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Archiv "Kuhse/Singer: Muß dieses Kind am Leben bleiben?: Keine Euthanasie-Propaganda" (08.08.1994)

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THEMEN DER ZEIT BLICK INS AUSLAND / DAS BESONDERE BUCH

„Endlich Klarheit" — dieser Te- nor durchzog viele Kommentare, als mit der Änderung des Strafrechts die Euthanasie-Debatte in den Nieder- landen nach jahrelanger Diskussion abgeschlossen schien. Doch der Schlußpunkt unter den endlosen Meinungsaustausch erweist sich nun allenfalls als ein Semikolon: Die Aus- einandersetzung um das Thema ist mit einem aufsehenerregenden Ur- teil in eine neue Etappe gekommen Der Fall, über den der Oberste Ge- richtshof Ende Juni zu befinden hat- te, sprengt in mancherlei Hinsicht die Grenzen dessen, was die neue gesetz- liche Regelung (Deutsches Ärzte- blatt, Heft 8/1993 sowie Heft 15/1994) umrissen hatte: Eine 50jäh- rige Patientin nannte unerträgliche seelische Qualen als Motiv für ihren Wunsch, aus dem Leben zu scheiden.

Dafür, daß der Psychiater B. E. Cha- bot sie im Herbst 1991 unterstützte, indem er ihr eine tödliche Giftdosis zur Verfügung stellte, mußte er sich drei Jahre später verantworten.

Zur Erinnerung: Aktive Sterbe- hilfe bleibt in den Niederlanden auch nach der Gesetzes-Novellierung strafbar; Ärzte können jedoch Straf- freiheit erwarten, wenn sie sich an ei- nen genau festgelegten Regelkatalog halten; im Juni diesen Jahres wurden in Ergänzung zur eigentlichen Ge- setzgebung die Melde-Modalitäten festgelegt. Wie niederländische Staatsanwälte bestätigen, wird — nach einer strengen Prüfung — fast immer von einer Strafverfolgung ab- gesehen. Mit dem Schicksal der 50jährigen Patientin Netty Boomsma wurde nun ein Fall öffentlich disku- tiert, bei dem nicht „aussichtsloses Leiden" in dem Sinne vorlag, wie man es bisher im Nachbarland mit Blick auf Euthanasie verstanden hat- te. Zudem befand sich die Sozialar- beiterin nicht in der Sterbephase.

So beschreibt Chabot die Aus- gangslage seiner Patientin, die ihn im

Herbst 1991 zum Handeln veranlaß- te: Netty Boomsma hatte nach der Scheidung und dem Tod ihrer beiden Kinder — einen Sohn verlor sie durch den Freitod — den Lebensmut verloren. Sie sah keinerlei Hoffnung für die Zukunft, betrachtete ihr Le- ben als aussichts- und perspektivlos.

Immer wieder legte sie ihrem Psy- chiater den Wunsch dar, aus dem Le- ben zu scheiden. Der Oberste Ge- richtshof fällte ein zwiespältiges Ur- teil: er befand den Psychiater zwar für schuldig, doch sah man von einer Strafverfolgung ab. Nicht die eigent- liche Handlung, die Hilfe zur Selbst- tötung, wurde von den Richtern ver- urteilt; sie zielten bei ihrem Schuld- spruch lediglich darauf, daß sich Chabot nicht an die formalen Spiel- regeln gehalten hatte. So war er nicht seiner Pflicht nachgekommen, einen weiteren Fachkollegen zu konsultie- ren. Auch wenn ein Patient nicht körperlich leide und sich nicht in der Sterbensphase befinde, könne der Arzt sich unter Umständen auf eine Notsituation berufen. Bei den Bedin- gungen, wie sie bei Netty Boomsma vorlagen, könnte Hilfe zur Selbsttö-

Dieses Buch ist, schon bevor es nun endlich in deutscher Überset- zung erscheinen konnte, von weiten Kreisen unserer Gesellschaft als Ausdruck einer behindertenfeindli- chen Euthanasiepropaganda ge- brandmarkt worden. Eine solche In- terpretation beruht jedoch auf einem Mißverständnis. Die Position der Au- toren ist sicher unter verschiedenen Aspekten angreifbar; behinderten-

tung gebilligt werden. Die Entschei- dung, in den Niederlanden bereits vielfach mit dem Etikett „historisch"

versehen, wirft eine Reihe von Fra- gen auf. Billigung der Hilfe bei Selbsttötung oder Einsicht in die komplexe Konfliktlage des Medizi- ners? Die Bewertungen der Ent- scheidung fielen unterschiedlich aus.

Chabot selbst hob in Interviews her- vor, die Richter hätten die Auffas- sung bekräftigt, daß keineswegs nur tödliche Krankheiten ein Grund sein müssen für den Wunsch, aus dem Le- ben zu scheiden. Von Auswegslosig- keit der Situation habe man auch bei der seelisch kranken Netty Boomsma sprechen können.

Von Fachkollegen wird Chabot keineswegs ungeteilte Zustimmung vermittelt; einige warfen ihm Naivität in seinem Berufsverständnis vor. Der Chefredakteur der niederländischen Ärztezeitung „Medisch Contact", Spreeuwenberg, schreibt in diesen Tagen, Hilfe zur Selbsttötung sei in vielen Fällen gleichzusetzen mit ei- nem Aufgeben des Patienten. Wo im- mer eine Verbesserung der Situation des Patienten möglich erscheine, sol- le der Arzt jedoch erwägen, ein Ge- gengewicht zu setzen.

