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2.3 Vergleich Schweiz – Österreich

6.1.2 Besonderheiten bei der Erzeugung von Verfassungsrecht

Die Initiative zur Revision der Bundesverfassung kann grundsätzlich von denselben Organen ausgehen, wie im Verfahren der einfachen Gesetzgebung. Dies bedeutet, dass die Bundesversammlung bzw einer der beiden Räte, der Bundesrat sowie die Kantone initiativberechtigt sind.325 Daneben besteht außerdem die Möglichkeit einer Volksinitiative auf Änderung der Bundesverfassung. Dazu müssen 100.000 Unter-schriften von Stimmberechtigten binnen 18 Monaten gesammelt werden.326

Die Volksinitiative auf Totalrevision hat in Form der allgemeinen Anregung zu erge-hen. Über die Gültigkeit der Volksabstimmung hat die Bundesversammlung zu ent-scheiden.327 Die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung ist in zwei

322 Art 194 Abs 2 BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 17; Zimmerli in Thüher/Aubert/Müller (Hrsg), Verfassungsrecht § 70 Rz 7.

323 Art 139 Abs 2 und 3 BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 16.

324 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1758; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 21.

325 Art 160 Abs 1, 181, 193 Abs 1 und 194 Abs 1 BV; Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1770 f; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 33 und 43 f.

326 Art 138 Abs 1 und 139 Abs 1 BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 45, 58 und 68.

327 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1772; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 45 f.

71 Formen möglich, in jener des ausgearbeiteten Entwurfs und in jener der allgemeinen Anregung.328

Die Ausarbeitung des Entwurfs der neuen Verfassung erfolgt grundsätzlich durch die Bundesversammlung im Verfahren der einfachen Gesetzgebung, wenn durch die Bundesverfassung oder durch Gesetz nichts anderes vorgesehen ist.329

Der Bundesversammlung obliegt die Ausarbeitung des Entwurfs einerseits im Falle einer Totalrevision der Verfassung. Können sich die Räte nicht auf einen Entwurf ei-nigen bzw scheitert dieser bei der Schlussabstimmung oder Volksabstimmung, gilt die Totalrevision als nicht zustande gekommen.330 Die Zuständigkeit zur Ausarbei-tung des Entwurfs kommt der Bundesversammlung andererseits bei einer Teilrevisi-on der Bundesverfassung in Form der allgemeinen Anregung zu.331

Bei einer Teilrevision der Bundesversammlung in Form des ausgearbeiteten Ent-wurfs kommt weder dem Bundesrat noch der Bundesversammlung das Recht zu, die Initiative zu verändern. Die Bundesversammlung kann aber einen eigenen Entwurf zur gleichen Verfassungsmaterie ausarbeiten. Dieser Gegenentwurf kommt dann gemeinsam mit dem ausgearbeiteten Entwurf zur Abstimmung.332

Art 140 Abs 1 lit a BV bestimmt für die Totalrevision der Bundesverfassung, dass der Entwurf zur Verfassungsänderung zwingend einem Volks- und Ständereferendum zu unterziehen ist. Die neue Verfassung gilt als angenommen, wenn sowohl Volks- als auch Ständemehr gegeben sind, was bedeutet, dass sich die Mehrheit der Stimmen-den sowie die Mehrheit der Stände dafür aussprechen müssen. Hierbei gilt das Er-gebnis der Volksabstimmung im Kanton als dessen Landesstimme.333 Gleiches gilt für die Teilrevision der Bundesverfassung in Form der allgemeinen Anregung.334

328 Art 139 Abs 2 BV.

329 Art 192 Abs 2 BV.

330 Art 192 Abs 2 BV; Art 93 Abs 2 und 81 Abs 3 ParlG; Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1775; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 38 f.

331 Art 139 Abs 4 BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 70 f.

332 Art 139 Abs 5 BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 62.

333 Art 142 BV; Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1776; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 40. 334

Art 140 Abs 1 lit a BV; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 72.

