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3. Theoretischer Rahmen

3.3 Paradigmen der Lehrerprofessionalisierungsforschung

3.3.3 Das Expertenparadigma

Das Expertenparadigma wird als Erweiterung des vorangegangenen Schemas gesehen (TERHART 2007, S. 21) und rückt zusätzlich die Lehrerfahrung in den Fokus der Forschungen zum guten Lehrer. Nach BROMME (2001) rückt die Lehrperson in ihrer Gesamtheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, da nun auch die Modalitäten der Entwicklung von Wissen und Können näher betrachtet werden. Insofern muss von domänenspezifischer Expertise gesprochen werden. Die fehlende Implementierung der unterrichtlichen Lehrer-Schüler-Interaktionen, die ein Defizit im Prozess-Produkt-Paradigma darstellt, wird im Expertenparadigma berücksichtigt. Im Fokus des Expertiseansatzes steht der Kompetenzvergleich von Novizenlehrkräften mit erfahrenen und erfolgreichen Lehrpersonen. Als Novizen werden Personen bezeichnet, die keine Expertise bei

der Ausführung von (Lehr-) Tätigkeiten haben und noch nicht auf Berufserfahrung zurückgreifen können. Eine Expertin im pädagogischen Kontext ist nach BROMME (2008) eine Lehrkraft dann, wenn sie das in der Ausbildung domänenspezifisch erworbene Wissen und Können durch reflektierte Praxiserfahrung erweitert. Dass Berufserfahrung als Kriterium für Expertise in der Praxis unter Umständen skeptisch gesehen werden kann, wurde durch die COACTIV-Studie (Kap. 2) empirisch belegt. Nach GRUBER UND MANDL sind Experten im Vergleich zu Novizen „besser, schneller, fehlerfreier, kontrollierter, flexibler, erinnerungsstärker, sie haben ein Wissensvorsprung, treffen hervorragende Problemlöseentscheidungen [und] nehmen Problemreize besser wahr […].” (1996, S. 585). Wobei Grenzen bei der Messbarkeit von Expertise als Merkmal angemerkt werden müssen, da Begriffe wie „besser”, „kontrollierter” oder

„erinnerungsschneller“ qualitativer Natur sind. Die Expertisekriterien nach GRUBER UND MANDL lassen schlussfolgern, dass Experten im Vergleich zu Berufseinsteigern aufgrund derer fehlenden Berufserfahrung aus einem größerem unterrichtlichen Know-how schöpfen können, welches obige Attributszuschreibungen für Experten rechtfertigen und plausibel erscheinen lässt.

Tatsächliche, echte Expertise im Lehrberuf kennzeichnet aber, dass Wissen und Können von der Lehrkraft auch noch permanent situativ fehlerfrei angewendet werden muss. Weitere bedeutsame Variablen, die bei den beiden anderen Paradigmen vernachlässigt werden, im Expertiseansatz aber berücksichtigt werden könnten, sind beispielsweise die Berücksichtigung der Geschwindigkeit und der Tiefgang bei der Umsetzung von (pädagogischen) Schlüsselqualifikationen wie Flexibilität oder strategische Variabilität in der Unterrichtsgestaltung. Diese müssten sich bei Novizen und Experten deutlich unterscheiden.

BROMME (1992) nennt nennt zusätzlich zu den Kriterien von GRUBER UND MANDL (1996) die Fähigkeit, der Unterrichtsstunde eine Struktur zu verleihen als wesentliches Merkmal einer Expertenlehrkraft: Sie sei wichtig, da sie dem Unterricht ein jeweils angemessenes zeitliches, inhaltliches und soziales Gerüst als Orientierungsrahmen für Lehrkräfte und Lerner schafft.

BERLINER (2001, S. 472; 2004, S. 200 f.) stellt eine Liste von Merkmalen zusammen, die die Arbeit eines Expertenlehrers charakterisieren sollten: Expertenlehrer

 sind immer nur in ihren Fächern und in bestimmten Kontexten herausragend

 entwickeln Automatismen für diejenigen wiederkehren Handlungen, die für die Ziel-erreichung notwendig sind

 sind ‚opportunistischer‘ und flexibler im Unterricht als Anfänger

 berücksichtigen eher die Eigenart der gestellten Aufgaben und des sozialen Umfeldes beim Problemlösen

 vergegenwärtigen sich berufliche Handlungsprobleme in qualitativ anderer Weise als Anfänger

 verfügen über adäquatere und schneller einsetzbare Fähigkeiten der Erkennung von Mustern in Unterrichtssituationen

 erkennen mehr bedeutsame Muster in denjenigen Bereichen, in denen sie über Erfah-rungen verfügen

 beginnen vielleicht einen Problemlöseprozess langsamer als Anfänger, sie wenden je-doch reichhaltigere und auf persönlichen Erfahrungen begründete Informationen auf die zu lösenden beruflichen Probleme an.

In der Wissenschaft werden Phasenmodelle zur Erklärung von Expertiseentwicklung angewendet, die sich in ihrer Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten unterscheiden.

