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I. Besonderheiten des Ordnungswidrigkeitenrechts

4. Das Bußgeldverfahren

Für das Bußgeldverfahren zur Verfolgung von Kartellordnungswidrigkeiten gelten nach

§ 46 Abs. 1 OWiG sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, namentlich die Strafprozeßordnung (StPO), das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und das Jugendgerichtsgesetz (JGG), soweit das Ordnungswidrigkeitengesetz nichts anderes bestimmt.252

Das Bußgeldverfahren wird nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 158 StPO ent-weder von Amts wegen oder auf Anzeige eingeleitet. Eine Einleitung von Amts wegen kommt z. B. in Betracht, wenn die Kartellbehörde aus Pressemitteilungen Anhaltspunkte erhält, die auf einen Verstoß deuten, oder wenn sich im kartellrechtlichen Verwaltungsverfahren solche

246 Göhler § 14, Rdnr. 6; Lemke § 14, Rdnr. 8.

247 Göhler § 14, Rdnr. 2; Rosenkötter, Rdnr. 132; zumindest mißverständlich Langen/Kollmorgen, 9.

Aufl., § 81, Rdnr. 19: "Aus dem in § 14 Abs. 1 OWiG normierten einheitlichen Täterbegriff, der strafrechtliche Unterscheidung zwischen Täter, Anstifter und Ge hilfen aufgibt, folgt eine Ausdeh-nung des Täterkreises über § 9 OWiG hinaus."

248 BGHSt 31, 309, 311 m. w. N.; ferner FK-Achenbach, Vorbem. §§ 38-39, Rdnr. 47; Lemke § 14, Rdnr. 3ff.

; Göhler § 14, Rdnr. 3, 5ff.; Schreven in Müller/Gießler/Scholz GWB § 38, Rdnr. 5; KKOWiG-Rengier, 2. Aufl., § 14, Rdnr. 5ff., besonders Rdrn. 8; Rosenkötter, Rdnr. 136a, 136b.

249 Vgl. FK-Achenbach, 46. Lfg., September 2000, Vorbem. § 81 GWB 1999, Rdnr. 61, 64 m. N.

250 Vgl. Schreven in Müller/Gießler/Scholz GWB § 38, Rdnr. 5; Göhler § 14, Rdnr. 4.

251 Lemke § 14, Rdnr. 8; Wiedemann/Klusmann, Hdb. KartellR, § 55, Rdnr. 32; Rosenkötter, Rdnr. 135;

Göhler § 14, Rdnr. 11, 12a.

252 Vgl. Göhler § 46, Rdnr. 1ff; Immenga/Mestmäcker-Tiedemann Vor § 81, Rdnr. 6; Bechtold, 2. Aufl., § 59, Rdnr. 2; Wiedemann/Werner, Hdb. KartellR, § 52, Rdnr. 5.

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Hinweise ergeben.253 Eine Anzeige, die auch anonym erfolgen kann, verpflichtet die Kartellbehörde, den Sachverhalt soweit zu erforschen, daß abgeschätzt werden kann, ob ein Verstoß vorliegt und ob ein Einschreiten geboten ist.254 Eine förmliche Eröffnungsverfügung ist im Bußgeldverfahren nicht erforderlich.255 Mit der Einleitung des Verfahrens durch die erste, erkennbar auf ein Bußgeldverfahren gerichtete behördliche Maßnahme erhält der Verdächtige die Verfahrensstellung des "Betroffenen", unabhängig von seiner Kenntnis, daß gegen ihn ermittelt wird.256 Ein Aktenvermerk über die Eröffnung eines Verfahrens ist nicht vorgeschrieben. Beteiligt am Bußgeldverfahren ist derjenige, in dessen Rechte eingegriffen wer-den kann. Dies sind neben dem Betroffenen die Nebenbeteiligten, z. B. ein Unternehmen, gegen das nach § 30 OWiG die Verhängung einer Geldbuße als Nebenfolge in Betracht kommt.257 Auch der Verteidiger des Betroffenen ist Beteiligter.258

Zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten ist nach § 35 OWiG regelmäßig die Verwaltungsbehörde zuständig.259 Nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, § 81 Abs. 4 GWB (§ 81 GWB a. F.), § 48 GWB (§ 44 GWB a. F.) sind die Kartellbehörden bei Kartellordnungswidrigkeiten sachlich zuständig.260 Kartellbehörden sind nach § 48 GWB der Bundesminister für Wirtschaft, das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden. Das Bundeskartellamt ist nach § 48 Abs. 2 S. 1 GWB insbesondere dann sachlich zuständig, wenn eine wettbewerbsbeeinflussende Maßnahme über das Gebiet eines Bundeslandes hinaus Wirkungen zeigt. In allen übrigen Fällen ist nach § 48 Abs. 2 S. 2 GWB die Landeskartellbe-hörde zuständig.

Im Gegensatz zum Strafverfahren, in dem das Legalitätsprinzip261 herrscht, gilt für das Bußgeldverfahren nach § 47 Abs. 1 OWiG der Opportunitätsgrundsatz.262 Danach steht es im pflichtgemäßen Ermessen der Kartellbehörde,263 ob und in welchem Umfang bekannt gewordene Kartellordnungswidrigkeiten verfolgt werden.264 Die Kartellbehörde kann das

253 Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 23.

254 Vgl. FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 36; Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 26.

255 Immenga/Mestmäcker-Schmidt, 2. Aufl., Vor § 51, Rdnr. 4.

256 Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 11: "Das äußere Tätigwerden der Behörde setzt das Verfahren in Gang." Vgl. auch Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 26, 46; FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 42.

257 Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 20.

258 Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 22.

259 Sog. Primärzuständigkeit der Verwaltungsbehörde, vgl. Lemke § 35, Rdnr. 1; Rosenkötter, Rdnr. 233.

260 Einen Überblick zum Bußgeldverfahren gibt Immenga/Mestmäcker-Tiedemann § 81, Rdnr. 16ff.; vgl.

auch FK-Wrage-Molkenthin § 81, Rdnr. 21ff.; Wiedemann/Klusmann, Hdb. KartellR, § 57, Rdnr. 1;

Müller-Gugenberger, Hdb. Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., § 16, Rdnr. 6.

261 Nach § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, bei ausreichendem Tatverdacht wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten; vgl. Rosenkötter, Rdnr. 246.

262 Das in § 47 Abs. 1 S. 1 OWiG verankerte Opportunitätsprinzip besagt, daß die Verfolgungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden hat, ob sie eine Ordnungswidrigkeit verfolgt;

sie kann die Verfolgung auch tatsächlich oder rechtlich beschränken, d. h. unwesentliche Tatteile oder Rechtsverletzungen nicht ahnden; vgl. Rosenkötter, Rdnr. 246; Göhler § 47, Rdnr. 1ff; FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 22ff.

263 Vgl. Bechtold, 1. Aufl., Vor § 81, Rdnr. 2; Immenga/Mestmäcker-Tiedemann § 81, Rdnr. 23.

264 Zu Bedeutung und Reichweite des Opportunitätsprinzips beim kartellrechtlichen Bußgeldverfahren vgl. Immenga/Mestmäcker-Tiedemann § 81, Rdnr. 19; Fischötter im GK Vorbem. Ordnungswidrig-keiten, Rdnr. 9; Langen/Kollmorgen, 9. Aufl., § 81, Rdnr. 33ff.

