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Altern heute: Vielfalt der Optionen oder vorgezeichnete Pfade?

3.2 Kulturelle Plastizität des Alters

3.2.5 Altern heute: Vielfalt der Optionen oder vorgezeichnete Pfade?

Altersbilder fügen sich heute keinem starren soziokultu-rellen Koordinatensystem mehr, weder ständischen Hier-archien noch ethnischen oder religiösen Alleinstellungs-ansprüchen, nicht einmal mehr einem rigiden Raster von Klassen, Schichten und festen Sozialmilieus. Auf den Fel-dern der Öffentlichkeit kursiert und konkurriert eine Viel-zahl von Meinungen, Vorschlägen, Ideen zum Thema Alter und Altern. Und diese können nicht auf einen gemeinsa-men Nenner gebracht werden; „Desintegration erscheint als Normalfall“ (Saake 2006: 120). Die Altersbilder der Gesellschaft sind so heterogen wie die Problemlagen und Perspektiven, die in diversen Gruppen, Organisationen und Systemen entstehen. Und einmal entstandene Alters-bilder stehen stets wieder zur Disposition, sobald sich Pro-blemlagen ändern, andere Themenstellungen und Meinun-gen erfolgversprechender erscheinen, sobald funktionale oder pragmatische Gründe neue Lösungen erfordern.

Unter solchen Bedingungen öffnet sich bis ins hohe Alter ein breiter Horizont prinzipiell einnehmbarer Lebenspers-pektiven, theoretisch ergreifbarer Handlungsmöglichkei-ten und denkbarer Lebensmodelle. Diese prinzipielle Viel-falt der Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung wurde von der Soziologie auf den zeitdiagnostischen Be-griff der „Multi-optionsgesellschaft“ gebracht (Gross 1994).

Das Denkmodell der Multioptionsgesellschaft kontrastiert allerdings mit der nicht zu übersehenden Tatsache, dass der faktische Spielraum zur individuellen Gestaltung des Lebens durch biografische und sozialstrukturelle Bedin-gungen für die meisten Menschen mehr oder weniger ein-geschränkt ist. Es entsteht also eine Spannung zwischen

der normativen Erwartung, entsprechend der Pluralität von Altersbildern und der theoretischen Multioptionalität der modernen Gesellschaft das eigene Leben im Alter zu ge-stalten (Abschnitt a) und der biografisch und sozialstruk-turell bedingten faktischen Verengung des individuellen Handlungsspielraums im Alter (Abschnitt b). Irritationen entstehen durch den Widerspruch zwischen der Erwartung auf der einen Seite, die Optionenvielfalt zu nutzen, und re-stringierten Gestaltungspotenzialen auf der anderen Seite.

Diese Verunsicherungen lösen ein großes Bedürfnis nach Rat und Trost aus und bereiten so den Boden für Alters-Ratgeber (Abschnitt c).

a) Altern in der Multioptionsgesellschaft

In dem Maße, wie sich die Gesellschaft differenziert, di-versifizieren sich Altersbilder und gilt die gerontologi-sche Formel vom „differenziellen Alter(n)“. Das heißt, statt an überkommene und beschränkte Altersrollen ge-bunden zu sein, sieht sich jedes Individuum zunehmend in die Lage versetzt, unter einer Vielfalt von Altersbildern wählen zu können, aber auch wählen zu müssen. Statt in einem kollektiv verbindlichen altersspezifischen Formen-vorrat aufzugehen, können – zumindest im Prinzip – auch eigene Entwürfe versucht und gelebt werden. Heute üben immer weniger Menschen zeitlebens ein und denselben Beruf aus oder bleiben an einem Ort fest verwurzelt. Fa-milien- und andere Gemeinschaftsverhältnisse gestalten sich zunehmend multilokal und „patchworkartig“. Kenn-zeichnend für die „fortgeschrittene Moderne“ ist die „In-dividualisierung von Lebenslagen und -verläufen“, und das heißt auch: neu zu altern, in „Patchworkform“ (Beck 1986; Gross 1985; Hitzler und Honer 1994). Individuen haben dem Modell der Multioptionsgesellschaft zufolge bis ins hohe Alter eine Vielzahl von Optionen, ihr Leben zu gestalten, etwa räumliche, religiöse, weltanschauliche Bindungen einzugehen oder aufzugeben, sich bestimmten Gruppen und ihren Altersbildern anzuschließen. Sie kön-nen folglich auch Altersbilder für sich und andere gelten lassen oder nicht, beziehungsweise dies nur zeitweilig oder örtlich begrenzt oder nur unter selbst definierten Be-dingungen tun. Sie können und müssen wählen, aushan-deln und koordinieren, welche Bilder, Formen, Stile, Rol-len des Alterns sie für sich akzeptieren wolRol-len und welche nicht. Sie können selbst Bilder entwerfen. Und da sich die Vielfalt der Möglichkeiten immer weiterentwickelt, ste-hen getroffene Entscheidungen immer wieder neu zur Disposition.

