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Archiv "Vor etwas mehr als hundert Jahren: Kassenärzte kündigten ihre Verträge" (07.04.2006)

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D

er Antrag des Barmer Ärztever- eins zu Tagesordnungspunkt 7 des 31. Deutschen Ärztetages hatte es in sich. Die dem Deutschen Ärztever- einsbund angehörenden Vereine wur- den aufgefordert, „dass dieselben alle den ärztlichen Interessen widerspre- chenden Verträge [mit den Kranken- kassen] zum frühest möglichen Termin kündigen und von nun an nur noch sol- che abschliessen lassen, welche die freie Arztwahl und genügende Honorierung bieten“. Der im September 1903 im Kölner Gürzenich zusammentretende Deutsche Ärztetag gab sich kämpfe- risch. Bisher hatten die Honoratioren des Ärztevereinsbundes dem seit 1883 zunehmenden Nachfragemonopol der Krankenkassen wenig entgegenzuset- zen vermocht. Mehr oder weniger diffus hatte man wahrgenommen, dass sich hier eine dritte Partei in das bisher aus- schließliche Arzt-Patienten-Verhältnis hineindrängte. Mit dem 1900 gegründe- ten Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen In- teressen (Hartmannbund) hatte sich die Ärzteschaft eine nach dem Vorbild der Gewerkschaften agierende Organisati- on geschaffen, die den Ansprüchen der Krankenkassen entgegentrat.

Der Vorstoß des Barmer Ärzte- vereins zeigte Wirkung; die Resolu- tion des 31. Deutschen Ärztetages wurde sogar noch schärfer for- muliert: Die dem Ärztevereins- bund angehörenden Vereine wurden aufgefordert, schleu- nigst und energisch alle Maßnahmen der Selbsthilfe

zur Durchsetzung der ärztlichen Forderun- gen bei den Krankenkassen zu ergreifen.

Die Kölner Bezirksgruppe des Hart- mannbundes arbeitete zeitgleich zum Ärztetag darauf hin, dass alle 265 Kölner Ärzte ihre bestehenden Verträge mit den Krankenkassen zum 1. Januar 1904 kündigten, um so die For-

derung nach freier Arzt- wahl der Versicherten und besserer Honorie- rung der ärztlichen Lei- stung durchzusetzen. Um alle Kölner Ärzte und insbesondere diejenigen, die fixierte Einkünfte aus ihrer kassenärztlichen Arbeit erhielten, zu ei-

nem solchen Schritt zu bewegen, waren umfassende organisatorische Vorarbei- ten nötig. In Geheimverträgen wurde den Ärzten, die bei freier Arztwahl der Versicherten finanzielle Einbußen zu befürchten hatten, ein festgelegtes Mindesteinkommen in den Folgejahren garantiert. Eine Verpflichtung der Ärzte zur fristgemäßen Kündigung ihrer Ver- träge mit den Krankenkassen sollte zu- dem nur dann bestehen, wenn minde- stens 95 Prozent aller Kölner Ärzte ei- ne entsprechende Erklärung unterschrieben hatten.

Wenig mehr als zwei

Wochen nach Beendigung des Kölner Ärztetages hatten die Aktivisten des Hartmannbundes mit einer Beteiligung von 92 Prozent der Ärzte das vorgegebe- ne Ziel fast erreicht. Wollte man die vor- geschriebene Kündigungsfrist von drei Monaten einhalten, blieb nun aber keine Zeit mehr, in mühevol- ler Kleinarbeit die noch fehlenden Ärzte von der Notwendigkeit eines Streiks zu überzeugen.

Eine Versammlung der Kölner Kassenärzte am 29. September 1903 be- schloss, die Vertragsbe- ziehungen zu den Kran- kenkassen zum 1. Januar 1904 zu beenden. Wenig später hatte man die ursprünglich avisierte Marke von 95 Prozent überschritten. Die weite- ren Verhandlungen mit den Kranken- kassen wurden einer aus zwölf Ärzten bestehenden Kommission übertragen.