Gemeinsam ist allen, dass der Weg hin zu professioneller Berufsausübung einem kumulativen und lang andauerndem Prozess entspricht. FULLER UND BROWN (1975) nennen drei Stufen:

survival stage, mastery stage und routine stage. DE JONG UND FERGUSSON-HESSLER (1986, S. 279 ff.) unterscheiden in good novices, poor novices and experts. PATEL UND GROEN (1991) untergliedern in sechs Phasen: layperson, beginner, novice, intermidiate, semiexpert und expert.

Das Modell von HUBERMAN (1991, S. 249) koppelt Expertiseentwicklung an das Dienstalter von Lehrkräften. Als Einstiegsphase in den Beruf werden die ersten drei Jahre gesehen. Die Jahre 4–30 werden als Stabilisierungsphase bezeichnet, innerhalb derer die Lehrkraft durch Praxiserfahrung Grundhaltungen entwickelt und je nach Erfahrung im Laufe der Zeit verändert.

Diese Grundhaltungen können nachHUBERMAN sowohl auf Gelassenheit und Distanz oder auch auf Konservatismus hinauslaufen. Sehr erfahrene Lehrkräfte befänden sich in den Dienstjahren 30–40 bereits auf dem „Rückzug”. Dieser gehe entweder mit Gelassenheit und Abstand zur Sache einher oder rufe bei negativen Lehrerfahrungen Verbitterung hervor.

DREYFUS UND DREYFUS (1988) entwickelten die Five Stages of Skill Acquisition. Dieses Modell ist an die Kognitionspsychologie angelehnt und differenziert den Expertiseentwicklungsprozess in fünf Stufen aus. Es wurde von BERLINER (2001, 2004) für den Lehrberuf adaptiert. Das Modell gibt in dieser Studie eine Orientierung für das Sampling, um das Prinzip der maximalen Varianz schlüssig und begründet umsetzen zu können, weil es differenzierter ist als die anderen, oben vorgestellten Stufenmodelle.

Stage Skill level Components Perspective Decision Commitment

5 Expert Context-free

and situational Experienced Intuitive Involved

4 Proficient Context-free

and situational Experienced Analytical

Involved under-standing.

Deta-ched deciding.

3 Competent Context-free Chosen Analytical

Detached

and situational None Analytical Detached

1 Novice Context-free None Analytical Detached

Tab 1: Five Stages of Skill Acquisition

(verändert nach DREYFUS &DREYFUS 1988, S. 50)

Die inhaltliche Auslegung der Stufen soll im Folgenden umrissen werden:

Stadium Beschreibung des Entwicklungsstandes

Experte (Experte, Meister)

 ist in der Lage, gemäß der Definition von GRUBER UND MANDL (1996, S. 7) zu reagieren,

 kann nach dem Vergleich der unterrichtlichen Situation sofort die jeweils vorliegende Struktur intuitiv analysieren und schnell, scheinbar ohne Mühen reagieren,

 erfahrungsbasierte automatisierte Handlungsmuster ersetzen regelhaftes Verhalten, deren Nachvollziehbarkeit von außen quasi unmöglich ist,

 Reflexion der eigenen Handlungen nur dann, wenn unerwartete Ereignisse den gewohnten Ablauf stören,

 situatives Wissen absolut dominant, deklaratives Wissen ist quasi verinnerlicht

Proficient (gewandt Handelnder,

erfahrene Fachkraft)

 diese hochentwickelte Stufe erreichen weit weniger Lehrkräfte als die ersten drei,

 ist in der Lage, unterrichtliche Situationen ganzheitlich, schnell, zielgerichtet und effektiv wahrzunehmen,

 das Wissen über Regeln wird nicht mehr bewusst, sondern häufig intuitiv eingesetzt, es verschmilzt mit der praktischen Berufserfahrung, Fallwissen (darüber verfügen Novizen auf-grund fehlender Erfahrung nicht),

 ist in der Lage, Ähnlichkeiten in unterrichtlichen Strukturen zu vergleichen,

 Handlungsmuster ersetzen allmählich das regelgeleitete Un-terrichten, automatisierte Handlungsabläufe,

 situatives Wissen tritt in den Vordergrund, deklaratives Wis-sen wird aber noch für die bewusste Entwicklung von Prob-lemlösestrategien gebraucht

