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Ätiologische Theorien

6 Erklärungen der Jugendkriminalität

6.1 Ätiologische Theorien

Die ätiologischen Theorien begreifen Kriminalität als Verhalten, das durch bestimmte Umwelt- oder persönlichkeitsbezogene Ursachen erklärt werden kann.

Die Jugendgerichtsgesetze von 1923, 1943 und 1953 gingen davon aus, daß Jugendkriminalität die Folge von Sozialisationsdefiziten sei, d.h. das Ergebnis früher Beziehungsstörungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen.123 Die

Dunkelfeldforschung hat ergeben, daß diesem sozialisationstheoretischen Ansatz-punkt keine derart abschließende Aussagekraft zukommt. Jugendtypische Verfeh-lungen sind im Regelfall einmalige oder passagere Ereignisse, die zumeist nicht in eine Karriere schwerer Kriminalität münden.124 Als Folge dieser Erkenntnis wurden in den letzten Jahren staatliche Reaktionen auf derartige

Verhaltensweisen zurückgedrängt, um eine Stigmatisierung des Jugendlichen zu verhindern und auch, weil eine informelle Handhabung den kostengünstigeren, schnelleren und humaneren Umgang mit Jugendkriminalität darstellt.125 Diese Bemühungen werden im Schrifttum unter dem Begriff der „Diversion“

zusammengefaßt (= Ablenkung/Umleitung).126 Für die Jugendlichen, bei denen einzelne Straftaten nur eine entwicklungsbedingte Auffälligkeit darstellen, ist damit auch eine (sozialtherapeutische) Behandlung nicht vonnöten, oft ist sie sogar schädlich. Im folgenden legte die Verf. daher größeren Wert auf die

Erklärungsansätze, die vorwiegend dazu geeignet sind, die Jugendkriminalität der kleinen Gruppe zu begründen, die wiederholt mit einem weit überproportional hohen Anteil an der registrierten Jugendkriminalität auffällt. Nur bei ihnen kommt eine Behandlung überhaupt in Betracht. Die Verf. begnügte sich zudem mit einer knappen Erklärung der Jugendkriminalität, da es zu diesem Thema etliche

Darstellungen in der Literatur gibt127 und zum anderen eine umfassende Darlegung den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit verlagern würde.

123 Dallinger/Lackner 1955, Einf. Rn.6.

124 Siehe Abschnitt A 5.

Walter, JA 1992, S.49; Schaffstein/Beulke 1993, S.8; Pfeiffer 1989, S.10; Heinz, JuS 1991, S.898; in: Wolff/Marek 1990, S.37f.; Kaiser in: Markefka 1989, S.720; Federn in: Günter 1995, S.54; Schwind 1997, S.63.

125 Schaffstein/Beulke 1993, S.180; Göppinger 1997, S.630.

126 Schaffstein/Beulke 1993, S.180.

127 Vgl für viele: Göppinger 1997, S.99ff.; Schwind 1997, S. 94ff.

6.1.1 Störungen im Sozialisationsprozeß

Bei den Jugendlichen, bei denen Kriminalität kein passageres Ereignis darstellt, werden oft tiefgreifende Störungen im Erziehungsprozeß festgestellt.

Auffallend ist zunächst der häufige Wechsel von Bezugspersonen. Zudem erweist sich das Erziehungsverhalten der Eltern dieser Jugendlichen oft als inkonsistent und widersprüchlich, oft auch als indifferent, sehr nachgiebig oder sehr streng.

Außerdem lassen sich schwere Beziehungsstörungen zwischen den Eltern feststellen, die eine Identifikation des Kindes mit den Eltern erschweren. Häufig läßt sich auch ein genereller Mangel an Aufsicht und Zuwendung feststellen.128 Die psychologisch orientierte Literatur gibt über die Folgen dieser Faktoren folgende Erklärungsansätze:

Die Psychoanalyse, die auf Sigmund Freud zurückgeht, vertritt die Ansicht, daß Störungen in der Entwicklung von Ich (dem Selbstbild) und Über-Ich (das weit-gehend unbewußte Gewissen) zu Fehlanpassungen aller Art führen und somit auch als Ursache für Kriminalität bedeutsam sein können. Nach Freud gibt es zwei Möglichkeiten, kriminell zu werden. Einerseits können die kriminologisch relevanten Fehlentwicklungen zu einer mangelnden Über-Ich-Ausbildung führen.