Die Forderungen der Ärzte – freie Arzt- wahl, Einsetzung eines Schiedsgerichts, deutlich bessere Honorierung – wurden vom Krankenkassenverband des Auf- sichtsbezirks Köln zurückgewiesen. Eine Einigung vor dem zum 1. Januar 1904 be- ginnenden vertragslosen Zustand schien kaum mehr möglich. Auf ärztlicher Seite hatte man aufgrund der unter großem Einsatz gesammelten Verpflichtungser- klärungen die Gewissheit, dass es zu kei- nen separaten Vertragsabschlüssen mit Kölner Ärzten kom- men würde. Aus früheren P O L I T I K

Vor etwas mehr als hundert Jahren

Kassenärzte kündigten ihre Verträge

Mit einem Streik zwangen die Kölner Ärzte in den Jahren 1903/04 die Krankenkassen zu Zugeständnissen bei der Honorierung und der freien Arztwahl der Versicherten.

Mit „Cavete“-Listen im

„Ärztlichen Vereinsblatt“

warnte der Hartmann- bund Ärzte vor einer Ar- beitsaufnahme in be- streikten Bezirken.

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A892 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 14⏐⏐7. April 2006

„... dass es nicht der Heimtücke rücklings etwa einbrechender Aerzte gelinge, das Häuflein der Streiter

schmählich nieder-

zumachen.“

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Streiks hatte man gelernt, dass es in erster Linie darauf ankam, den Einsatz von vertragsbereiten Ärzten, die die Krankenkassen von außerhalb als „Not- helfer“ verpflichteten, zu verhindern.

Mit den „Cavete-Listen“, die seit 1903 in jeder Ausgabe des „Ärztlichen Vereins- blattes für Deutschland“ veröffentlicht wurden, warnte der Hartmannbund Ärzte vor der Aufnahme einer kassen- ärztlichen Tätigkeit in den Orten, wo es Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen gab. „Möge ande- rerseits jeder deutsche Arzt, der auf seine und seines Standes Ehre hält, ein- gedenk bleiben seiner Pflicht, allen ärzt- lichen Kämpfern nach Kräften beizu- stehen, dass es nicht der Heimtücke rücklings etwa einbrechender Aerzte ge- linge, das Häuflein der Streiter schmäh- lich niederzumachen.“

Die kämpferische Entschlossenheit der Ärzte, die in dieser Textstelle zum Ausdruck kommt, mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass es den Kran- kenkassen in Köln trotz intensiver Bemühungen nicht gelang, für die medizinische Versorgung der Kölner Bevölkerung zu Beginn des Jahres 1904 eine ausreichend große Anzahl von

„Nothelfern“ zu rekrutieren. Ärztliche Streikbrecher hatten sicher mit ernsten Konsequenzen für ihre weitere beruf- liche Laufbahn zu rechnen, sodass die Behauptung der Streikführenden nicht unwahrscheinlich erscheint, dass sich unter den wenigen „Nothelfern“, die für Köln angeworben werden konnten, auch einige zwielichtige Elemente, die nichts zu verlieren hatten, befanden. Da die Krankenkassen die medizinische Versorgung in Köln – anders als zuvor behauptet – zu Beginn des Jahres 1904 nicht sicherstellen konnten und die Kölner Ärzte ihre Drohung wahr mach- ten und nur bei dringenden Notfällen tätig wurden, schritt bereits im Januar die Aufsichtsbehörde in Person des Re- gierungspräsidenten ein und verlangte von den Kölner Krankenkassen, binnen weniger Tage zusätzlich zu den bereits rekrutierten „Nothelfer“-Ärzten, die mit der Versorgung von mehr als 100 000 Versicherten völlig überfordert waren, noch mindestens dreißig weitere Ärzte einzustellen. Dieser Forderung konnten die Krankenkassen nicht nachkommen, und so wurde bereits Ende Januar 1904

