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er Titelaufsatz „Fast am Ziel“ und die Leserbriefe zum Beitrag „Be- drohliche Konsequenzen in den chirurgischen Fächern“ in DÄ 33/2002 erwecken den Eindruck, dass viele Kol- legen die Diskussion über die unmögli- chen Arbeitszeiten unseres Berufsstan- des schon als sichere Fahrkarte in den beruflichen Garten Eden sehen. Schein- bar betrachten viele die Arbeitszeitpro- blematik sehr vereinfacht: Maximal 49 Stunden bezahlter und dokumentierter Arbeitszeit pro Woche, und der Beruf Arzt macht wieder Spaß! Dabei werden viele Probleme außer Acht gelassen:1. Es dürfte noch mindestens fünf bis zehn Jahre dauern, bis eine Än- derung der ärztlichen Arbeitszeit er- reicht wird.
2. Die durch die Reduktion der wö- chentlichen Arbeitszeit frei werdenden Stellen müssen besetzt werden. Einen Mehrbedarf von 15 000 bis 20 000 Ärz- ten können wir aber auf absehbare Zeit nicht decken, sind doch derzeit nur etwa 7 500 Ärzte arbeitssuchend.
3. In den Jahren bis 2010 werden mehreren Prognosen zufolge jedes Jahr zunehmend mehr niedergelassene Kol- legen in den Ruhestand gehen. Sollte der klinische Sektor nicht einen unvor- hersehbaren Gewinn an Attraktivität verbuchen, dann werden in den kom- menden acht Jahren geschätzte 50 000 Ärzte aus den Krankenhäusern in den niedergelassenen Bereich wechseln (oder aber dort kommt es zu kata- strophalen Engpässen). Dazu kommen dann noch die Abgänge von klinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten in den Ruhestand oder den Mutterschutz.
Dass ins Ausland abgewanderte deut- sche Ärzte wieder in ihre Heimat zurückkehren, ist nur dann zu erwarten, wenn auch die Qualität der ärztlichen Weiterbildung verbessert und der gro- teske Anstieg bürokratischer Zwangs- arbeiten wieder abgebaut werden.
4. Mehr Ärzte bedeutet auch mehr Gehaltskosten, denn sehr viele Stunden werden seit Jahren ohne Bezahlung ab- geleistet. Dies wird mindestens eine Milliarde Euro pro Jahr kosten.
5. Viele Verwaltungsleiter und Chef- ärzte werden versuchen, die Anzahl neu zu schaffender Stellen dadurch zu be- grenzen, indem zum Beispiel die Zahl der Patienten pro Arzt deutlich erhöht wird. Einem Argument, dass eine ganze Station mit beispielsweise 30 Patienten nicht von einem Arzt versorgt werden kann, werden sie dann entgegenhalten, dass der Arzt seine Arbeit halt effekti- ver gestalten müsste, dann ginge das schon.
6. Schon heute erleben viele Assi- stenten in den Kliniken, dass sie kei- ne brauchbare Weiterbildung erhalten, denn „Zeit ist Geld“. Wie wird das in
Zukunft aussehen, wenn eine Milliar- de Euro pro Jahr wieder hereingeholt werden muss? Zudem sind auch Lehre und Forschung in Gefahr, die oft genug von Assistenten ausgeführt werden.
7. Neue Arbeitszeitmodelle werden notwendig, Schichtdienste mit „schrä- gen“ Arbeitszeiten werden an der Ta- gesordnung sein. Hinzu kommt für viele Kollegen eine Minderung des Einkom- mens, an das sie sich in vielen Jahren ge-
wöhnt haben. Die Beschränkung auf ma- ximal 49 Arbeitsstunden pro Woche wür- de – um die konkrete Situation des Au- tors als Beispiel anzuführen – bedeuten, einen Nebenerwerb durch Tätigkeit als Notarzt zu verlieren, der deutlich besser bezahlt ist als die Stelle als Assistenzarzt und nebenbei auch noch Spaß macht (was man von der routinemäßigen Ar- beit nicht behaupten kann).
Entrümpeln und besser bezahlen
Die oben genannten Punkte verdeut- lichen, dass ein blindes Fordern von schnellstmöglicher Umsetzung des EuGH- Urteils vom 3. Oktober 2000 mehr Pro- bleme bringt, als es löst. Um klarzu- stellen: Kaum jemand möchte – wie aktuell gegeben – 80 bis 90 Stunden pro Woche arbeiten. Den meisten dürf- te eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit durch „Entrümpelung“ der ärztlichen Tätigkeiten (ICD-Verschlüs- selungen, Dokumentationen zur Qua- litätssicherung, bessere Verzahnung mit dem niedergelassenen Bereich zur Ver- meidung von „Hausarztvertretung“ im Bereitschaftsdienst) und eine bessere Bezahlung der Arbeit nachts, an Wo- chenenden und Feiertagen lieber sein als eine Arbeit, die zwar auf dem Papier auf 49 Wochenstunden beschränkt ist, aber die bereits genannten Probleme beinhaltet.
Ein Kompromiss zwischen den ärztli- chen Forderungen und den Interessen der Arbeitgeberseite wäre die beste Lö- sung. Man muss aber Realist genug sein, um zu wissen, dass deutsche Arbeitge- ber, ohne dass man ihnen die Pistole auf die Brust setzt, einem kein Stück weit entgegenkommen. Also bleibt wohl nur der Weg über die Gerichte. Bei einem Sieg aber ist zu fürchten, dass wir alle verlieren. Michael Riediger P O L I T I K
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A2754 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4218. Oktober 2002
Arbeitszeitgesetz
Keine Fahrkarte in den Garten Eden
Ein blindes Drängen auf schnellstmögliche Umsetzung des EuGH-Urteils, wonach Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit zu werten ist, reicht nicht aus.
Das Titelbild von DÄ 33 suggeriert, dass die Arbeitszeitproblematik bald gelöst wird.