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Spricht man von Bildern des Alters, so liegt die Frage nahe, wie realistisch oder wirklichkeitsgetreu, wie wahr oder falsch diese Bilder sind. Ist nicht schon im Begriff

„Altersbild“ die Annahme enthalten, es handele sich da-bei um „falsche“ Überzeugungen, die mit dem „wahren“

Prozess des Alterns, mit der „Wirklichkeit“ des Alters und mit real existierenden alten Menschen nur wenig zu tun haben? Andererseits können Bilder die Wirklichkeit beschreiben und etwas über den Zustand der Welt aussa-gen, also durchaus für sich beanspruchen, wahr zu sein.

Auf die Frage, ob Altersbilder richtig oder falsch sind, gibt es zwei Antworten:

(1) Altersbilder enthalten meist Annahmen über das Al-ter und das AlAl-tern, die wissenschaftlich daraufhin überprüft werden können, ob sie empirisch zutref-fend oder empirisch unzutrefzutref-fend sind.

(2) Es kommt gar nicht so sehr darauf an, ob Altersbilder empirisch zutreffend oder unzutreffend sind, wichti-ger sind ihre soziale Funktion und ihre realen Wir-kungen.

Im vorliegenden Altenbericht werden beide hier genann-ten Perspektiven berücksichtigt. In einigen Kapiteln lau-tet die Antwort: Ja, es gibt falsche Annahmen über das Altern – und diese müssen korrigiert werden (z. B. die Kapitel 7 und 9 in diesem Bericht). In der Mehrzahl der Kapitel lautet die Antwort aber: Es kommt nicht so sehr darauf an, ob Altersbilder wahr oder falsch sind, sondern es kommt auf die Wirkungen an, die bestimmte Altersbil-der nach sich ziehen (z. B. Kapitel 14 in diesem Bericht).

Zu Antwort 1: Konkrete Aussagen über das Alter und Al-tern können anhand wissenschaftlicher Befunde überprüft werden und sich als richtig oder falsch im Sinne von „em-pirisch zutreffend“ oder „em„em-pirisch nicht zutreffend“ er-weisen.

Altersbilder – so komplex sie oft auch sind – enthalten fast immer Annahmen über das Alter und das Altern, die als kurze, wissenschaftlich überprüfbare Aussagen oder The-sen formuliert werden können. Ein Beispiel ist die An-nahme, ältere Menschen seien als Konsumenten oder Kon-sumentinnen besonders markentreu. Diese Annahme kann mit wissenschaftlichen Methoden überprüft werden; die wissenschaftlichen Erkenntnisse können die Annahme dann entweder bestätigen oder als falsch ausweisen. In diesem Fall zeigt etwa die Konsumverhaltensforschung, dass Menschen mit dem Übergang vom Erwerbsleben in die Rentenbezugsphase ihr Konsumverhalten häufig den neuen Lebensumständen (mehr Zeit zum Einkaufen, zum Teil weniger Einkommen, veränderte Mobilität) anpassen und es dabei verändern (siehe Kapitel 7 in diesem Bericht).

In der Gerontologie wird bisweilen argumentiert, dass

„unangemessene“ und „falsche“ Annahmen über das Alter eine erhebliche Belastung für ältere Menschen sein kön-nen (Lehr und Niederfranke 1991). „Falsche“ Altersbilder könnten zum Beispiel dazu führen, dass Älteren der Zu-gang zur Arbeitswelt verweigert wird (etwa, wenn Perso-nalverantwortliche in Unternehmen annehmen, ältere Menschen seien generell weniger leistungsfähig als jün-gere Menschen; siehe Kapitel 6 in diesem Bericht) oder dass sie medizinische Leistungen nicht bekommen (etwa wenn ältere Menschen annehmen, ihre Beschwerden kä-men eben „vom Alter“ und seien nicht behandelbar, und sich deshalb gar nicht erst behandeln lassen; oder wenn Ärzte oder Ärztinnen aus Unsicherheit über den angemes-senen Umgang mit Multimorbidität bestimmte Therapien bei älteren Menschen seltener durchführen als bei jünge-ren Menschen; siehe Kapitel 9 in diesem Bericht). Seit den 1970er Jahren gibt es deshalb in der Gerontologie die Tra-dition, den alltäglichen Annahmen und Vorstellungen über das Alter und das Altern wissenschaftliche Erkenntnisse entgegenzusetzen, um möglicherweise „falsche“ Ansich-ten zu korrigieren, einseitige Aussagen zu differenzieren und bislang unbekannte Einsichten zu verbreiten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden durch Studien in ver-schiedenen wissenschaftlichen Disziplinen umfangreiche Erkenntnisse zu individuellen Alterungsprozessen und

