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Archiv "Versorgung von Obdachlosen: „Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr geht ...“" (13.02.1998)

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ontags bis freitags von acht bis sechzehn Uhr versorgt die Ärztin Dr. med. Jenny De la Torre Castro Obdachlose in ei- nem Raum im Untergeschoß des Berliner Hauptbahnhofs – anonym und ohne Krankenversichertenkarte.

„Das ist hier kein Urlaub“, sagt sie.

Während einer Hospitation in einer Klinik habe sie sich dagegen „wie auf Mallorca“ gefühlt. Doch sie ist von ih- rer Arbeit überzeugt. Zusammen mit drei Krankenschwestern, einer Arzt- helferin und einer Sekretärin küm- mert sie sich um bis zu 30 Patienten am Tag.

Der Arzt

kommt zum Patienten

Das Projekt „Niederschwellige medizinische und sozialpflegerische Versorgung Obdachloser“ läuft seit Juni 1994. Träger ist die MUT Gesell- schaft für Gesundheit mbH, ein ge- meinnütziges Unternehmen der Ärz- tekammer Berlin. Die Lohnkosten für De la Torre und ihre Mitarbeite- rinnen bezahlen das Arbeitsamt und der Berliner Senat. Medikamente, Verband- und andere Verbrauchsma- terialien erhält die Obdachlosenpra- xis durch Spendenaufrufe an die Be- völkerung und von Ärzten und Apo- thekern. Das Deutsche Rote Kreuz stellt den fünfzehn Quadratmeter großen Raum im Hauptbahnhof zur Verfügung. Die Idee, die dahinter- steht: Der Arzt muß zum Patienten kommen.

„Hier ist man als ganzer Mensch gefragt und gefordert“, beschreibt die

Kinderchirurgin ihre Arbeit. Inzwi- schen hat De la Torre in rund 12 500 Konsultationen mehr als 2 000 Pati- enten behandelt. Oft mußte sie die Obdachlosen aber auch an Rettungs- stellen, zum Facharzt oder in die Des- infektionsstelle überweisen.

Am Hauptbahnhof gehe es zu

„wie in einer ganz normalen Arztpra-

xis“. Den respektvollen Umgang mit- einander hält die gebürtige Peruane- rin für sehr wichtig. Scham und Schwellenängste oder das Fehlen der

„formalen“ Voraussetzungen seien oft die Hinderungsgründe, warum Obdachlose keine Arztpraxis auf- suchten. Nachdem es am Anfang durchaus Berührungsängste gegeben habe, seien ihr die Patienten für ihre

Hilfe nun sehr dankbar und wollten die Sprechstunde „auch nicht mehr missen“. Nach mehr als drei Jahren Arbeit bilanziert sie: „Wir haben Ver- trauen geschaffen. Einige Obdachlose sind sogar ins normale Leben zurück- gekehrt.“ Auch die Gewalt unter den Obdachlosen habe inzwischen abge- nommen.

Die meisten ihrer Patienten sind multimorbide. „Viele kommen erst hierher, wenn es überhaupt nicht mehr geht“, weiß die Ärztin. Erste Auswertungen der Krankenunterla- gen ergaben, daß Hauterkrankungen, Unfälle und Gewaltfolgen, Atem- wegserkrankungen und HNO-Er- krankungen die häufigsten Diagno- sen waren. Dazu kommen Alkohol- probleme, psychische Störungen und psychosomatische Erkrankungen wie Schlafstörungen, Angst, Depressio- nen und Suizidversuche. Der Anteil der behandelten Männer ist mit 86 Prozent deutlich höher als der der Frauen. Die meisten Obdachlosen

sind zwischen 31 und 40 Jahren alt.

Unter den Frauen ist jedoch rund ein Fünftel jünger als 20 Jahre, „was auf einen erschreckend hohen Anteil sehr junger Frauen hindeutet, die auf der Straße leben“.

Die MUT Gesellschaft ist zur Zeit auf der Suche nach einem ande- ren Kostenträger für das Projekt.

Denn am 30. April läuft die finanziel- A-330 (22) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 7, 13. Februar 1998

P O L I T I K AKTUELL

Versorgung von Obdachlosen

„Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr geht ...“

Von ihren Patienten wird sie „der Engel aus den

Katakomben“ genannt, die Kollegen zollen ihr Respekt:

Die Ärztin Dr. Jenny De la Torre Castro betreut seit

mehr als drei Jahren Obdachlose im Berliner Hauptbahnhof.

M

„Hier geht es zu wie in einer ganz normalen Arztpraxis“: In dem 15 Quadratmeter großen Raum im Berli- ner Hauptbahnhof hat die Ärztin Dr. Jenny De la Torre Castro schon mehr als 2 000 Obdachlose behandelt.

Foto: Johannes Aevermann

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A-331

P O L I T I K AKTUELL

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 7, 13. Februar 1998 (23) le Förderung aus. „Die Praxis muß auf

jeden Fall aufrechterhalten werden“, sagt De la Torre, die im Oktober ver- gangenen Jahres für ihr Engagement mit dem Verdienstorden der Bundes- republik Deutschland ausgezeichnet worden ist. Unklar ist auch noch, ob sie weiterhin in ihrem Praxisraum ar- beiten kann. Der bisherige Mietver- trag zwischen der Deutschen Bahn AG und dem Deutschen Roten Kreuz läuft aus.