Dies könne zur Folge haben, daß dann die aus dem Es (der Teil des Unbewußten, der ererbt ist, die primitiven Motive, Triebe, Sexualität und Aggression) in das Bewußtsein (Ich) und zur Befriedigung drängenden Triebimpulse nicht mehr kon-trolliert werden könnten, wodurch es zu Kriminalität kommen könne.

Andererseits könne das Über-Ich jedoch auch zu stark ausgeprägt sein, mit der Folge, daß dann aufgrund der verdrängten unbefriedigten Triebimpulse

neurotische Störungen entstehen könnten, was im äußersten Fall zur Befriedigung des unbewußten Strafbedürfnisses in der Begehung von Straftaten führen

könne.129

Eng verwandt mit den psychoanalytischen Ansätzen sind die Kontrolltheorien.

Ihr bekanntester Vertreter ist Reckless. Er stellt den inneren Halt, das

Selbstkonzept, dem äußeren Halt, den das Individuum durch Familie und Freunde

128 Schwind 1997, S.188ff.; Göppinger 1983, S.43f.; Pfeiffer 1989, S.18f.; Egg 1979, S.40ff.;

Kury in: Kury 1982, S.105; Seitz in: Seitz 1983, S.52f.

129 Schnell in: Stalmann 1982, S.56ff.; Erikson 1971, S.185ff.

erfährt, gegenüber. Wenn einer von beiden schwach sei, müsse der andere um so stärker sein, damit der Jugendliche nicht kriminell werde. Sind jedoch der äußere und innere Halt abgeschwächt, sei eine Straffälligkeit zu erwarten.130 Hirschi vertrat die Ansicht, daß folgende Einflußfaktoren den inneren und äußeren Halt bestimmen: „attachment to others“ (emotionale Bindung an andere Menschen),

„belief in the moral validity of rules“ (Akzeptanz des konventionellen gesellschaftlichen Wertesystems), „involvement in conventional activities“

(Einbindung in Gruppen, die das Straffälligwerden erschwert) und „commitment to achievement“ (Abwägung des Mißerfolgs als Kosten -Nutzenabwägung).131 Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, daß die Kontrolltheorien davon ausgehen, daß ein festes Netz informeller sozialer Beziehungen, Bindungen und Verantwortlichkeiten zur Verhinderung von Delinquenz beiträgt.132

Nach den Lerntheorien wird kriminelles Verhalten gelernt wie jedes andere Verhalten auch.133

Die Lerntheorien gehen vor allem auf die Theorie der differentiellen Assoziation von Edwin H. Sutherland zurück. Er geht davon aus, daß das Lernen, das für Kriminalität Voraussetzung ist, sich in Gruppen vollzieht, sich sowohl auf bestimmte praktische Fertigkeiten als auch auf die Normen bezieht, die in der jeweiligen Gruppe gelten und sich in Abhängigkeit davon ausbildet, ob die herr-schenden Normen in der jeweiligen Gruppe als positiv oder negativ bewertet werden. Werden die Gesetze innerhalb der Bezugsgruppe als negativ beurteilt, könne es zu Kriminalität kommen.134

Ein weiterer lerntheoretischer Ansatz wird von Eyseneck vertreten. Seiner Ansicht nach besteht Erziehung in einem Konditionierungsprozeß, in dem der Mensch durch bestimmte Lernprozesse sein Gewissen und das Bewußtsein für soziale Verantwortlichkeit erwirbt. Ob Straffälligkeit auftritt oder nicht, hänge somit vom Gelingen dieser Konditionierung im Rahmen der Erziehung ab.135

130 Reckless 1964, S.103ff.

131 Hirschi 1974, S.16ff.

132 Lösel, ZfStrVo 1983, S.75.

133 Sutherland in: Sack/König 1968, S.396ff.; Sutherland/Cressey 1969, S.429ff.; Cressey in:

Sack/König 1968, S.402ff.