den Dynamiken des demografischen Wandels zusammen-getragen. Alternswissenschaftliche Forschung ist dabei der – stets vorläufige, sich beständig erweiternde – Ver-such, kollektive und individuelle Alternsprozesse zu be-schreiben und sie zu erklären. Überblicksartige Sammlun-gen des in der Wissenschaft zusammengetraSammlun-genen Wissens über das Alter, das Altern, ältere Menschen und den demografischen Wandel sind zum Beispiel die bisher vorgelegten fünf Berichte über die Situation älterer Men-schen in der Gesellschaft („Altenberichte“).

Die wissenschaftlichen Disziplinen haben eine aufkläreri-sche Funktion: „Richtige“ wissenschaftliche Erkenntnisse sollen „falsche“ Annahmen korrigieren und ersetzen.

Dies soll vor allem durch den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Praxis geschehen. In der Alternsfor-schung wurden Wissenstests entwickelt, mit denen der Kenntnisstand über körperliche, psychische und soziale Phänomene des Älterwerdens überprüft werden kann (Kline u. a. 1990; Mayer u. a. 1996; Miller und Dodder 1980; Palmore 1977; Palmore 1981). Grundlage solcher Wissenstests sind allgemein anerkannte Befunde der Al-ternsforschung.

Bei Evaluationen solcher Wissenstests zeigt sich, dass weder eine einschlägige Weiterbildung (etwa ein univer-sitärer Einführungskurs in die Alternsforschung) noch persönliche oder berufliche Erfahrung im Umgang mit äl-teren Menschen zu einem „wissenschaftlicheren“ Ab-schneiden bei den Wissenstests führen (Kline und Kline 1991). Auch über eine längere Zeitdauer hinweg gibt es wenig Veränderung: Bei einem Vergleich zweier Umfra-gen, die in den Jahren 1982 und 2005 in Schweden durch-geführt worden sind und in denen der gleiche Wissenstest angewendet wurde, wurde deutlich, dass sich das wissen-schaftliche Wissen über Altern und Alter nur wenig aus-gebreitet hatte (1982 wurden im Durchschnitt 43 Prozent der Aussagen richtig beantwortet, im Jahr 2005 48 Pro-zent). Vor diesem Hintergrund erscheint der aufkläreri-sche Anspruch der Alternswissenschaften als bislang we-nig erfolgreich. Eine Analyse von Bundestagsdebatten im Zeitverlauf zeigt andererseits, dass die Argumentationen von Politikern und Politikerinnen unter dem Einfluss der seit 1993 erscheinenden Altenberichte differenzierter und wissenschaftlich informierter geworden sind (siehe Kapi-tel 13 in diesem Bericht).

Ü b e r s i c h t 2.3 Einige Beispiele aus Wissenstests zum Thema Alter, Altern und alte Menschen

Quelle: Eigene Darstellung.

Einzuschätzende Aussage Aus wissenschaftlicher

Sicht ist die Aussage:

– Die Mehrheit älterer Menschen (jenseits des Alters von 65 Jahren) ist senil (d. h.

hat ein schlechtes Gedächtnis, ist desorientiert und dement). Falsch

– Alle fünf Sinne lassen mit dem Alter nach. Richtig

– Im Allgemeinen sind sich ältere Menschen ziemlich ähnlich. Falsch – Ältere Arbeitnehmer haben weniger Arbeitsunfälle als jüngere Arbeitnehmer. Richtig Aus: Fakten über das Altern: Ein kurzes Quiz (Palmore 1977)

– Die Körpergröße eines Menschen nimmt im hohen Alter ab. Richtig – Mehr alte Menschen (über 65 Jahren) haben chronische Erkrankungen, die ihre

Aktivitäten beeinträchtigen, als jüngere Menschen. Richtig

– Die Lebenserwartung von Männern im Alter von 65 Jahren ist etwa so groß wie

die von Frauen gleichen Alters. Falsch

– Ältere Menschen, die ihre Aktivitäten reduzieren, sind glücklicher als jene älteren

Menschen, die aktiv bleiben. Falsch

Aus: Fakten über das Altern: Teil zwei (Palmore 1981)