Aus der Perspektive der Multioptionsgesellschaft wächst die Hintergrunderwartung, dass individuelle Akteure dif-ferente Alternsoptionen nutzen und vermehren. Es gilt, Optionalität bewusst als Chance wahrzunehmen und sich auch im Hinblick auf das Alter verschiedene Möglichkei-ten offenzuhalMöglichkei-ten. Der Begriff „Multioptionalität“ will auf eine „Optionalisierung“ des Alterns hinaus, das heißt auf eine Kultur des Alter(n)s, die „keine Lebensformen, Sitten und Gepflogenheiten mehr festschreibt“, sondern Vielfalt als Chance begreift und voll ausspielt (Baecker 2003: 22).

Noch dazu wissen die Menschen in der Multioptionsge-sellschaft um ihre Wahl-, Kombinations- und

Aushand-lungsmöglichkeiten. Sie prüfen ihre Optionen selbstbe-wusst, fragen sich bis ins hohe Alter fortwährend: „Wie wollen wir leben?“. Sie pflegen einen kritischen Umgang mit dem Altern, und zwar nach außen wie nach innen.

Nach außen unternehmen sie kritische Kraftanstrengun-gen, um sich in der Vielfalt von Optionen zu behaupten, Chancen optimal zu nutzen, eigene Entwürfe zu versu-chen. Das schließt allerdings das Risiko von Fehlurteilen und das Scheitern von Planungen und Perspektiven ein.

Nach innen bedeutet Selbstreflexivität, beizeiten kritisch mit den eigenen Alters-Selbstbildern umzugehen, näm-lich sie immer wieder zu überdenken, anzuzweifeln, nöti-genfalls zu revidieren, was allerdings Verunsicherungen und Überforderungen einschließt. Keine Identifizierung ist abschließend; jede kann rückgängig gemacht, kann neu durchdacht, kann bis ins hohe Alter durch Wahrneh-mung anderer Gelegenheiten und Optionen verändert werden. Altersbilder haben demnach nicht mehr zeitlich und räumlich umfassende, sondern nur mehr temporäre, situationale und selektive Gültigkeit, was übrigens auch Ironie und Selbstironie einschließt. Und diese Relativität und Perspektivität kann selbst wiederum zum Gegenstand von Beobachtungen und Kommunikationen, Prüfungen und Aushandlungen gemacht werden. Es kann zum Bei-spiel gefragt werden: Wer entwirft und will welches Al-tersbild aus welchen Interessen? Wie lassen sich Hand-lungsspielräume ausweiten, Lebenschancen maximieren, Lebensqualitäten optimieren? Unter diesen Bedingungen sind Altersbilder Beobachtungsformeln, die interessenge-leitete Perspektiven und Willensrichtungen formalisieren.

