• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Medizinische Leitlinien: Kein Disziplinierungs-Instrument" (20.08.1999)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Medizinische Leitlinien: Kein Disziplinierungs-Instrument" (20.08.1999)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

ie Regierungskoalition be- absichtigt, im Zuge der Ge- sundheitsreform 2000 in § 136 Abs. 3 Sozialgesetzbuch V (SGB V) vor- zuschreiben, daß medizinische Leitli- nien zu beachten sind. Dies geschieht unter der Devise, die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität bei der ärztlichen Leistungserbringung in allen Tätigkeitsfeldern gesetzlich zu verankern – unabhängig von den In- itiativen der ärztlichen Selbstverwal- tung und der gemeinsamen Selbstver- waltung der Leistungserbringer. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Politik und die Krankenkassen alles daran- setzen, auch über die Qualitätssiche- rung und die damit verbundenen Sanktionsmechanismen Effizienz und Wirtschaftlichkeit zu stärken und als Kostendämpfungsinstrument einzu- spannen. Bezeichnenderweise hat der Landesverband der Betriebskranken- kassen in Bayern vorgerechnet, daß sich bei einem umfassenden Einsatz von Leitlinien bei der Diagnose und Therapie allein in der Gesetzlichen Krankenversicherung schätzungswei- se 2,25 Milliarden DM jährlich sparen ließen (von angeblichen Sparreserven in Höhe von 13,5 Milliarden DM).

Sosehr die Krankenkassen dar- auf drängen, die Qualität der medizi- nischen Versorgung zu erhöhen und die Vorschriften allgemeinverbindlich zu verankern, so wollen zumindest die Ersatzkassen nicht so weit gehen, daß sie die Anwendung von Leitlinien ge- setzlich vorschreiben wollen. Dies wi- derspreche dem Charakter und der Funktion von Leitlinien als eine fle- xible Handlungsanleitung für Ärzte auf der Basis evidenzgesicherter Er-

kenntnisse und Erfahrungen, als bloße Orientierung.

Auch die Bundesärztekammer (BÄK) hat die beabsichtigte gesetzli- che Leitlinienbindung als „nicht sach- gerecht“ bezeichnet und davor ge- warnt, eine Lösung durchzudrücken, die eine andere Vollzugsverbindlich- keit erhält, als sie dem Geist und Ver- trag der von der Selbstverwaltung ent- wickelten Lösung entspricht.

Keine Rationierungsfunktion

Die Vielzahl unterschiedlicher und nicht allgemein anerkannter Leit- linien verlören damit ihren orientie- renden Charakter und würden zu voll- zugsverbindlichen Richtlinien, die strikt einzuhalten wären. Ihre inhaltli- che Qualität würde sich ändern; Leit- linien bekämen Rationierungsfunkti- on, die aber dem Wesen und der Ziel- setzung solcher Orientierungspfade widersprechen.

Im Regierungsentwurf wurde in der Begründung zu § 136 Abs. 3 SGB V darauf hingewiesen, daß „die zu be- achtenden Leitlinien auf die erforder- liche Anzahl beschränkt bleiben“.

Nur solche Leitlinien seien „verpflich- tend anzuwenden . . ., die insbesonde- re den Kriterien evidenz-basierter Medizin genügen und in der Praxis handhabbar sind“.

Noch längst ist nicht der Nutzen von medizinischen Leitlinien allge- mein anerkannt, weil vieles noch er- probt wird. Auch gibt es noch Mei- nungsunterschiede über die Einsatz- möglichkeiten, deren Verbindlich- keitsgrad und vor allem der zivil- und

haftungsrechtlichen Dimension. We- nig Erfahrungen bestehen auch dar- über, welche Auswirkungen aus einer sinnvollen Koppelung von nationalen und lokalen Leitlinien resultieren.

Auf der anderen Seite muß beachtet werden, daß Leitlinien in der Regel einen relativ langen Vorlauf und Er- probungszeitraum beanspruchen und einen hohen Herstellungsaufwand verursachen.

Viele Problemfelder sind noch nicht hinreichend ausgelotet. Dies be- trifft insbesondere die zivil- und sozi- alrechtliche Dimension der Leitlinien und deren Zeit-, Kosten- und Perso- nalbedarf bei der Umsetzung. Daraus resultieren Konsequenzen im Hin- blick auf das medizinisch Mögliche und Wünschenswerte, das Machbare und das unter den Bedingungen des Globalbudgets Darstellbare. Auf der Basis objektivierbarer Leitlinien er- gibt sich dann ein Gerüst für die Zeit-, Kosten- und Mengendimension bei der Vergütung und Honorierung ärzt- licher Leistungen.

Evident ist: Leitliniengestützte Behandlung muß nicht per se ausga- benreduzierend wirken, eher kann das Gegenteil bei einer Umsetzung von Leitlinien eintreten.

Auch die unvermindert anhalten- de kontroverse Diskussion seit der verstärkten Entwicklung von Leitlini- en im Jahr 1993 in Deutschland sollte zur Zurückhaltung bei einer verbind- lichen Einführung von Leitlinien mah- nen.