Competent (kompetent

Handeln-der, Fachkraft)

 erste fünf Berufsjahre nach der Ausbildung, volle Verantwor-tung für unterrichtliche Planungs- und Entscheidungspro-zesse,

 ist erfahrungsbasiert bereits in der Lage, flexibler und gewand-ter auf Ungewand-terrichtssituationen zur reagieren,

 häufig fehlt immer noch die Fähigkeit, Strukturen zu erkennen und zu nutzen,

 Aufbau von ersten Handlungsmustern, aber Geschwindigkeit und Flexibilität bei der Handlungsausübung fehlen noch,

 prozedurales und sensomotorisches Wissen als Ergänzung des deklarativen und situativen Wissens,

 verfügt über erste unterrichtspraktische (reflektierte) Erfahrun-gen und verknüpft sie mit seinem Professionswissen,

 beginnt, flexibler in Unterrichtssituationen zu reagieren,

 ist vereinzelt bereits in der Lage, bedeutsame Einzelsituatio-nen,

 herauszufiltern und auf diese Einzelereignisse angemessen zu reagieren,

 entscheidet aber noch nicht in alleiniger Verantwortung über seinen Unterricht

 ist noch nicht in der Lage, die Komplexität unterrichtlicher Si-tuationen angemessen wahrzunehmen,

 stark fokussiert auf Unterrichtsdetails,

 reagiert rein rational, kaum flexibel,

 stark empfänglich für rezeptartiges Wissen,

 nur deklaratives Wissen ist vorhanden Tab. 2: Entwicklung von Lehrerexpertise

(eigener Entwurf nach DREYFUS & DREYFUS (1988) und BERLINER (2004))

DREYFUS UND DREYFUS (1988) ergänzten in ihrem Modell noch eine sogenannte Stufe 5b und bezeichneten sie als Flow: Die sogenannte fortgeschrittene Stufe des Experten charakterisiert, dass die Lehrperson völlig kontextfrei, rein erfahrungsbasiert und intuitiv handelt, aufgrund ihres reichhaltigen, langjährigen, bewährten Erfahrungsschatzes allerdings auch nicht mehr über ihr Handeln reflektiert (reflektieren möchte). BERLINER (2004) nennt als wesentliche Ergebnisse der Entwicklung von Expertise die immer intensivere Vernetzung von Wissen, eine veränderte, bessere Wahrnehmung von unterrichtlichen Situationen und deren zunehmende, auf Erfahrung beruhende individuelle Interpretation sowie die Zunahme an Flexibilität, Geschwindigkeit und Variationsbreite an unterrichtlichem Know-how. Gleichzeitig schreitet die Automatisierung von grundlegenden Handlungsabläufen voran. Es sollte aufgrund des fünfstufigen ausführlichen Modells von DREYFUS UND DREYFUS (1988) möglich sein, ein Sampling (5.2.4) zu entwickeln, welches die Ergebnisauswertung zur Beantwortung der Nebenfrage 5 (Kap. 7) valide macht. Gilt also der Satz: Übung und Wiederholung machen den Meister auch für Lehrkräfte? Nicht zwangsläufig, da die Lehrkraft in ihrer Berufsdomäne eben nicht innerhalb einer Unterrichts-sequenz mit immer gleichen Situationen konfrontiert wird, die Handlungsroutine höchsten Maßes erlauben und damit automatisch Freiräume für einen flexiblen Umgang mit Schüler-vorstellungen eröffnet. Vielmehr sieht sie sich in ihrem täglichen Unterrichtsgeschäft mit inkonsistenten, permanent variierenden mehrdimensionalen Aufgabenstellungen konfrontiert.

Dies wiederum lassen die Skepsis, ob eine Lehrkraft langjährige Berufserfahrung quasi per se zum Experten im Umgang mit Schülervorstellungen macht, berechtigt erscheinen. Dass eine Lehrkraft zur Expertin allein durch die steigende Anzahl an Dienstjahren wird, wird (neben den diesbezüglichen empirisch fundierten Ergebnissen von COACTIV, Kap. 2) von Professionali-sierungsforschenden und -experten angezweifelt (BROMME & HAAG 2004; LIPOWSKY 2006).

HUNTER UND HUNTER (1984) stellten in einer berufsübergreifenden quantitativen Metaanalyse fest, dass bei Novizen (0-3 Jahre) die Korrelation zwischen Berufserfahrung und Leistung relativ hoch (r=49) ist, diese jedoch mit zunehmender Berufserfahrung (ab 12 Jahren) signifikant abnimmt (r=15). Zurückzuführen sei dies auf den kumulierten Lerneffekt im Novizenstadium.

Eine permanente qualitative Weiterarbeit an bereits vorhandener Expertise sowie deren Vertiefung und Ausweitung (QUINONES,FORD &TEACHOUT 1995) sei zwingend erforderlich, um das Expertenstadium nach DREYFUS &DREYFUS (1988, S. 50) tatsächlich zu erreichen. Dies schließt eine permanente, konsequente, reflexive Arbeit an eigenen Schwächen ein. Sehr hilfreich wäre hierfür beispielsweise ein Austausch und eine Feedbackkultur zwischen Fachdidaktik-Experten und Lehrkräften. Rein routiniertem und nicht reflektiertem Handeln, welches die Expertenstufe nach DREYFUS UND DREYFUS (ebd.) kennzeichnet, könnte somit entgegengewirkt werden. Nicht

die Dauer der Berufsausübung allein steigert die Unterrichtsqualität, sondern sie muss mit einer qualitativ hochwertigen, ständigen Reflexionsarbeit verknüpft sein.