Auf die Anforderungen einer Multioptionsgesellschaft sind diejenigen Bevölkerungskreise am besten eingestellt, die aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrungen ge-lernt haben, mit Unsicherheiten zu rechnen, Gelegenheiten zu ergreifen, Chancen zu maximieren. Auch für die Ausprä-gung zeitgemäßer Altersbilder sind solche soziokulturellen Eliten von besonderer Bedeutung, weil sie veralteten Al-tersrollen sowie Schreckensszenarien demografischer und rentenfiskalischer Statistiken selbstbewusst entgegenzu-treten vermögen. Mit ihren Erfolgen und ihrer ganzen Per-sönlichkeit widerlegen sie breitenwirksam das Bild einer Gesellschaft, die unter einer vermeintlichen Altenlast er-starrt. Insbesondere aus denjenigen Generationen, die spä-testens seit 1968 auf Wertewandel und Innovationsfähig-keit geradezu abonniert sind, darf der Umbruch und Umbau von Lebensformen und Lebensgefühlen im Alter erwartet werden (Bude 1995; Otten 2008). Denn bestimmte Alters-kohorten vermögen in besonderer Weise einen „kollektiven Druck in Richtung auf einen Strukturwandel“ auszuüben, und sie können dabei eine Veränderung von Altersbildern und Altersrollen „in sämtlichen gesellschaftlichen Ein-richtungen“ bewirken (Riley und Riley 1994: 455f.).

Die gewissermaßen kulturrevolutionäre Bedeutung sol-cher „Alters-Pioniere“ besteht in ihrer „Avantgarde-Rolle“

(Pasero 2007; Seidl 2005). Eine Avantgarde-Funktion nehmen ältere Menschen dann wahr, wenn sie als unange-messen empfundene Formen und Vorstellungen vom Alter durchkreuzen, wenn sie gegebene Altersnormen und Al-tersrollen bestreiten und Erwartungen neu definieren. Es handelt „sich um verhaltensprägende Leitkulturen, die bei

Minderheiten beginnen, dann aber ganze Gesellschaften erfassen“ (Dahrendorf 2008: 374). Sie schaffen Präze-denzfälle, an denen breite Bevölkerungskreise Geschmack und Orientierung finden. In ihrer Breitenwirksamkeit schaffen Alters-Avantgarden eine soziokulturelle Grund-lage für ein anderes Altern.

Kultur-avantgardistische Veränderungen von Altersbil-dern und Altersrollen gehen derzeit bereits in beachtli-chem Ausmaß vonstatten, und zwar wohl zuerst angesto-ßen durch die „old professionals“ der Künstler- und Intellektuellenszenen, durch Schauspielerinnen wie Iris Berben (geboren 1950), Modemacherinnen wie Vivian Westwood (geboren 1941), Künstler wie Jörg Immendorf (1945–2007). Impulse für solche Veränderungen geben nicht zuletzt die Alters-Ikonen der Massen- und Popular-Kultur: Rockmusiker und Rockmusikerinnen wie Tina Turner (geboren 1939), Mick Jagger (geboren 1943), Udo Lindenberg (geboren 1946). Hier entstehen Bilder einer Alters-Coolness, verstanden als eine Haltung, die das Al-ter umwertet, Vorstellungen von Integrität und Würde im Alter breitenwirksam renoviert. Solche Alters-Pioniere stellen gewissermaßen in ganzer Person Musterbeispiele für noch nie dagewesene Altersbilder dar, wobei jedoch wiederum stereotypisierende Effekte (z. B. kommerziel-ler Art) auftreten.

Es wäre allerdings unangemessen, Avantgarde-Rollen al-lein für diejenigen Gruppen zu reklamieren, die privile-gierte Möglichkeiten haben. Nicht außer Acht zu lassen sind vor allem auch die lokalen Alters-Pioniere, die kei-neswegs nur aus bessergestellten Kreisen kommen. Das sind die Alters-Avantgarden des Alltags, Vorbilder wie Uwe Pelzel (geboren 1943), einer der ältesten Menschen mit Downsydrom in Deutschland, dessen Bedeutung für seinen Heimatort Heikendorf bei Kiel in einem bundes-weit beachteten Dokumentarfilm gewürdigt worden ist (Westerholt 2008). Solche lokalen Alters-Pioniere setzen, so lässt sich mit Matilda und John Riley (1994: 445f.) sa-gen, durch kleine anschauliche Beispiele „oftmals fast unmerkliche Prozesse und Mechanismen in Gang“, die insgesamt zu einer Erneuerung oder Erweiterung von Al-tersbildern, von „altersbezogenen Ideen, Wertvorstellun-gen und ÜberzeugunWertvorstellun-gen“, „von Rollenmöglichkeiten für ältere Menschen“ führen.