Ermächtigung zur ambulanten Versorgung

„Viele Kollegen haben mich am Anfang gefragt, wie ich das aushalte“, erinnert sich die Ärztin. Doch inzwi-

schen bekomme sie die notwendige Unterstützung für die medizinische Betreuung der Obdachlosen – so auch von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin. Seit dem 1. Dezember 1997 ist sie zur ambulanten Versorgung zuge- lassen. Danach kann De la Torre Lei- stungen für diejenigen Patienten mit der KV abrechnen, die gesetzlich krankenversichert sind – und das sind immerhin fast 20 Prozent ihrer Klien- tel, überwiegend Rentner und Ar- beitslose.

Zahlreiche Berliner Ärzte sind zudem einem Spendenaufruf der KV gefolgt: Allein in den ersten Januarta- gen gingen rund 5 000 Medikamen- ten-Ärztemuster, Kompressen und Inhalationsgeräte ein. Der KV-Vorsit- zende, Dr. med. Manfred Richter- Reichhelm, wertet dies als „Ausdruck der Solidarität mit einer Kollegin, die unter sehr schwierigen Bedingungen denjenigen Patienten die notwendige medizinische Versorgung ermöglicht, die sonst kein Praxiswartezimmer mehr betreten“. Dr. Sabine Glöser

Die MUT Gesellschaft für Gesundheit mbH hat ein Spendenkonto für ihr Berli- ner Projekt eingerichtet:

Berliner Sparkasse BLZ: 100 500 00 Kto.-Nr.: 13 333 330

Kennwort: Obdachlosenhilfe

Betriebskrankenkasse IHV

Marketing

mit der Naturheilkunde

Eine gesetzliche Krankenkasse auf alternativem Kurs

ie Betriebskrankenkasse In- dustrie, Handel, Versicherun- gen (BKK IHV) will sich als

„Die Naturheilkasse“ etablieren: Ne- ben der Schulmedizin erstattet sie ihren bundesweit rund 11 000 Versi- cherten nun auch die Kosten für be- stimmte Verfahren der Naturheilkun- de – und die stehen nicht im Lei- stungskatalog der Gesetzlichen Kran- kenversicherung.

Zusammen mit dem Zentralver- band der Ärzte für Naturheilverfah- ren hat die Kasse eine „erste Positivli- ste“ erstellt. Sie umfaßt beispielsweise Akupunktur, Hydrotherapie, Neural- therapie, physikalische Therapien und Ernährungstherapie. Eine ho- möopathische oder naturheilkundli- che Erstanamnese wird mit einer Pau- schale von 102 DM vergütet; auch homöopathische Arzneimittel gehö- ren zum Angebot. Voraussetzung für eine Kostenübernahme ist, daß die Leistungen von einem Kassenarzt mit der Zusatzbezeichnung „Naturheil- verfahren“ erbracht oder verordnet werden. Die Erstattungssätze orien- tieren sich an der Amtlichen Gebüh- renordnung für Ärzte (GOÄ).

„Gesetzliche Möglichkeiten ausgeschöpft“

Grundsätzlich darf eine gesetzli- che Krankenkasse nur Leistungen des GKV-Katalogs bezahlen. „Wir sind die erste Kasse, die sehr kon- struktiv mit der vom Gesetzgeber geschaffenen Möglichkeit des Ko- stenerstattungsverfahrens umgeht“, sagt der Vorstandvorsitzende der BKK IHV, Heinz-Werner Stumpf.

Die klassischen Naturheilverfahren ließen sich nicht ignorieren und stün- den wissenschaftlich gleichberechtigt neben der Schulmedizin. Seiner An-

sicht nach wird die Kostenübernah- me durch § 2 SGB V legitimiert, der das Leistungsspektrum der Gesetzli- chen Krankenversicherung definiert.

„Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besondereren Thera- pierichtungen sind nicht ausgeschlos- sen“, heißt es dort. Zudem habe der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen, der über die Anwen- dung neuer Methoden in der kas- senärztlichen Versorgung entschei- det, die speziellen Verfahren noch nicht abgelehnt, argumentiert der Vorsitzende.

Eine finanzielle Mehrbelastung fürchtet die Kasse nicht. Die neuen Leistungen würden nicht zusätzlich, sondern zu Lasten der Schulmedizin erbracht. „Wir sind der Überzeu- gung“, sagt Stumpf, „die Krankheits- kosten langfristig zu senken.“ Das Konzept, das dahintersteht: Bei den Versicherten, die sich für „Die Natur- heilkasse“ entscheiden, werden ein hohes Gesundheitsbewußtsein und präventives Verhalten vermutet.

Als besonderen Erfolg wertet der Vorsitzende des Zentralverbandes der Ärzte für Naturheilverfahren, Dr. med. Antonius Pollmann, daß die Naturheilkunde jetzt auch Kassen- patienten zugute kommen kann. Der Verband werde seinen rund 10 000 Mitgliedern empfehlen, nach der er- arbeiteten Positivliste abzurechnen.

Weiterer Partner der BKK IHV ist der Bundesfachverband Deutscher Reformhäuser. Er informiert in sei- ner Kundenzeitschrift über das neue Angebot. Dies habe eine lebhafte Nachfrage ausgelöst, berichtete der Vizepräsident des Verbandes, Hans- Walter Goll. „Einige tausend Interes- senten haben sich bereits gemeldet.

Unser neues Dienstleistungsangebot antwortet also auf ein klares Kunden- bedürfnis.“ Dr. Sabine Glöser

D

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