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Anticaline als alternative Bindeproteine zu therapeutischen Antikörpern

1   Einleitung

1.3   Anticaline als alternative Bindeproteine zu therapeutischen Antikörpern

und schnell wachsende Klasse von Biopharmazeutika zur Behandlung verschiedener Erkrankungen dar. Mittlerweile sind ca. 30 therapeutische monoklonale Antikörper sowie drei rekombinante Fab-Fragmente in Europa und den USA zugelassen und mehr als 500 weitere Wirkstoffe befinden sich in der klinischen Entwicklung (Reichert & Dhimolea, 2012). Darunter sind auch Konjugate von Antikör-pern mit Toxinen oder Radionukliden, bispezifische Antikörper und Antikörper-Fragmente (z.B. Fab, scFv) sowie abgewandelte Formate (Reichert & Dhimolea, 2012). Den größten Marktanteil haben zur Zeit Antikörper zur Behandlung von Krebs-, Autoimmun- und Entzündungserkrankungen (Elvin et al., 2013). Dieser Erfolg war vor allem der Entwicklung grundlegender Strategien auf dem Gebiet der Proteinproduktion (Plückthun & Skerra, 1989) und des Protein Engineerings zu verdanken (Nygren &

Skerra, 2004; Bornscheuer & Kazlauskas, 2011). Im Vergleich zur klassischen Immunisierung und Hybridom-Technologie (Köhler & Milstein, 1975) ermöglicht nun der Einsatz von semi-synthetischen oder synthetischen Antikörper-Genbibliotheken in Kombination mit ihrer effizienten Durchmusterung unter Verwendung von in vitro Präsentationssystemen (Geyer et al., 2012), wie z.B. der Phage Dis-play-Methodiken (Smith, 1985; McCafferty et al., 1990), die Konstruktion diverser Antikörperformate mit nahezu beliebiger Antigenspezifität (Protein, Peptid, Hapten) und deutlich reduzierter Immunoge-nität im Menschen (Lonberg, 2008).

Nichtdestotrotz sind Antikörper als biopharmazeutisches Reagens nicht unproblematisch. Als Folge ihrer komplexen Molekülarchitektur bestehend aus vier, teilweise glykosylierten Polypeptidketten (zwei leichte und zwei schwere Ketten), die durch zahlreiche Disulfidbrücken zusammengehalten wer-den, ist die funktionelle Produktion ausschließlich in teuren eukaryotischen Expressionssystemen un-ter hohem Zeitaufwand möglich. Bedingt durch ihre relativ große Molekülmasse von 150 kDa ist ei-nerseits die Eindringtiefe in das Gewebe solider Tumoren begrenzt, und andererseits ist für einen opti-malen diagnostischen Einsatz in vivo die Zirkulation der Antikörper im Blut mit 2-3 Wochen zu lang (Ternant & Paintaud, 2005; Carter, 2011; Wurch et al., 2012). Neben der mit steigender Molekülgröße abnehmenden Geschwindigkeit der renale Ausscheidung von Proteinen trägt das durch den neonatalen Fc-Rezeptor (FcnR) vermittelte Recycling zu der langen Plasma-Halbwertszeit bei (Roopenian &

Akilesh, 2007).

Hinzukommend ist die durch den Fc-Teil vermittelte immunmodulatorische Effektorfunktion bei be-stimmten Therapieformen, wie z.B. der Blockade von Ligand-Rezeptor-Interaktionen, unnötig oder gar unerwünscht. Zwar konnten mit Antikörper-Fragmenten (Buss et al., 2012) oder sogenannten Sin-gle Domain Antikörpern aus Kamelen oder Haien (Eyer & Hruska, 2012) einige dieser Unzulänglich-keiten umgangen werden. Dennoch stellte sich die grundlegende Frage, ob eine hoch-affine und spezi-fische Erkennung eines Zielmoleküls nicht auch durch alternative nicht Ig-ähnliche Proteinarchitektu-ren imitiert werden kann (Skerra, 2000a).

In diesem Zusammenhang wurden in den letzten 20 Jahren mehr als 50 sogenannte alternative Scaf-folds identifiziert und davon etwa 10 auf ihre Eignung als therapeutische oder diagnostische Bindepro-teine untersucht (Wurch et al., 2008; Gebauer & Skerra, 2009; Carter, 2011; Löfblom et al., 2011).