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Verfahren zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit einstellen,265 bei geringfügigen Verstößen eine Verwarnung aussprechen oder einen Bußgeldbescheid erteilen. Es ist eine Abwägung nach Zweckmäßigkeitskriterien vorzunehmen. Die Auswirkungen von Ordnungsverstößen auf das geschützte Rechtsgut sind zu bedenken; der Sühnegedanke tritt bei Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich in den Hintergrund.266 Auch der zu erwartende Ermittlungsaufwand im Verhältnis zu dem wahrscheinlichen Ergebnis ist zu beachten,267 ferner das Verhalten des Betroffenen nach der Tat, z. B. ob beanstandete Verstöße abgestellt wurden.268 Das Erfordernis der pflichtgemäßen Ermessensausübung soll willkürliches Entscheiden der Verwaltung ausschließen, d. h. vergleichbare Fälle sind auch vergleichbar zu behandeln.269 Um schwerwiegendere Kartellverstöße aufzuklären, kann es in Betracht kommen, dem Betroffenen zuzusagen, leichtere Verstöße nicht zu verfolgen, bzw. diese Verfahren einzustellen.270

Nach § 46 Abs. 2 OWiG hat die Kartellbehörde als Verfolgungsbehörde grundsätzlich dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten;271 d. h. sie kann eigene Ermittlungen anstellen, einen richterlichen Durchsu-chungsbeschluß erwirken, Unterlagen beschlagnahmen und Betroffene, Zeugen und Sachverständige vorladen und vernehmen.272 Bei Gefahr im Verzug kann die Kartellbehörde auch ohne richterliche Anordnung Beschlagnahmen und Durchsuchungen durchführen, (§ 46 Abs. 2 OWiG i. V. m. §§ 98, 105 StPO). § 59 GWB (bzw. § 46 GWB a. F.) begründet umfangreiche Informationsbefugnisse der Kartellbehörden im Verwaltungsverfahren; die Vorschrift ist im Bußgeldverfahren nicht anwendbar,273 da insbesondere die hieraus folgenden Auskunftspflichten mit den Prinzipien des Strafprozeßrechts (bzw. des Ordnungswidrigkeitenrechts) für unvereinbar gehalten werden. Falls ein ordnungsgemäßes274 Verwaltungsverfahren durchgeführt wurde, können Erkenntnisse, die aufgrund der Ermitt-lungsbefugnisse des § 46 GWB erlangt wurden, allerdings auch im Bußgeldverfahren verwertet werden.275

Dem Betroffenen ist nach § 55 OWiG Gelegenheit zu geben, zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen. Er hat nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO das Recht, sich

265 Zur Frage, ob die Einstellung des Verfahrens mit Bedingungen verknüpft werden kann vgl. Im-menga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 27ff; zur Einstellung aus Gründen der Oppor-tunität vgl. FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 30.

266 Göhler § 47, Rdnr. 3.

267 Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 18.

268 FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 23.

269 Langen/Hennig, 8. Aufl., § 38, Rdnr. 23a.

270 Vgl. Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 18, 20; Göhler § 47, Rdnr. 20b.

271 Siehe auch Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 2.

272 Einzelheiten bei Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 30ff.

273 Bechtold, 2. Aufl., § 59, Rdnr. 1; zu § 46 GWB a. F.: Bechtold, 1. Aufl., § 46, Rdnr. 1 m. w. N.;

Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 46; FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 61; Langen/Schultz, 8. Aufl., § 46, Rdnr. 2; zur Diskussion vgl. Immenga/Mestmäcker-Klaue, 2.

Aufl., § 46, Rdnr. 5ff.

274 Vor allem muß eine Belehrung nach § 59 Abs. 5 GWB bzw. § 46 Abs. 5 GWB a. F. darüber erfolgt sein, daß keine Pflicht besteht, Auskünfte zu geben, mit denen sich der Auskunftspflichtige selbst oder nahe Angehörige belasten würde. Unzulässig ist es auch, unter dem Vorwand, ein Verwaltungsverfahren durchführen zu wollen, nach § 59 GWB bzw. § 46 GWB a. F. Informationen zu verlangen, um ein Ordnungswidrigkeitenverfahren vorzubereiten, vgl. FK-Wrage-Molkenthin/Bauer,

§ 81, Rdnr. 62; Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 47.