– Depressionen werden im hohen Alter häufiger. Falsch

– Das Gedächtnis wird mit zunehmendem Alter immer schlechter. Richtig – Die Anzahl sozialer Beziehungen nimmt mit dem Alter ab. Richtig Aus: Vorstellungen über das Alter(n) (Mayer u. a. 1996)

Man muss allerdings auch Vorsicht im Umgang mit Wis-senstests über das Alter walten lassen, und zwar aus drei Gründen:

(a) Undifferenziertheit von Aussagen in Wissenstests. In der Regel werden in Wissenstests nur sehr wenige Infor-mationen gegeben. Die zu beurteilenden Aussagen sind kurz. Häufig ist die richtige Antwort kein ebenso kurzer Satz, sondern ein längerer, differenzierter Text. Mit Wis-senstests wird jedoch suggeriert, dass es knappe Wahrhei-ten über das Alter gibt – und das trifft den Stand der Er-kenntnisse über das Alter und Altern nur in den seltensten Fällen. Und gerade wenn die Antwort lang und differen-ziert ausfällt, ist klar, dass eine für die Mehrheit der Be-völkerung nicht zutreffende Aussage (z. B. „Alten Men-schen erhalten zu viele Medikamente“) für eine mehr oder weniger große Minderheit eben doch zutrifft.

(b) Wissenschaftlicher Fortschritt. Gerade in der biologi-schen und medizinibiologi-schen Forschung zum Thema Alter(n) gibt es immer wieder große Erkenntnisfortschritte, aber auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen werden frü-here Erkenntnisse durch neue Erkenntnisse korrigiert. Bis-lang gültige wissenschaftliche Annahmen und Hypothesen können als Konsequenz empirischer Forschung revidiert oder sogar gänzlich zurückgezogen werden. Manches, was zu einem historisch früheren Zeitpunkt als wissenschaft-lich „richtig“ galt, wird heutzutage als „falsch“ angesehen.

Wissenstests sind also zeitgebunden und können zu späte-ren Zeitpunkten überholt sein.

(c) Alter im sozialen Wandel. Schließlich ist zu betonen, dass das Alter selbst einem Wandel unterliegt. Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung wandeln sich die Be-dingungen des Älterwerdens und Altseins (und infolge-dessen oft auch wissenschaftliche Erkenntnisse über das Altern). Der Prozess des Altwerdens wird durch soziale und gesellschaftliche Bedingungen modifiziert, sodass es schwierig ist, universell gültige Aussagen über den Pro-zess des Alterns und die Lebensphase des Alters zu treffen.

Zum Beispiel haben sich die Rahmenbedingungen für das Älterwerden und das Altsein durch steigenden Wohlstand, gesündere Ernährung, humanere Arbeitsbedingungen, ver-besserte Hygiene, den Ausbau der sozialen Sicherung und Fortschritte bei der medizinischen Versorgung enorm ge-wandelt (Riley 2001). Älterwerden und Alt sein bedeutet heute etwas ganz anderes als vor 100 Jahren.

Zu Antwort 2: Altersbilder sind soziale Konstruktionen mit einer eigenständigen Wirklichkeit, die – unabhängig von der Frage „zutreffend oder nicht zutreffend?“ – be-stimmte Funktionen erfüllen und Wirkungen entfalten.

So wichtig die aufklärerische Tradition der Alternswissen-schaften ist, so war sie dennoch bislang wenig erfolgreich in dem Bemühen, alle aus wissenschaftlicher Sicht irrtüm-lichen, verzerrenden oder auch verklärenden Annahmen über das Alter auszuräumen. Wahrscheinlich ist dies auch kaum zu erwarten, denn in vielen Lebensbereichen gibt es alltägliche Annahmen, Vorstellungen, Überzeugungen und Wissensbestände, die sich mal mehr und mal weniger mit wissenschaftlichen Befunden decken (Amrhein und Ba-ckes 2007). Daher ist es sinnvoll und notwendig,

Alters-bilder auch aus einer Perspektive zu analysieren, die we-niger ihre empirische Richtigkeit thematisiert als vielmehr ihre sozialen Funktionen und Wirkungen.