Unter dem Begriff Scaffold (engl.: Gerüst) sind Proteine bestehend aus einer einzigen Polypeptidkette mit weniger als 200 Aminosäuren zusammengefasst, die neben einer stabilen und kompakten Kernre-gion exponierte variable Bereiche aufweisen, die wiederum Manipulationen in der Primärstruktur zwecks Generierung künstlicher Bindungsstellen zulassen (Skerra, 2000a; Wurch et al., 2012). Damit folgen die alternativen Scaffolds im Prinzip dem molekularen Erkennungsmechanismus von Antikör-pern (Skerra, 2000b), in denen die Antigenbindungsstelle durch insgesamt sechs hypervariable Schlei-fenregionen (Complementarity-Determining Regions; CDRs) in den variablen Domänen der leichten und schweren Polypeptidkette gebildet wird, die auf einem konservierten Grundgerüst bestehend aus β-Faltblattsträngen mit typischer Ig-Faltung verankert sind (Abbildung 4A).

Abbildung 4. Prinzip der molekularen Erkennung durch Antikörper und Anticaline. (A) Die Raumstrukturen der variablen Domänen von sechs Antikörpern mit Bindungsaktivität für Haptene (PDB: 3QCU und 3TV3), Peptide (PDB: 3UJJ und 3UJI) sowie Proteinantigene (PDB: 3TLC und 4JDV) wurden auf Basis ihrer konservierten Gerüst-struktur überlagert. (B) Im Vergleich dazu wurde das humane Lipocalin 2 (Lcn2; PDB: 1L6M) mit fünf Lcn2-ba-sierten Anticalinen, welche ebenfalls unterschiedliche Ligandenformate erkennen, anhand der 58 strukturell konser-vierten Cα-Positionen der Lipocalin-Familie überlagert. Die für die Ligandenerkennung verantwortlichen hypervaria-blen Bereiche (farblich hervorgehoben) werden jeweils durch eine strukturell konservierte Gerüstregion (grau darge-stellt) gestützt. (C) FeIII⋅Enterobactin, der natürliche Ligand von Lcn2. Teile der Abbildung aus (Richter et al., 2014).

Die Protein-Familie der Lipocaline (griech.: Calyx = Kelch) stellt eine zu diesem Zweck äußerst vor-teilhafte Gerüststruktur außerhalb der Immunglobulin-Superfamilie dar. Trotz einer niedrigen Amino-säuresequenzhomologie (15-25 %) zwischen den einzelnen Vertretern der Lipocaline (Flower, 1996) weisen sie mit ihrer kelchförmigen Faßstruktur (β-Barrel) sowie einer C-terminalen α-Helix eine äus-serst konservierte Tertiärstruktur auf (Abbildung 4B). Gebildet wird das β-Barrel aus acht anti-paral-lelen β-Faltblattsträngen, welche sich nahezu kreisförmig rechtsgängig um eine zentrale Achse winden und am oberen Ende paarweise durch insgesamt vier strukturell variable Peptidschleifen verbunden sind. Diese bilden – zusammen mit benachbarten Aminosäureresten im oberen Bereich des β-Barrels – die natürliche Ligandenbindungsstelle. Im Unterschied zu der eher planaren Interaktionsfläche von

A B C

Antikörpern (Padlan, 1994) kann somit die Bindung eines Liganden in Abhängigkeit von seiner Größe und chemischen Konstitution entweder durch tiefes Eindringen in das β-Barrel oder – vermittelt durch die Peptidschleifen – mehr an deren Oberfläche erfolgen (Skerra, 2000b). Dabei ist eine Konforma-tionsänderung in Folge der Ligandenbindung (Induced Fit) durchaus möglich (Korndörfer et al., 2003).

Lipocaline sind überwiegend extrazelluläre Proteine bestehend aus 150-200 Aminosäuren (∼ 20 kDa), die vermutlich evolutionär aus einem bakteriellen Ur-Lipocalin hervorgegangen und nun in nahezu allen Bereichen des Lebens, darunter Bakterien, Pflanzen, Insekten und Vertebraten zu finden sind (Åkerström et al., 2006). Die meisten Vertreter sind für die Speicherung oder den Transport von klei-nen, häufig lipophilen Molekülen mit geringer Löslichkeit oder chemischer Instabilität verantwortlich, wie beispielsweise Vitamine, Steroide, Hormone und Duftstoffe. Andere besitzen enzymatische Akti-vität oder sind in die Regulation von Immunantworten involviert. Sie finden sich daher als sekreto-rische Proteine im Blut und anderen Gewebsflüssigkeiten von Organismen.