72 Bei einer Teilrevision in Form des ausgearbeiteten Entwurfs unterliegt nach Art 139 Abs 5 BV der Wortlaut der formulierten Initiative der Abstimmung. Wurde von der Bundesversammlung ein Gegenentwurf ausgearbeitet, wird über diesen gleichzeitig abgestimmt. Art 76 BPR335 bestimmt, dass in diesem Fall drei Fragen an Volk und Stände gestellt werden. Erstens, ob sie die Volksinitiative dem geltenden Recht vor-ziehen, zweitens, ob sie den Gegenentwurf dem geltenden Recht vorziehen und drit-tens, welche der beiden Vorlagen in Kraft treten soll. Die dritte Frage stellt vor allem eine Stichfrage für den Fall dar, dass die ersten beiden Fragen mit ja beantwortet werden. In Kraft tritt schließlich jene Vorlage, für die sich die Mehrheit von Volk und Ständen ausgesprochen hat.336

Grundsätzlich tritt die neue Verfassung nach Art 195 BV am Tag der Annahme durch Volk und Stände in Kraft. In der Vorlage selbst kann, wie aus Art 15 BPR hervorgeht, allerdings anderes bestimmt sein.337

6.2 Österreich

6.2.1 Grundsätzliches

Vorweg ist erwähnenswert, dass das österreichische Verfassungsrecht nicht in einer Verfassungsurkunde festgelegt ist. Neben dem B-VG gibt es eine Reihe anderer Bundesverfassungsgesetze, aber auch Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen.338

Eine Änderung des Bundesverfassungsrechts ist nach Art 44 B-VG durch Verfas-sungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen möglich. Dabei gibt es keine Inhalte, die nach dem B-VG als unabänderlich angese-hen werden.339

335Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 17. Dezember 1976 idgF (BPR; SR 161.1).

336 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht8 Rz 1797; Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 63 ff.

337 Tschannen, Staatsrecht3 § 44 Rz 41 und 66.

338Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 Rz 6 f.

339Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar: Bundesverfassungsrecht (1.

Lfg 2001) Art 44 B-VG Rz 2.

73 Das Verfahren zur Änderung bzw Ergänzung des Bundesverfassungsrechts folgt grundsätzlich jenem der einfachen Bundesgesetzgebung, jedoch mit einigen Modifi-kationen.340

6.2.1.1 Unterscheidung zwischen Teil- und Gesamtänderung

Art 44 B-VG unterscheidet bei der Änderung bzw Erzeugung von Verfassungsrecht zwischen der sog Teiländerung, der Änderung von einfachem Bundesverfassungs-recht, und der Gesamtänderung der Bundesverfassung. Die Unterscheidung ist ins-besondere für das weitere Verfahren von Bedeutung.341

Die Verfassung selbst gibt keinen Aufschluss darüber, was unter einer Gesamtände-rung der Bundesverfassung zu verstehen ist, jedoch hat sich schon die ältere Lehre für eine Bewertung nach materiellen Kriterien ausgesprochen. Eine Gesamtänderung liegt demnach vor, wenn grundlegende Werte der Verfassung ganz oder teilweise aufgegeben werden. Es kommt nicht auf formelle Kriterien, wie die Menge der geän-derten Bestimmungen an, sondern auf ihren Inhalt.342

Nach der heutigen Judikatur und Lehre liegt vor allem dann eine Gesamtänderung der Bundesverfassung vor, wenn die Grundprinzipien der Verfassung, die sog Bau-gesetze, abgeschafft oder wesentlich verändert werden.343 Von einer Gesamtände-rung kann außerdem gesprochen werden, wenn neue Grundprinzipien hinzugefügt werden, die den Verfassungskern verändern.344

Zu den Grundprinzipien zählen einerseits die in der Verfassung festgeschriebenen Prinzipien, nämlich das demokratische, das republikanische und das bundesstaatli-che Prinzip345. Daneben wird von Rechtsprechung und Lehre auch der Rechtsstaat als weiteres Grundprinzip angesehen. Ein Teil der Lehre erkennt außerdem das

340Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss10 Rz 481.

341 Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss10 Rz 481.

342Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 13 f.

343Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 14.

344Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht: Allgemeines Verwaltungsrecht (2009) Rz 60.

345 Art 1 f B-VG.

74 waltenteilende und das liberale Prinzip als Grundprinzip an, andere sehen diese wie-derum als Teil des rechtsstaatlichen Prinzips.346

Ebenfalls als Gesamtänderung betrachtet wird die Änderung des Art 44 Abs 4 B-VG, der die erschwerten Bedingungen für die Änderung der Grundprinzipien der Bundes-verfassung gewährleistet. Der erhöhte Bestandsschutz der Grundprinzipien kann nämlich nur durch das Gesamtänderungsverfahren gesichert werden, welches nicht durch eine Änderung der einschlägigen Bestimmung umgangen werden soll.347