Die jüngste Leitlinienkonferenz der Arbeitsgemeinschaft der Wissen- schaftlich-Medizinischen Fachgesell- schaft (AWMF) in Frankfurt/Main stellte die komplexen medizinisch-ju- ristischen Aspekte von Leitlinien, de- ren Funktion und Wirkungsgrad in den Mittelpunkt. Inzwischen gibt es in Deutschland 782 Leitlinien von Mit- gliedsgesellschaften der AWMF, die zum größten Teil auch im Internet ab- gerufen werden können. Heute ent- fallen von den 130 000 Zugriffen auf den Web-Seiten der AWMF, die je- weils das gesamte Dokument anfor- dern, rund 87 000 Zugriffe pro Monat allein auf Leitlinien. Zur Zeit gibt es in den USA mehr als 1 500 wissen- schaftlich-medizinische Leitlinien; in Finnland sind es mehr als 700 und in Frankreich mehr als 240. ! A-2072 (24) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 33, 20. August 1999

T H E M E N D E R Z E I BERICHTE

Medizinische Leitlinien

Kein Disziplinierungs- Instrument

Im Zuge der Gesundheitsreform 2000 sollen

medizinische Leitlinien im Rahmen der Qualitätssicherung gesetzlich verankert werden. Damit könnten

diese zur Kostendämpfung instrumentalisiert werden.

D

(2)

Normative Aussagen

Prinzipiell sind medizinische Leitlinien für das ärztliche Handeln aus sozialrechtlicher Sicht als werten- de, normative Aussagen zu interpre- tieren. Wie Prof. Dr. jur. Robert Francke, Universität Bremen, bei der 6. Leitlinienkonferenz der AWMF be- richtete, sind aus der Sicht der Juri- sten Leitlinien generelle und abstrak- te Regeln für ärztliche Tätigkeiten im Sinne von komplexen Aussagen für klar definierte Behandlungssituatio- nen. Leitlinien sind deshalb nicht nur ausschließlich ein System von natur- wissenschaftlichen Eigengesetzlich- keiten und Handlungsempfehlungen, sondern sie haben auch stets normati- ven und wertenden Charakter. Leitli- nien treffen deshalb Handlungsemp- fehlungen und Ableitungen aus empi- rischen, wissenschaftlich gesicherten Grundlagen. Sie basieren in der Regel auf Wirksamkeitsbeurteilungen sowie auf Risikoabwägungen und Nutzen- kalkülen. Allerdings müssen wirt- schaftliche Überlegungen stets hinter der medizinischen Zielsetzung zu- rückstehen. Leitlinien bedeuten die Festlegung von Orientierungsmarken und Handlungskorridoren, die ein

„gutes ärztliches Handeln“ nach dem jeweils anerkannten aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft er- möglichen sollen. Prinzipiell sollen und dürfen nach dem Verständnis der Fachgesellschaften bei der Entwick- lung von Leitlinien wirtschaftliche Überlegungen nicht inhaltliche As- pekte dominieren. Leitlinien sollen die Entscheidung des Arztes unter-

stützen, mithin Handlungsalternati- ven und einen begrenzten Handlungs- spielraum aufzeigen und vorgeben, aber keine Festlegung nach Standards programmieren.

Nach Darlegung von Prof. Dr. jur.

Dieter Hart, Universität Bremen, die- nen Leitlinien auch und in erster Linie der Qualitätssicherung des ärztlichen Handelns und mithin auch dem Pati- entenschutz. „Sie sind institutionelle Festsetzungen von methodischen und sachlichen Standards ärztlichen Han- delns, die in einem geordneten Ver- fahren zustande gekommen sind.“

Im Kanon von Richtlinien, Emp- fehlungen und Leitlinien gibt es fol- gende Abstufung und Verbindlich- keitsgrade: Richtlinien müssen, Leitli- nien sollen, Empfehlungen können befolgt werden. Leitlinien sind in der Regel für den Arzt nicht verbindlich, sie müssen aber im Regelfall befolgt werden. In begründeten Ausnahme- fällen kann und muß jedoch von Leit- linien und Standards abgewichen wer- den. Dies erfordert die Beurteilung des jeweiligen individuellen Krank- heitsgeschehens.

Standards und Leitlinien sind bei der Beurteilung und rechtlichen Überprüfung von Behandlungsfeh- lern (sogenannte Kunstfehler) rele- vant. Kann sich der Arzt auf die Ein- haltung von Leitlinien berufen, so ist er im Streitfall meist auf der sicheren Seite. Er kann dann in der Regel nachweisen, daß er die erforderliche Sorgfalt beachtet und medizinische Standarderkenntnisse angewandt hat (good practice) – jeweils unter Würdi- gung der individuellen Situation des

Patienten und dessen Erkrankungszu- standes.

Arzthaftungsrechtlich haben me- dizinische Leitlinien eine sogenannte Rationalisierungsfunktion für gericht- liche Sachverständige. Auf der Basis von Leitlinien könne der Sachverstän- dige ein ärztlich-institutionelles Urteil und nicht nur ein individuelles Urteil abgeben. Dies könne für die Sicherung der Qualität juristischer Urteile vor- teilhaft sein, so Professor Hart.

