenda, S. 269). Weiterhin zeigen sich in Ostdeutschland vergleichsweise höhere Zustimmungen zu Gewaltbilligung, Gewaltbe-reitschaft und zu rechtspopulistischen Einstellungen (von Gosomski / Küpper / Heit-meyer 2007, in: HeitHeit-meyer u.a. 2007, S. 102 ff.).

Junge Männer zwischen 16 und 21 Jahren sind besonders gewaltgeneigt. Das „Um-schlagen“ von fremdenfeindlichen Einstellungen in Gewalthandlungen wird bestärkt, wenn im Sozialraum ein gewaltunterstützendes bzw. -akzeptierendes Klima vorhanden ist (Johansson 2011, S. 269).

2.7 Zwischenbewertung

Im Zwischenresümee der Landjugendstudie 2009 bilanzierten wir:

„Im europäischen Vergleich wird deutlich, dass nationalistische, chauvinistische und rechtsextreme Strömungen, Parteien und Jugendkulturen ein Produkt der Moderne sind. Das Entstehen der zugrunde liegenden Einstellungen geht auf verschiedenartige Einflussgrößen zurück. Monofaktorielle Erklärungsansätze greifen meist zu kurz und führen insbesondere bei der Debatte um und der Entwicklung von gesellschaftliche(n) Gegenstrategie(n) in die Irre.“

Diese Sichtweise hat nichts an Aktualität verloren. Die Komplexität der Darstellung ist, wenngleich erhellend, durch die grundlegenden Arbeiten an der Langzeitforschung über die „Deutschen Zustände“ (Heitmeyer u.a. 2002 bis 2012, 2015) noch deutlich erweitert worden.

Bedrohungsängste und sich schleichend entwickelnde Orientierungslosigkeit be-fördern in Verbindung mit markanten Schlüsselerlebnissen Gewalt und Menschen-feindlichkeit. Damit ist sicher eines der Grundanliegen des Langzeit-Forschungspro-jektes „Deutsche Zustände“ nur teilweise realisiert worden, nämlich die Beschreibung einer Befindlichkeitslage der Bevölkerung unabhängig von dramatischen Ereignissen (Heitmeyer u.a. 2002, S. 109).

Umgekehrt kann vermutet werden, dass das Leben in einer gefährdungsarmen, ent-spannten, soziale Sicherheit ausstrahlenden und fühlbare Mitwirkung gewährenden Demokratie die wohl bestmögliche Form der Eindämmung von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus darstellt.

Unverändert plädieren wir dafür, dass vor dem Hintergrund der Bedeutung indivi-dueller Bedingungen des Aufwachsens die Resultate der neuen Autoritätsforschung in-nerhalb der Vielzahl unterschiedlicher, sich zum Teil widersprechender Erklärungsan-sätze wieder verstärkt Berücksichtigung finden sollten. Dies hat vor dem Hintergrund der Frage zu geschehen, wie frühkindliche und schulische Bildung auf die Herausfor-derungen eingehen, die aus dem Sozialisationsprozess innerhalb autoritärer Milieus resultieren.

Die von Heitmeyer geprägte Forschung und die daraus abgeleiteten Positionierun-gen nehmen auf der lanPositionierun-gen Entwicklungslinie zwischen der „Bielefelder Rechtsextre-mismusstudie“ und der chronologischen Darstellung „Deutsche Zustände“ im Wissen-schaftsdiskurs und in der öffentlichen Wahrnehmung zu Recht eine führende Position ein, auch wenn nicht allen praxisbezogenen Folgerungen zugestimmt werden muss.

Bei der Suche nach Ursachen für Rechtsextremismus werden Geschlechterfragen heute weniger stark ausgeblendet als in den 1990er Jahren. Dieser Umstand geht in er-heblichem Maße auf die wissenschaftlichen Beiträge Birgit Rommelspachers zurück.

Sie hat stets darauf Wert gelegt, das weibliche Geschlecht nicht alleine deshalb aus der Verantwortung zu nehmen, weil Frauen unverändert weniger häufig rechtsextrem wäh-len und in geringerem Maß an rechtsextrem begründeten Gewalttaten beteiligt sind.

Als der letzte Band der „Deutschen Zustände“ in den Druck ging, kamen – im Herbst 2011 – erste Erkenntnisse über die Morde des NSU ans Licht. Das Morden des Islamischen Staates und die daraus resultierenden Fluchtentwicklungen haben die Ak-zeptanz des Islam in unserer Gesellschaft verringert. Neue rechtspopulistische Parteien und Bewegungen haben sich in den Jahren nach den Forschungen zu „Gruppenbezoge-ner Menschenfeindlichkeit“ etabliert.

Jede Forschung, auch wenn sie auf eine vollständige Dekade ausgerichtet ist, ver-liert durch den Fortgang der Geschichte einen Teil ihrer Aktualität. Obsolet wird sie nicht, denn ihre Bedeutung liegt im Verweis auf die relative Konstanz von auf Un-gleichheit ausgerichteten Haltungen.

Zick (2015) beschreibt folgende Einstellungscluster hinsichtlich des Rechtsextre-mismus: die aktiven Gegner, die passiv Besorgten, „Vogel Strauß“ („am Anfang hat mich das aufgeregt, jetzt schaue ich weg“), die selbstbewussten Beobachter, die

ängst-lich Überforderten und die überzeugten Rechtsaffinen. Gegnerschaft artikuliert sich sowohl in den „radikalen Spaziergängen“ als auch „hinter den Gardinen“. Diese „Spa-ziergänge“ halten ein Aktionsangebot bereit, in dem das Wir-Gefühl und gemeinsam geteilte Emotionen im Vordergrund stehen. Berichte, hetzerische Artikel, nationale Feste und andere Erlebniswelten haben verstärkende Funktionen. Noch ist die Schwä-che der Rechtsextremisten und Rechtspopulisten ihre Heterogenität. Andererseits führt diese dazu, dass sich verschiedene Gruppen mit dem ausländerfeindlichen Hass identifizieren können. Das sind etwa Sympathisanten, Mobilisierer, lokale Aktivisten gegen Asylunterkünfte, Organisatoren und Ordner, radikale Rechte, gewaltbereite Fußballfans, Nationalsozialisten und andere. „Hinter den Gardinen“ bezeichnet Men-schen, deren rechtsextreme Einstellungen unterschiedlich entwickelt sind und deren Motive sich unterscheiden können (Verharmlosung des NS-Regimes, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Befürwortung rechtsgerichteter Diktatu-ren usw.). Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie nicht an Demonstrationen und an-deren Aktionen teilnehmen.

Rechte Einstellungen finden sich am häufigsten bei den 16- bis 30- und über 60-Jäh-rigen. Für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, so Zick (2015), stehen in moder-nen Gesellschaften vielfältige Modelle bereit. Schon früh sind beispielsweise Kinder mit Aussagen konfrontiert wie: „Wer Arbeit sucht, der findet auch welche!“

Im Dokument in den ländlichen Räumen (Seite 36-40)

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