b) Altern in prekären Lebenslagen und im Lebenslaufregime

Die Kehrseite der Multioptionsgesellschaft besteht in neuen Grenzen, Regularien und in zum Teil enormen Ri-siken. Davon sind vor allem diejenigen Bevölkerungs-kreise betroffen, die aufgrund von prekären ökonomi-schen, sozialen und kulturellen Lebenslagen weit weniger imstande sind, Optionen zu wählen oder gar umfassend wahrzunehmen und ihre Wahl im Hinblick auf die nicht gewählten Alternativen zu reflektieren. Wer über knappes Einkommen und geringe Bildung verfügt, dessen Opti-onsmöglichkeiten sind deutlich reduziert, und der ist auch und besonders im Alter von Krisen härter betroffen.

Ulrich Beck (1986: 46 und 153) hat deshalb geradezu von einem „,Gesetz‘ der klassenspezifischen Verteilung von

Risiken“ gesprochen, von der „Konzentration der Risiken bei den Armen und Schwachen“.

Über den materiellen Lebensstandard hinaus ist die Wahrneh-mung von Optionen vor allem abhängig vom Bildungs-stand, von der Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken, von schichtspezifischen Geschmacksvorlieben, Erlebnissche-mata, Auswahlmustern. Amrhein (2008) spricht deshalb von

„Drehbüchern des Alter(n)s“, von milieutypischen Model-len der Lebensführung älterer Menschen. Allzu optimisti-sche oder avantgardistioptimisti-sche Bilder vom multioptionalen, insbesondere vom aktiven, produktiven und erfolgreichen Altern müssen sich also fragen lassen, was sie im Hinblick auf Bevölkerungskreise zu leisten vermögen, die über we-nig Einkommen, Bildung und Einfluss verfügen. Deren Handlungsspielräume und Lebenschancen sind deutlich eingeschränkt; ihr Gesundheitszustand ist schlechter, ihre Lebenserwartung geringer.

Aber auch unabhängig von sozialen und geschlechtsspe-zifischen Unterschieden ist die Reichweite wirklicher Op-tionen in der Multioptionsgesellschaft umstritten. So hat Martin Kohli (1992: 285) auf die Grenzen „der Gestalt-barkeit der Lebensalter durch individuelles Handeln“ hin-gewiesen. Bei allem Strukturwandel in der Industrie und aller Deregulierung der Arbeitswelt (Rückgang regulärer Arbeitsverhältnisse), bei aller Pluralisierung von Lebens-formen und Präferenzlagen gibt es umfassende und starke Einschränkungen, wie sie aus dem „Lebenslaufregime moderner Gesellschaften“ resultieren. Demnach ist die Zeiteinteilung der allermeisten Menschen nach wie vor entscheidend von der Arbeitswelt geprägt. Die seit dem 19. Jahrhundert etablierte und institutionalisierte Drei-gliederung des Lebenslaufs in Bildungs-, Erwerbs- und Ruhephase – wie sie rechtlich und sozialpolitisch abgesi-chert ist (Allmendinger 1994) – strukturiert auch die Op-tionsmöglichkeiten und das Optionsverhalten. Die Ar-beitswelt gibt der Lebenswelt den Rhythmus vor. Auch Ziele und Lebensstile im Alter sind wesentlich durch das vorherige Erwerbsleben geprägt (Atchley 1989). Außer-dem ist das Optionsverhalten durch Orientierungen, Mo-tive und Interessen geprägt, wie sie sich im Lebenslauf je-des einzelnen Menschen als Daseinsthemen herausbilden (Thomae 1996).