Als „Anticaline“ werden – in Anlehnung an Antikörper – Lipocaline mit neuen Bindungsspezifitäten bezeichnet, die durch Methoden des kombinatorischen Protein-Designs mit Fokus auf den vier varia-blen Schleifenregionen generiert werden (Skerra, 2000b). Mit Anticalinen lassen sich die drei wichtig-sten Wirkmechanismen in der Therapie von Erkrankungen realisieren: (i) als Antidot, (ii) als Antago-nist und (iii) als ligandenspezifisches Transportmolekül (Schlehuber & Skerra, 2005). Das Bilin-Bin-dungsprotein (BBP) aus dem Schmetterling Pieris brassicae diente als erstes Lipocalin-Grundgerüst zur Etablierung der Anticalin-Technologie. Anhand der BBP-Kristallstruktur wurden zur Konstruktion einer Zufallsbibliothek 16 Aminosäurepositionen in den vier Peptidschleifen und angrenzenden β-Faltblattsträngen ausgewählt, die die Bindung des natürlichen Liganden Biliverdin IXγ vermitteln.

Durch Phage Display-Selektion gegen die immobilisierten haptenartigen Moleküle Fluorescein (Beste et al., 1999), Digoxigenin (Schlehuber et al., 2000) sowie einen Phthalsäureester (Mercader & Skerra, 2002) wurden Anticaline mit nanomolaren Bindungsaffinitäten identifiziert. Im Hinblick auf einen biomedizinischen Einsatz wurde für die Generierung nachfolgender Anticaline auf humane Lipocaline als Protein-Scaffolds zurückgegriffen, um die Wahrscheinlichkeit einer Immunreaktion im Menschen zu minimieren. Unter den mindestens zwölf bekannten Lipocalinen humanen Ursprungs (Schiefner &

Skerra, 2015) wurden das Apolipoprotein D (ApoD), das Tränenlipocalin (Tlc) und das Lipocalin 2 (Lcn2) (Synonyme: Neutrophil Gelatinase-associated Lipocalin bzw. NGAL; Siderocalin) zur Kon-struktion neuer Zufallsbibliotheken ausgewählt (Skerra, 2008).

Im Labor von Prof. Skerra (TU München) wurde dabei besonderes Augenmerk auf das Lipocalin-Ge-rüst von Lcn2 gelegt. Dessen Strukturanalyse mittels Röntgenkristallographie (Goetz et al., 2000) und NMR (Coles et al., 1999) hatte ergeben, dass die Bindungstasche deutlich flacher (ca. 15 Å) und brei-ter (ca. 20 Å am oberen Rand) angelegt ist als bei anderen humanen Lipocalinen. Zudem sind, abgese-hen von dem am Boden des β-Barrel gelegenen hydrophoben Bereich, besonders viele polare und positiv geladene Seitenketten in der Bindungstasche verteilt (Goetz et al., 2002). Wie viele Lipocaline

besitzt Lcn2 bloß eine konservierte Disulfidbrücke, welche den C-terminalen Polypeptidabschnitt am β-Barrel fixiert. Der zusätzliche freie Cys-Rest, normalerweise zur Ausbildung eines kovalenten Ho-modimers oder eines Heterodimers mit der Matrix-Metalloproteinase IX (MMP-9, auch Neutrophil Gelatinase) verantwortlich (Triebel et al., 1992; Kjeldsen et al., 1993), kann ohne Beeinflussung der Ligandenbindungsaktivität durch eine inerte Seitenkette ersetzt werden, um unerwünschte Wechsel-wirkungen zu vermeiden (Gebauer & Skerra, 2012).

Lcn2 wurde ursprünglich als Produkt der Neutrophilen Granulozyten identifiziert (Triebel et al., 1992); allerdings wird es auch im Verlauf von Entzündungsreaktionen von Epithelzellen der Niere, der Haut und des Darms exprimiert (Kjeldsen et al., 2000; Borregaard & Cowland, 2006). In diesem Zusammenhang spielen die zuerst beschriebenen Liganden von Lcn2, die bakteriellen Eisen(III)-Si-derophore aus der Gruppe der Catecholate, wie beispielsweise Enterobactin (siehe Abbildung 4C), eine entscheidende Rolle (Goetz et al., 2002). Diese werden von pathogenen oder symbiontischen Bakterien zwecks Versorgung mit Eisen sezerniert und nach Komplexierung der bloß in sehr geringer Konzentration zirkulierenden Eisen(III)-Ionen mit Hilfe eines speziellen Mechanismus resorbiert (Sia et al., 2013). Die bakteriostatische Wirkung von Lcn2 liegt in der hoch-affinen (KD = 0,4 nM) Bin-dung des Eisen(III)-Enterobactin-Komplexes begründet (Goetz et al., 2002).