auf Druck des Regierungspräsidenten ein Vertrag zwischen den Kölner Ärz- ten und den Krankenkassen abge- schlossen, mit dem die Forderungen der Streikenden weitestgehend erfüllt wurden: Alle in Köln niedergelassenen Ärzte, die Mitglied des Allgemeinen ärztlichen Vereins waren und sich des- sen Vorschriften über kassenärztliche Tätigkeit unterwarfen, wurden als Kas- senarzt zugelassen; das pauschale Ho-

norar pro Kassenmitglied wurde auf fünf Mark, bei Familienversicherung auf 15 Mark erhöht. Die ärztlichen „Not- helfer“ wurden aus ihren Dienstverträ- gen mit den Krankenkassen entlassen;

allerdings – und das bedeutete einen Wermutstropfen für die erfolgreichen Ärzte – musste der Allgemeine ärztliche Verein eine nicht geringe Abfindungs- summe über einen Zeitraum von fünf Jahren aufbringen. Thomas Gerst P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 14⏐⏐7. April 2006 AA893

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achdem auch ich mich dem Streiken hingegeben habe, nutze ich den späten Abend dazu, die Praxis aufzuräumen, liegen gebliebene Anfra- gen zu beantworten, überfällige exotische Diagnosen zu stellen. Weit komme ich nicht, es klingelt an der Praxistür; obwohl keine Sprechstunde ist, mache ich auf. Es könnte ja ein verantwortungsvoller Politiker vor mir stehen, frohe Kunde über Bürokratieabbau und wirtschaftliche Entlastung verbreitend. Aber es sind nur die frechen Neffen, die wissen wollen, warum ich streike. Etwas pikiert entgegne ich ihnen, dass Ärzte mittlerweile nicht mehr so viel verdienen wie Grundschullehrer, und das sei in Anbetracht der Verantwortung . . . „Wenn du so jemanden wie mich unterrichten müsstest, könnte das Schmerzensgeld gar nicht hoch genug sein“, kräht der jüngere Neffe. Ich sehe ein, dass diese Erklärung therapeutisch zwecklos ist und er- läutere ihnen, dass das Ansehen der niedergelassenen Ärzte unter das von Müllwerkern gesunken ist, dass wir . . . „Das geschieht euch ganz recht“, meint der ältere Neffe, „was glaubst du, wie oft ich nachts schon meinen

vollen Müllbeutel hinter eurem Tatütata hinterherwerfen wollte.“ – Das war wohl auch ein schräger Vergleich, der wenig geeignet war, der Jugend den ärztlichen Verdruss zu vermitteln. Also erkläre ich den Neffen, dass wir Ärzte am Wochenende für einen Notdiensteinsatz nur zehn Euro bekom- men würden, während andere, wie Sanitärinstallateure oder Fernsehrepa- rateure, für 50 Euro pro Stunde nicht mal mit den Füßen scharren würden.

„Der Fernsehmonteur kriegt meine Kiste wenigstens zum Laufen, Onkel Thomas. Und ehrlich gesagt: Wenn ihr so wenig Geld verdient, kann das, was ihr da macht, eigentlich auch gar nichts mehr taugen, hab’ ich Recht?

Oder willst du mir weismachen, ihr könntet von dem wenigen Geld noch EKGs oder Ultraschalls bezahlen?“ Jetzt reicht’s, ich habe die Schnauze voll und mache mit den Neffen das, was ich mit all den anderen, die mir das Leben schwer machen, nicht ma- chen darf: Ich schmeiße sie hochkant hinaus. Als die beiden die Praxis verlassen, ruft mir der Ältere hinter- her: „Hey, Onkel Thomas, hier steht ein Politiker, der will dich für deine Arbeit bezahlen und dir alle Geräte schenken, die du so brauchst!“

RAUS! Verarschen tu’ ich mich schon selbst.

Dr. med. Thomas Böhmeke

Streiktag

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