Ständige Aktualisierung

Leitlinien müssen ständig aktua- lisiert werden. Sie müssen deshalb mit einem relativ kurzen zeitlichen Ver- fallsdatum versehen sein. Leitlinien bedürfen der ständigen Evaluation anhand von Standards, abgeleitet aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen.

Die Abweichung vom anerkann- ten Standard ist grundsätzlich ein Be- handlungsfehler, die Abweichung von einer Leitlinie allerdings nur dann, wenn sie dem Standard entspricht.

Haftungsrechlich behindert eine Leit- linie deshalb den wissenschaftlichen Fortschritt prinzipiell nicht, faktisch kann sie jedoch eine gewisse Behar- rungswirkung ausüben. Andererseits kann sie den Patienten, der sich auf die Einhaltung von Leitlinien beruft, zur vollständigen Ausschöpfung sei- nes Leistungsanspruches animieren.

Oftmals widersprüchliche und parallele Leitlinien verfehlen die Ra- tionalisierungsfunktion und führen zu Beurteilungsuneinheitlichkeiten so- wie -unsicherheiten. Konkurrierende und deshalb die Intransparenz för- dernde Leitlinien sind ein Indiz für ei- nen fehlenden Standard. Prinzipiell gilt dann die Empfehlung, daß die wirksamere und risikoärmere Be- handlung jeweils vorzuziehen ist. Ist ein solches Urteil nicht eindeutig zu begründen, so wird dem Patienten haf- tungsrechtlich Aufklärung geschuldet.

Standards und Leitlinien sind nicht ausschließlich ein rechtliches, sondern vielmehr auch ein essentielles medizi- nisches Problem. In der Regel schul- det der Arzt dem Patienten im Be- handlungsvertrag die jeweils notwen- dige Sorgfaltspflicht und ein kunstge- rechtes Handeln. Dr. Harald Clade A-2074 (26) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 33, 20. August 1999

T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE

Die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung GbR (ÄZQ), 50931 Köln, Aachener Straße 233-237, wurde 1995 von Bundesärztekammer (BÄK) und Kas- senärztlicher Bundesvereinigung (KBV), beide Köln, als gemeinsame Einrichtung zur Beratung und Unterstützung auf dem Gebiet der Qualitätssicherung (QS) der ärztlichen Berufsausübung gegründet. Sie bereitet QS-Empfehlungen/Regelungen von BÄK/KBV fachlich vor und unterstützt Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen bei QS-Maßnahmen. Insbesondere ist die ÄZQ bei der Beurteilung und Vorbereitung von ärztlichen Leitlinien und Richtlinien tätig. Sie wurde 1998 mit der Durchführung des Leitlinien-Clearingverfahrens von BÄK und KBV in Kooperation mit den GKV-Spitzenverbänden der Deutschen Krankenhausgesell- schaft e.V. beauftragt (vgl. auch „Bekanntgaben“ in diesem Heft). Die ÄZQ unter- hält den Leitlinien-Informationsdienst der Selbstverwaltungskörperschaften (http://www.leitlinien.de) und kooperiert mit wissenschaftlichen Institutionen im In- und Ausland (AWMF, Deutsches Cochrane-Zentrum, US-Agency for Health Care Policy and Research, Schottisches Leitlinien-Netzwerk SIGN, ANAES in Pa- ris u. a.). Vorsitzende der ÄZQ sind der Präsident der BÄK und der Erste Vorsit- zende der KBV. Die ÄZQ hat eine Geschäftsstelle in Köln (E-Mail: azq@dgn.de). N

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Verantwortlich für die kontinuierliche Fortschreibung, Aktualisierung und Be- kanntmachung ist das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin äzq gemein- sam mit

(Az.: 5 AZB 46/04) darüber zu entscheiden, ob die Kosten- erstattung im Nebentätig- keitsbereich in einem rechtli- chen oder unmittelbaren wirt- schaftlichen Zusammenhang mit

Während nämlich das mit dem GMG etablierte Institut für Qualität und Wirt- schaftlichkeit insbesondere ökonomi- sche Vorgaben zu beachten hat (so arg- wöhnen jedenfalls die

Für den Präsidenten der BÄK steht fest: „Es wird eine riesige Enttäuschung geben, denn große finan- zielle Einsparungen sind durch Stan- dards und Leitlinien nicht möglich, es

Symposion für Juristen und Ärzte der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V.

Während die Studienanfänger aller drei Gruppen in ihrer Zustimmung dabei noch relativ dicht beieinander liegen (43 bis 58 Prozent), unterscheiden sich die höheren Semester deutlich:

Ihr Leben war eine unendli- che Qual, nicht nur für sich selbst, sondern auch für mich, der ich sie über 20 Monate lang täglich für sechs bis acht Stunden besuchte, ohne dass sie

Dabei lassen sich heute zwei Ansätze unterscheiden: Der eine Ansatz basiert darauf, dass jede Empfehlung einer Leitlinie in einen vom Computer verarbeitbaren Algo-