275 Vgl. m. w. N. Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 47; a. A. Gillmeister S. 40ff.

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nicht zur Sache zu äußern276 und einen Verteidiger hinzuzuziehen, worüber er zu belehren ist.277 Zeugen sind verpflichtet, vor der Kartellbehörde zu erscheinen und auszusagen,278 nicht jedoch vor der Polizei. Eine richterliche Zeugenvernehmung kann von der Kartellbehörde nach

§ 162 StPO beantragt werden. Nach Abschluß der Ermittlungen, der entsprechend in den Akten zu vermerken ist, hat der Verteidiger des Betroffenen ein Recht auf Akteneinsicht nach

§ 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 147 StPO.

Die Zuständigkeiten für Rechtsbehelfe sind im GWB abweichend vom OWiG geregelt. Im gerichtlichen Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit ist nach § 83 GWB bzw. § 82 GWB a. F. der Kartellsenat des OLG zuständig, in dessen Bezirk die zuständige Kartellbehörde ihren Sitz hat; für die Rechtsbeschwerde ist nach § 84 GWB bzw. § 83 GWB a. F. der Kartellsenat des BGH zuständig.279 Mit der Zustellung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen beginnt die Einspruchsfrist von zwei Wochen nach § 67 Abs. 1 OWiG. Einspruch ist bei der Kartellbehörde einzulegen, die den Bußgeldbescheid erlassen hat. Die Kartellbehörde ist nach Einlegung des Einspruchs nicht mehr Verfolgungsbehörde. Diese Aufgabe wird jetzt von der Staatsanwaltschaft wahrgenommen. Die Kartellbehörde hat im gerichtlichen Verfahren nach § 76 Abs. 1 S. 2 OWiG nur noch ein Anhörungsrecht und damit ein Recht auf Anwesenheit.280 Das Gericht entscheidet über Zulässigkeit und Begründetheit des Einspruchs. Der Bußgeldbescheid hat nur noch die Funktion, die Tat als Gegenstand des Verfahrens der Sache und der Person nach zu beschreiben, vergleichbar mit einer Anklage-schrift.281 Nach § 72 OWiG kann das Gericht ohne Hauptverhandlung durch Beschluß entscheiden, wenn der Betroffene und die Staatsanwaltschaft nicht widersprechen, allerdings kann in diesem Verfahren keine Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen ausgesprochen werden, § 72 Abs. 3 S. 2 OWiG. Findet eine Hauptverhandlung statt, gelten grundsätzlich die Vorschriften der StPO. Die im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbuße ist nicht verbindlich für das Gericht. Es gilt kein Verbot der reformatio in peius282, das Gericht kann also im Urteil auch eine höhere Geldbuße aussprechen.283

276 Vgl. FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 49; zur Aussagfreiheit der juristischen Person und Personenvereinigung: FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 50 m. w. N.

277 Umstritten ist die Frage, ob die im Bußgeldverfahren unterlassene Belehrung ein Verwertungsverbot nach § 136 StPO begründet; die neuere Rechtsprechung (BGHSt 38, 214, 228) bejaht unter Aufgabe ihrer bis dahin vertretenen Ansicht ein Verwertungsverbot im Strafprozeß bei Unterlassen der Belehrung durch die Polizei, wenn diese zur Aufklärung einer Straftat tätig war, läßt jedoch ausdrücklich offen, ob dies im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso gelten soll; vgl. auch FK-Wrage-Molkenthin/Bauer, § 81, Rdnr. 59, die jedoch nicht erwähnen, daß der BGH die Frage für das Ordnungswidrigkeitenverfahren offen läßt; siehe auch Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl.,

§ 81, Rdnr. 46; Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 38.

278 Immenga/Mestmäcker-Tiedemann, 2. Aufl., § 81, Rdnr. 31.

279 Vgl. Kleinmann/Berg BB 1998, 277, 278.

280 Fischötter im GK Vorb. §§ 81-85, Rdnr. 3, § 82, Rdnr. 17; nach früherem Recht war sie Verfahrensbeteiligte, vgl. § 82 Abs. 2, 4 und 6 GWB 1957.

281 Immenga/Mestmäcker-Tiedemann § 81, Rdnr. 58.

282 "Veränderung ins Schlechtere".

283 Bechtold, 1. Aufl., Vor § 81, Rdnr. 4.

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