Der Beitritt Österreichs zur EU im Jahr 1995 stellte nach überwiegender Auffassung eine Gesamtänderung der Bundesverfassung dar, da durch die weitreichende Über-tragung der Gesetzgebungskompetenzen an die EU vor allem in das demokratische Prinzip eingegriffen wurde. Aus diesem Grund wurde am 12. Juni 1994 eine Volks-abstimmung nach Art 44 Abs 3 B-VG über den Beitritt zur EU durchgeführt.348

Neben dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen Teil- und Gesamtänderung gibt es auch noch Fälle, in denen dem Bundesrat erweiterte Mitwirkungsrechte bei der Erzeugung von Verfassungsrecht eingeräumt werden.349

6.2.1.2 Voraussetzungen und Schranken der Verfassungsänderung

Innerhalb der staatlichen Rechtsordnung besitzen die Grundprinzipien der Bundes-verfassung den höchsten Rang. Aus diesem Grund darf auch einfaches Bundesver-fassungsrecht diesen Prinzipien nicht widersprechen, ist es andernfalls als verfas-sungswidrig zu qualifizieren, wenn es nicht unter den Voraussetzungen des Art 44 Abs 3 B-VG zustande gekommen ist.350

346Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 Rz 63; Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 15.

347Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht Rz 61; Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 17.

348 Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 Rz 134 f.

349 Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss10 Rz 481.

350Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 Rz 9 f.

75 Durch den Beitritt Österreichs zur EU spielt auch das Unionsrecht eine Rolle bei Ver-fassungsänderungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH351 hat das gesamte Uni-onsrecht Vorrang vor innerstaatlichem Recht, einschließlich der Grundprinzipien. In-nerstaatlich anerkannt ist jedoch die Einordnung des Unionsrechts zwischen den Grundprinzipien und dem einfachen Verfassungsrecht. Dies bedeutet, dass bei einer Teiländerung der Verfassung neben den Grundprinzipien auch das geltende Unions-recht zu beachten ist und diesem nicht widersprochen werden darf.352

Als Voraussetzung für das gültige Zustandekommen von Verfassungsrecht sieht Art 44 Abs 1 B-VG die ausdrückliche Bezeichnung als Verfassungsgesetz oder Verfas-sungsbestimmung vor. Die Bezeichnung ist vom Beschluss des Nationalrates um-fasst und somit im Bundesgesetzblatt kundzumachen. Fehlt die Bezeichnung, steht das Gesetz bzw die Bestimmung nicht in Verfassungsrang.353

6.2.2 Besonderheiten bei der Erzeugung von Verfassungsrecht

Wie bereits erwähnt, folgt das Verfahren bei Änderungen der Verfassung bis auf ei-nige Besonderheiten dem Weg der einfachen Bundesgesetzgebung. Nachstehend erfolgt daher nur eine Darstellung der abweichenden Verfahrensschritte.

Für die Erzeugung bzw Änderung von Verfassungsrecht sieht Art 44 Abs 1 B-VG er-höhte Präsenz- und Konsensquoren im Nationalrat vor. Demnach ist für eine gültige Beschlussfassung die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Nationalratsmit-glieder und die Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich.354

Im Fall einer Totaländerung der Bundesverfassung ist der Gesetzesbeschluss des Nationalrates im Anschluss an das Verfahren im Bundesrat einer obligatorischen Volksabstimmung zu unterziehen.355 Dies stellt den größten Unterschied zum

351 EuGH 17.12.1970, C-11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg 1970, I-1125, 1135 Rz 3.

352Kahl/Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht3 (2011) Rz 54; Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 Rz 156 ff.

353Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 6.

354Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 5; Wal-ter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss10 Rz 482.

355 Rill/Schäfer in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Art 44 B-VG Rz 5; Wal-ter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss10 Rz 483.

76 ren bei Teiländerung der Verfassung dar, da diese nach Art 44 Abs 3 B-VG nur dann einer Volksabstimmung zu unterziehen ist, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder Bundesrates verlangt wird.356

Die Volksabstimmung ist nach § 1 Abs 1 VAbstG357 vom Bundespräsidenten anzu-ordnen, wobei die Anordnung von den Mitgliedern der Bundesregierung gegenzu-zeichnen ist.358 Die Änderung der Bundesverfassung gilt als vom Volk angenommen, wenn sich die Mehrheit der Stimmenden dafür ausspricht.359

Die Verfassungsänderung ist im Anschluss unter Berufung auf das Ergebnis der Volksabstimmung kundzumachen.360

6.2.3 Erzeugung von Verfassungsgesetzen unter weitergehender