Von Multioptionalität kann also nur in sozialen, kulturel-len und individuelkulturel-len Grenzen die Rede sein. Das Spek-trum optionaler Möglichkeiten ist gesellschaftlich und ökonomisch vorstrukturiert. Hinzu kommt, dass Optiona-lität selbst als „soziale Anforderung“, als zwanghafte

„Verallgemeinerung von normativen Erfolgs- und Bilan-zierungskriterien“ aufgefasst werden kann, wie sie für eine kapitalistische Arbeits- und Konsumgesellschaft typisch sind. Die Formel vom multioptionalen, produktiven, er-folgreichen Altern wäre somit als ein „Regime“ oder

„Normalisierungsprogramm“ zu problematisieren, das die Einschätzung des Alters einseitig an der Norm ausrichtet, sich bis ins hohe Alter flexibel, mobil und aktiv zu halten (Foucault 1978; Sennett 2006). In der Spannung zwischen den denkbaren Optionen zur Lebensgestaltung einerseits und der faktischen Begrenzung der

Handlungsmöglichkei-ten andererseits bieHandlungsmöglichkei-ten Alters-Ratgeber Hilfe und Orientie-rung an.

c) Alters-Ratgeber

Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit und die Anfor-derung, das eigene Altern multioptional zu gestalten, näm-lich Altersbilder zu hinterfragen und zu überprüfen, aus-zuwählen, zu kombinieren und selbstständig zu entwerfen.

Dafür eröffnen moderne Gesellschaften erhebliche Spiel-räume und davon machen insbesondere Alters-Avantgar-den Gebrauch. Auf der anderen Seite ist mit deutlichen Einschränkungen, mit prekären Lebensläufen bis hin zu Altersarmut zu rechnen. Aber auch schichtübergreifend sind Individuen bis ins hohe Alter hinein Irritationen und Desorientierungen ausgesetzt. Darauf reagieren Alters-Ratgeber, indem sie Informationen aufbereiten, Risiken abschätzen, Optionen ausloten.

Alters-Ratgeber sind ein Medium für die Verbreitung von Altersbildern, dessen Bedeutung nicht unterschätzt wer-den sollte. Sie erscheinen unter Buchtiteln wie „Kunst des Älterwerdens“, „Was im Alter möglich ist“, „Wie man in Würde altert“, „Gelassen älter werden“ oder auch „Topfit bis ins hohe Alter“, „Silver Sex“. Alters-Ratgeber sind erst in jüngerer Zeit zu einem Massenphänomen gewor-den. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein bloßes Frei-zeitvergnügen oder um ein Gesellschaftsspiel. Vielmehr spiegelt ihre Massenauflage das verbreitete Bedürfnis wi-der, Altersrollen neu zu verstehen, zu entwerfen, zu jus-tieren. Die Popularität von Alters-Ratgebern verweist vor allem auf zwei Aspekte der Multioptionsgesellschaft:

1. auf die Vielfalt und Diversität von Optionen, über die sich ein interessiertes Publikum Überblick verschaf-fen möchte. Dazu ist es insbesondere auch deswegen herausgefordert, weil sich Normen und Rollenmuster des Alterns ständig verschieben und verändern;

2. auf Verunsicherungen und Überforderungen, die durch die Erwartung entstehen, das eigene Leben im Alter bewusst zu gestalten.

Populäre Alters-Ratgeber bieten Orientierungshilfen für breite Bevölkerungskreise und verschiedene Altersgrup-pen (ab 40 Jahren) an. Sie tun das, indem sie einerseits Experten- und Expertinnenwissen für Laien verständlich aufbereiten, andererseits Wissensbestände und Hand-lungskompetenzen aufgreifen, wie sie in der Alltagswelt selbst hervorgebracht und gebraucht werden. Populäre Alters-Ratgeber gewinnen ihre Attraktivität also vor al-lem daraus, dass sie konkrete Lebensumstände und Le-bensschicksale thematisieren und dass sie wissenschaftli-che Erkenntnisse und alltägliwissenschaftli-che Erfahrungen aufeinander abstimmen. Sie bieten Orientierung und Lebenshilfe für das Alltagshandeln an, indem sie von naheliegenden Be-dürfnissen oder Irritationen ausgehen, um darauf bezogen Wissen zu filtern, zu ordnen und zuzuspitzen.