Weitere für Lcn2 beschriebene Funktionen im Menschen sind unter anderem der Transport bestimmter Fettsäuren (Chu et al., 1998), die Induktion von Apoptose (Devireddy et al., 2001) und die Modula-tion von EntzündungsreakModula-tionen (Cowland & Borregaard, 1997). Von Bedeutung für die Aufnahme und/oder Signaltransduktion sind vermutlich Zelloberflächen-Rezeptoren wie Megalin (Hvidberg et al., 2005), die mit dem Eisen(III)-Siderophor beladenes Lcn2 binden können. Lcn2 gilt mittlerweile nicht nur als diagnostischer und prognostischer Biomarker für verschiedene Entzündungserkrankun-gen, sondern dieses Lipocalin wurde auch in erhöhter Konzentration bei StoffwechselerkrankunEntzündungserkrankun-gen, Herz-Kreislauf- und Durchblutungsstörungen, bei Nierendysfunktionen sowie in einigen Tumorer-krankungen gefunden (Chakraborty et al., 2012).

Abbildung 5. Raumstrukturen von fünf Anticalinen im Komplex mit ihren Liganden (blau). Bisher wurden auf Grundlage des humanen Lcn2-Grundgerüstes unter anderem Anticaline mit Spezifität für die Peptidliganden Aβ40 (orange, PDB: 4MVI) und Hepcidin (gelb, PDB: 4QAE), das kleine haptenähnliche Y·DTPA (grün, PBD: 4IAX) und die beiden Proteinliganden ED-B (violett, PDB: 4GH7) und CTLA-4 (rot, PDB: 3BX7) generiert. Abbildung aus (Richter et al., 2014).

Bis heute wurden drei Generationen von Zufallsbibliotheken basierend auf dem Lcn2-Grundgerüst entwickelt, aus denen hoch-affine Anticaline mit Spezifitäten für die drei grundlegenden Ligandenfor-mate Hapten, Peptid, Protein selektiert werden konnten (Abbildung 5). Die erste Lcn2-Bibliothek diente – wie bereits zuvor beim BBP – zur Selektion von Anticalinen für die Erkennung von kleinen haptenartigen Molekülen. Als Ligand wurde ein Derivat des (Radio)Metallchelators DTPA (siehe Ab-schnitt 1.1.1) ausgewählt, was dieses Anticalin – fusioniert mit einem gegen ein Tumorantigen gerich-tetes Bindeprotein – für die nuklearmedizinische Therapie und Diagnostik im Sinne des Pretargetings nutzbar macht (Kim et al., 2009). Mit Hilfe der zweiten Lcn2-Bibliothek wurden Anticaline generiert, die die extrazelluläre Domäne des zytotoxischen T-Lymphozyten-assoziierten Antigens 4 (CTLA-4) und damit ein großes proteinogenes Zielmolekül binden (Schönfeld et al., 2009). Diese Anticaline haben immunmodulatorische Wirkung, da sie das während einer Immunantwort überexprimierte CTLA-4 durch Bindung blockieren und damit dessen negativen regulatorischen Einfluss auf die T-Zellaktivierung entgegenwirken.

Die Erfahrungen auf dem Gebiet der Konstruktion von kombinatorischen Proteinbibliotheken sowie die Röntgenstrukturinformationen über die Ligand⋅Anticalin-Komplexbildung aus den ersten beiden

αAβ αHepcidin αY•DPTA

αCTLA-4 αED-B

Bibliotheksgenerationen wurden verwendet, um eine dritte Lcn2-Bibliothek für die Selektion von An-ticalinen mit allgemeiner Spezifität für Zielmoleküle zu konzipieren. Tatsächlich gelang es damit, Anticaline gegen mehrere krankheitsassoziierte Proteine und Peptide, wie beispielsweise die tumoras-soziierten Proteine ED-B in Fibronektin (Gebauer et al., 2013), VEGFR-3 (Richter & Skerra, 2016) und Hsp70 (Friedrich et. al., unveröffentlicht), das Aβ40 Peptid in der Alzheimer-Krankheit (Rauth et al., 2016) und Hepcidin bei Anämie zu entwickeln und ihre Wirksamkeit in vivo unter Beweis zu stel-len.