A 396 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 10|
6. März 2015LÄNDERVERGLEICHE
Doch kein OP-Weltmeister
In den Länderrankings der OECD über die Häufigkeit chirurgischer Eingriffe steht Deutschland weit vorn. Aber ohne Berücksichtigung der Unterschiede in der Altersstruktur sind die Vergleiche nicht aussagefähig, wie eine neue Studie zeigt.
D
er Vorwurf lautet, in Deutsch- land werde viel zu viel ope- riert. Wer Widerspruch wagt, hat keinen einfachen Stand. Denn die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) legte 2013 in zwei Ar - beitspapieren Daten vor, die diese These vom „Operationsweltmeister Deutschland“ stützen. Schon vor zwei Jahren wiesen Experten auf Defizite in der Datenqualität hin.Sie legten nahe, den schlagzei- lentauglichen Länderrankings mit großer Skepsis zu begegnen.
Schließlich unterschieden sich die 34 OECD-Mitgliedsländer nach Größe, Wirtschaftskraft und nicht zuletzt Entwicklungsstand ihrer Gesundheitssysteme stark vonei- nander. Ein entscheidender Punkt sei die unterschiedliche Altersstruk- tur in den Ländern. Das Wissen- schaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP) hat jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass allein aus diesem Grund die
OECD-Vergleiche zur Häufigkeit chirurgischer Eingriffe und zur Hö- he der Gesundheitsausgaben in ih- rer Aussagekraft begrenzt sind.
Die bereinigte Statistik
In der Studie „Die Aussagekraft von Länderrankings im Gesund- heitsbereich“ arbeiten Verena Fin- kenstädt und Dr. Frank Niehaus dieses Manko auf. In der unbe - reinigten OECD-Statistik weist Deutschland mit 287 Fällen pro 100 000 Einwohner für 2012 nach der Schweiz die zweithöchste Zahl von Hüftersatz-Operationen auf. In Österreich wurden fünf, in Schwe- den 16, in Frankreich 20 und in Dä- nemark 21 Prozent weniger Hüften- doprothesen eingesetzt. Zur besse- ren Vergleichbarkeit haben die For- scher die deutschen Fallzahlen je Altersgruppe und Geschlecht rech- nerisch auf die Altersstruktur der anderen Länder übertragen. Die Gegenüberstellung dieser hypothe- tischen mit den tatsächlichen OP-
Fallzahlen ergibt ein neues, nun um die Altersstruktur bereinigtes Ran- king – mit spannenden Ergebnis- sen: Österreich weist nun nicht we- niger, sondern 7,5 Prozent mehr Hüfttoperationen auf als Deutsch- land, das in der Rangliste auch von Norwegen und Luxemburg überholt wird. Die Schweiz bleibt auf Rang 1, aufgrund der relativ jungen Schweizer Bevölkerung altersberei- nigt nun mit einem großen 24-Pro- zent-Abstand zu Deutschland. Die USA, die aufgrund der Rohdaten um 29 Prozent zurücklagen, weisen nun einen ähnlich hohen Wert wie Deutschland auf. Auch Schweden, Dänemark, Belgien und die Nieder- lande rücken deutlich näher heran.
Die Altersstandardisierung führt auch bei anderen chirurgischen Ein- griffen zu einem veränderten Bild.
Bei Koronarbypass-Operationen rutscht Deutschland von Rang 3 auf 10, bei Hernien-OPs von 6 auf 12, bei der transurethralen Prostataent- fernung von 4 auf 8. Auch auf den Vergleich der Gesundheitsausgaben hat das Institut die Altersstandardi- sierung angewendet: Deutschland rutscht dabei von Rang 6 auf Platz 9 unter den Ländern mit den höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf. Bei allen Diskussionen über die Metho- dik von Ländervergleichen sei un- bestritten, dass die Inanspruchnah- me medizinischer Leistungen in der Regel vom Lebensalter abhänge, re- sümiert das WIP: „Ohne Berück- sichtigung der Altersstruktur kann daher aus einem Ländervergleich der Fallzahlen keine Überversor- gung abgeleitet werden. Zusam- menfassend zeigt die Untersuchung, dass das deutsche Gesundheitssys- tem ein hohes Maß an Versorgung durch chirurgische Eingriffe zu mo- deraten Kosten bereitstellt.“
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Heinz Stüwe Immer wieder hat die Ärzteschaft darauf hinge-
wiesen, dass steigende Operationszahlen auch dem medizinischen Fortschritt geschuldet sind.
Es ist heute einfach kein großes Risiko mehr, der
75-jährigen Patientin ein „neues Knie“ oder dem 78-jährigen Patienten eine „neue Hüfte“ einzu- setzen. Auch gibt es für Koronarbypass- oder an- dere Operationen eigentlich kein Alterslimit mehr.
Da die Bevölkerung relativ alt ist, steigen die ent- sprechenden Operationszahlen hierzulande
schneller als in Ländern mit jüngeren Einwoh- nern. Dass diese These jetzt ausgerechnet von Kostenträgerseite durch eine Studie gestützt wird, ist bemerkenswert. Die gesetzlichen Krankenkas- sen sollten die Erkenntnisse des PKV-Instituts verinnerlichen. Auch ihre Versicherten wollen im Alter vom medizinischen Fortschritt profitieren und ein aktives Leben führen. Genau das versprechen die Kassen ihnen übrigens auch. Entsprechend for- dern auch betagte Kassenpatienten bei ihrem Arzt noch eine neue Hüfte oder ein neues Knie ein – was ja durchaus nachvollziehbar ist. Es ist Zeit für eine offene Diskussion darüber, welche Medizin wir uns als wohlhabende Gesellschaft leisten wollen.
KOMMENTAR
Jens Flintrop, DÄ-Redakteur