134 Sutherland 1939, S.4ff., 8ff.; Sutherland in: Sack/König 1968, S.397.

135 Eysenck 1977, S.161ff.

In der soziologischen Literatur hingegen wird die Ansicht vertreten, daß sich durch die familiale Desorganisation der innere Zusammenhalt der Familie weit-gehend auflöst mit der Konsequenz, daß sich die Jugendlichen andere Bezugs-gruppen suchen, mit denen sie sich identifizieren können. Insbesondere bei Jugendlichen, die aus sozial randständigen Familien kommen, könne dies zum Anschluß an delinquente Subkulturen führen.136 Die Gruppe vermittele den Jugendlichen das Gefühl von Zusammengehörigkeit, Stärke und Selbstvertrauen.

Auf diese Weise versuchen sie, die für sie belastende familiäre und soziale

Situation zu kompensieren. Die Jugendlichen, die aus der unteren sozialen Schicht kommen, hätten zudem aufgrund der Unfähigkeit, den Standards der bestehenden Kultur zu entsprechen, regelmäßig Statusprobleme und Probleme der

Selbstachtung. Die delinquente Gruppe biete oft ein alternatives Statussystem, das der der herrschenden Kultur entgegengesetzt sei. Ihr Normengeflecht richte sich zumeist ausdrücklich gegen die übliche Rechts- und Sozialordnung. In der Gruppe senke ferner noch der Gruppendruck die Hemmschwelle zur Begehung von

Straftaten.137

6.1.2 Anomietheorie

Die Anomietheorie oder die „Theorie der strukturell-funktionalen Bedingtheit der Kriminalität“, deren grundlegende Gedanken auf Durkheim zurückgehen, bringt Straftaten mit Bedingungen der Sozialstruktur in Verbindung. Grundsätzlich sei Verbrechen die normale Kehrseite sozialer Regelungen, in denen sich die innere Struktur der Gesellschaft gegenüber Abweichungen manifestiere.138 Nicht normal sei jedoch ein sprunghaftes Ansteigen der Kriminalitätsrate. Diese Entwicklung sei Ausdruck einer Normlosigkeit, die Durkheim als Anomie bezeichnet. Anomie sei ein Zustand der Regellosigkeit, der zu sozialen Desintegrationserscheinungen führe.139 Als Zeit der Regellosigkeit wird auch die Jugendzeit gesehen, da in dieser Zeit eine schrittweise Ablösung von den Bezugspersonen und ihren

136 Cohen in: Wolfgang/Savitz/Johnston 1966, S.248; Yablonsky in: Wolfgang/Savitz/Johnston 1966, S.307ff.

137 Cohen 1967, S.25ff.; Cohen/Short in: Sack/König 1968, S.373; Cohen in:

Wolfgang/Savitz/Johnston 1966, S.248; Yablonsky in: Wolfgang/Savitz/Johnston 1966, S.307ff.

138 Durkheim in: Sack/König 1968, S.3ff.

139 Durkheim 1973, S.273ff.; König in: Durkheim 1961, S.56f.

Normen stattfinde und eine Festigung von neuen eigenen Normen erst noch stattfinden müsse.140

Robert K. Merton erweiterte diese Theorie, indem er primär der Frage nachging, warum die Häufigkeit abweichenden Verhaltens in den verschiedenen sozialen Schichten variiert. Seine zentrale Aussage ist, daß abweichendes Verhalten als Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und Bedürfnissen und den rechtlich anerkannten Möglichkeiten, diese Ziele zu verwirklichen, betrachtet werden kann.141 Für die Situation der Jugendlichen

− insbesondere der unteren sozialen Schicht – sei kennzeichnend, daß sie bereits dem Konsumdruck der Gesellschaft unterlägen, ohne daß sie über die entspre-chenden materiellen Mittel verfügen. Merton vertritt die Ansicht, daß die daraus erwachsenden Straftaten vorwiegend Eigentums- und Vermögensdelikte sind, die die Wünsche erfüllen, die die Jugendlichen auf legalem Wege nicht erreichen.142 Dies erkläre den hohen Anteil dieser Delikte im Bereich der Jugenddelinquenz (ca.4/5 der Straftaten, die zur Anzeige gelangen143).144 Als Folge der anhaltenden Versagung könnten zudem Aggressionen entstehen, die irrationale Aggressions-delikte gegen Sachen und Personen zur Folge haben können, so z.B. Vanda-lismus.145