Bei einer solchen Herangehensweise werden Altersbilder weniger als zutreffende oder unzutreffende, verzerrende (und in diesem Fall zu korrigierende) Spiegelungen der Lebensumstände älterer Menschen aufgefasst, sondern als eigenständige soziale Denkmuster, mit denen biologische Alterungsprozesse für das soziale Leben überhaupt erst re-levant werden. Dahinter steht die Annahme, dass das bio-logische Altern und seine physiobio-logischen Veränderungen nicht von sich aus eine bestimmte soziale Bedeutung ha-ben, sondern dass diesen Prozessen eine Bedeutung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Älterwer-den und dem Alter erst verliehen wird (siehe Kapitel 3 in diesem Bericht). Sowohl Individuen als auch Kollektive deuten also mittels Altersbildern soziale Realität, nehmen Bewertungen vor, bilden Erwartungen und gestalten Inter-aktionen. Auf diese Weise haben Altersbilder eine Orien-tierungs- und Ordnungsfunktion; sie sind ein wichtiges Element zur Strukturierung sozialer Beziehungen. Zum Beispiel wird auf gesamtgesellschaftlicher Ebene über Al-tersbilder die „soziale Ordnung der Generationenfolge“

(Göckenjan 2009) ausgehandelt. Im Hinblick auf alltägli-che Interaktionen haben Altersbilder eine entlastende Funktion: Sie geben spontan abrufbare, eingeübte Verhal-tensmuster für bestimmte Alltagssituationen vor, sodass angemessenes Verhalten nicht ständig neu ausprobiert werden muss.

Aus diesem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Altersbildern folgt zweierlei:

(1) Altersbilder sind nicht als getreues Abbild von Alte-rungsprozessen und der Lebensbedingungen und Lebens-lagen älterer Menschen angelegt – auch wenn sie zu ihrer Legitimation die Behauptung beinhalten, sie seien es. Viel-mehr können Altersbilder ihre ordnungsstiftende Funktion nur als vereinfachende, typisierende und generalisierende Bilder ausfüllen. Altersbilder müssen zwangsläufig weni-ger differenziert sein als die wissenschaftlich beschreibba-ren empirischen Lebensumstände älterer Menschen. Al-tersbilder als einseitig oder ungenau zu kritisieren, geht deshalb an ihrem Wesen vorbei: „Altersbilder sind einer Perspektive verpflichtet, der man nicht Unvollständigkeit vorwerfen kann, weil die Unvollständigkeit ihrer Perspek-tive die Bedingung ihrer Entstehung ist“ (Saake 2006:

145 f.).

(2) Es gibt immer eine Pluralität von Altersbildern; ver-schiedene Altersbilder können nebeneinander existieren oder miteinander um eine Vorherrschaft konkurrieren.

Diese Vielfältigkeit von Altersbildern lässt sich sowohl auf der Ebene der öffentlichen Diskurse (siehe Kapitel 13 in diesem Bericht) als auch auf individueller Ebene finden.

Im Hinblick auf individuelle Altersbilder zeigen sozial-psychologische Studien, dass Altersstereotype komplexe kognitive Strukturen mit einer Vielzahl von durchaus un-terschiedlich bewerteten Substereotypen sind. Jede Person kann also auf einen ganzen „Werkzeugkasten“ an Alters-typen zugreifen (Hummert u. a. 1994). Welcher Ausschnitt des Altersstereotyps, also welches Substereotyp, in einer

bestimmten Situation zum Tragen kommt, hängt von der Situation selbst ab (Rothermund 2009). Je nach Kontext werden also verschiedene Altersbilder abgerufen.

Auch wenn auf diese Weise die Eigenständigkeit von Al-tersbildern betont wird, müssen die Folgen und Wirkun-gen von Altersbildern beachtet werden. Altersbilder be-einflussen die Wirklichkeit, die sie zu spiegeln vorgeben.

Wer davon überzeugt ist, dass das Alter vor allem körper-liche Erkrankungen und kognitiven Abbau mit sich bringt, orientiert sich in Alltagskontakten mit älter wer-denden und alten Menschen eher an dieser Vorstellung als am konkreten Verhalten des jeweiligen Gegenübers. Al-tersbilder können dadurch zu einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ werden, das heißt, dass älter werdende Menschen ihr Verhalten an Altersstereotype anpassen und somit alterskorrelierte Phänomene erst entstehen. Die Wissenschaft untersucht deshalb nicht nur, welche Fakto-ren für die Entstehung, Veränderung und Modifikation von Altersbildern verantwortlich sind, sondern auch, wel-che Folgen für Individuen und Gesellschaft bestimmte Altersbilder nach sich ziehen können (siehe Kapitel 14 in diesem Bericht).