Die Qualität populärer Alters-Ratgeber lässt vielfach zu wünschen übrig, zugleich aber gibt es durchaus erfreuli-che Beispiele. Viele Ratschläge laufen auf ein Standard-programm hinaus: auf Fitness als Universalnenner des flexiblen Menschen unter den Bedingungen globaler

Be-schleunigung. Besonders problematisch erscheinen die so genannten Anti-Aging-Ratgeber, die oft mit zweifelhaf-ten Rezepzweifelhaf-ten aufwarzweifelhaf-ten und kommerziell ausgerichtet sind. Solche Ratgeber folgen durchweg einem Defizit-Modell des Alterns, ja sie implizieren ein sogar extrem negatives Altersbild (Wooßmann 2007; Otto 2009).

Schon die Themenstellung „Anti-Aging“ zeigt diese Richtung an: Altern als Prozess, dem entgegenzutreten ist, der eine Antihaltung erfordert. In den meisten dieser Ratgeber gilt das Jugend-Paradigma geradezu imperativ.

Das wird unmissverständlich klar an Buchtiteln wie

„Jung bleiben!“, „Erfolgreiche Strategien zum Jungblei-ben“, „Tao der Jugend – Das west-östliche Verjüngungs-Programm“ und dergleichen mehr.

Solche Alters-Ratgeber stellen „falsche“ oder „schiefe Fragen“ (Gadamer 1960: 346). Denn sie fragen nach kaum mehr als nach einem erträglichen Zurechtkommen mit dem Alter. Und sie verstehen diesen modus vivendi in der Hauptsache als einen beständigen Kampf darum, einiger-maßen jung auszusehen, fit zu bleiben, nur nicht nachzu-lassen. Es handelt sich um eine „falsche“ Themenstellung, insofern es solchen Ratgebern nicht um „sacherschließen-des Erkennen“, nicht um altersgerechte Kommunikations-und Lebensformen, geschweige denn um konkrete Inhalte gelingenden Lebens im hohen Alter geht. Ihr Thema ist gar nicht das Altern selbst, sondern das Jungbleiben. Indem solche Ratgeber mit dem Alter einen Jugendkult treiben, verfehlen sie ihr Thema, blenden oder grenzen das Alter aus. Problematischer noch: Sie schüren Angst davor und machen Geschäfte mit dieser Angst. Sie bieten zwar ste-reotype Vitalisierungs-Programme für so genannte junge und fitte Alte an. Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Verletz-lichkeit und EndVerletz-lichkeit aber werden verdrängt. Diese er-scheinen als das schlimme Ende, wo guter Rat versagt oder teuer ist, und sie bleiben auf diese Weise den dunklen Be-fürchtungen des Publikums überlassen.

In einer anderen Sorte von Alters-Ratgebern geht es Auto-ren wie Anselm Grün (2008) und Henning Scherf (2006) explizit darum, auf sinnvolle Möglichkeiten hinzuweisen, die sich mit dem Alter auftun. Das sind einerseits Möglich-keiten im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements, der Selbsthilfe und des Familienlebens. Das sind anderer-seits Möglichkeiten im Bereich der Lebenskunst, der Vor-bild- und Korrektivfunktion. Fitness und Vitalität gehören zwar dazu, dienen aber konkreten Lebenszielen und gelten nicht in jeder Beziehung und schon gar nicht in jeder Le-benssituation. In diesen Ratgebern erscheint das Alter auch als ein Gegenpol, welcher in einer beschleunigten, dauerfitten, hypermobilen, in einer unruhigen und unge-duldigen Gesellschaft auf kulturelle Werte wie Besonnen-heit, Milde, Dankbarkeit, Vertrauen, Loslassen-Können verweist. Gerade im Alter kommen demnach existenzielle Fragen auf, die ältere Menschen intensiver als jüngere Menschen an sich und die ganze Gesellschaft stellen, und zwar zum Nutzen aller Generationen. Jedoch kann es auch beängstigend im Sinne von Kontrollverlust sein, dem ge-zeichneten Bild des geistig regen, weisen, besonnenen Al-ters nicht zu entsprechen. Anselm Grün ist einer der weni-gen Ratgeber-Autoren, der diese Angst bedenkt, indem er dem Alter Kontrollverlust zugesteht.

3.2.6 Anders altern im Kräftefeld