Auf eine Anfrage im Parlament erklärte inzwischen Justizminister Kosto, das Kabinett müsse angesichts des aufsehenerregenden Urteils sei- ne Haltung zu Euthanasie und Hilfe zur Selbsttötung der Rechtsprechung anpassen. Margarete van Ackeren

feindlich ist sie jedoch nicht. Die we- sentlichen ethisch-rechtspolitischen Thesen des Buches lauten: 1.

Menschliches Leben ist nicht „heilig"

und deshalb auch nicht unter allen Umständen unantastbar. 2. Nicht al- len Angehörigen der menschlichen Spezies, sondern nur aktuell perso- nalen Wesen steht ein eigenes Le- bensrecht zu. Föten und Neugebore- ne bleiben deshalb vom Lebensrecht

Euthanasie in den Niederlanden

Tödliche Giftdosis für

„seelische Qualen"

Kuhse/Singer: Muß dieses Kind am Leben bleiben?

Keine

Euthanasie-Propaganda

4-2098 (30) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 31/32, 8. August 1994

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THEMEN DER ZEIT

ausgeschlossen. 3. Zwischen (passi- vem) Sterbenlassen und (aktivem) Töten eines Neugeborenen besteht kein wesentlicher ethischer Unter- schied. Soweit ersteres erlaubt wird, sollte deshalb auch letzteres zugelas- sen werden. — Was ist von diesen drei Thesen zu halten?

These 1 sollte sich in einem sä- kularen, gegenüber religiösen oder metaphysischen Glaubensannahmen neutralen Staat eigentlich von selbst verstehen. Außerdem: Wer diese These ablehnt, müßte auch die Ab- treibung kompromißlos verbieten.

Weder eine weitgespannte Indikati- onslösung noch eine Fristen- oder Beratungsregelung ist mit dem Dog- ma vom Lebensrecht jedes menschli- chen Individuums vereinbar. Auch alle möglichen aus dem Hut gezau- berten Ad hoc-Argumente gegen ei- ne Bestrafung der Abtreibung kön- nen an diesem einfachen Schluß nichts ändern. Wer etwa die Bestra- fung der Frühabtreibung für „unzu- mutbar" oder für „unwirksam" hält, muß sich fragen lassen, warum dies unter sonst gleichen Bedingungen für die Spätabtreibung oder für die Kin- destötung plötzlich nicht mehr gelten soll.

These 2 erscheint dagegen in ho- hem Maße problematisch. Zwar be- deutet eine dieser These entspre- chende rechtliche Regelung keine Diskriminierung gegenüber Behin- derten. Dies ist aus folgendem Grund der Fall. Es wird nicht die Be- hinderung beziehungsweise Nicht- Behinderung, sondern vielmehr ein bestimmter Entwicklungsstand des Individuums zum Anknüpfungspunkt für das Lebensrecht gemacht. Zwar soll die vorgeschlagene Regelung es den Eltern eines Neugeborenen so- wie der Gesellschaft ermöglichen, ih- re Akzeptanz des Kindes von einer eventuellen Behinderung abhängig zu machen.

Man muß jedoch zwischen einer rechtlichen Regelung, die als solche diskriminiert, und einer rechtlichen Regelung, die durch eine generelle Freigabe den Bürgern eine Diskrimi- nierung ermöglicht, unterscheiden.

So wenig etwa eine Fristenregelung der Abtreibung als solche behinder- tenfeindlich ist, obschon sie es der Schwangeren ermöglicht, ihre Ab-

DAS BESONDERE BUCH

treibungsentscheidung unter ande- rem von eugenischen Gesichtspunkten abhängig zu machen, so wenig trifft ein solcher Vorwurf auf den Vor- schlag von Kuhse/Singer zu.

Als eindeutiger Fall einer Dis- kriminierung von Behinderten muß dagegen bei konsequenter Betrach- tung jene Regelung unseres derzeit geltenden Abtreibungsrechts angese- hen werden, wonach ein Schwanger- schaftsabbruch zwar nicht bei einem gesunden Fötus, wohl aber bei einem gravierend geschädigten Fötus bis zum Ende der zweiundzwanzigsten Woche nach der Empfängnis recht- mäßig und straflos ist.

Reale Fallbeispiele

Die Anfechtbarkeit von These 2 liegt dagegen auf anderem Gebiet.

Selbst wenn die Personalität der letztlich ausschlaggebende, philoso- phische Grund für die Zuerkennung eines Lebensrechtes ist: In der Praxis von Sozialmoral und Rechtsordnung brauchen wir eine klare, leicht hand- habbare und jedermann nachvoll- ziehbare Grenze, an der das Recht auf Leben beginnt. Und zwar muß diese Grenze offenbar so gezogen werden, daß sie im Alltag nicht ver- schiebbar ist und auch langfristig kei- ne Dammbruchgefahren für den Schutz menschlicher Individuen, die auch nur Ansätze von Personalität besitzen, in sich birgt. Es muß sicher- gestellt sein, daß Menschen wie Kleinkinder, Geisteskranke und Schwerstbehinderte nicht nur der In- tention nach, sondern de facto in der sozialen Realität einen optimalen Schutz genießen. Dieses Ziel aber scheint mir zu erfordern, daß das Recht des Menschen auf Leben nicht später als mit der Geburt in Geltung tritt und daß somit auch Neugebore- ne — im Gegensatz zu These 2 von Kuhse/Singer — an diesem Recht partizipieren.

Wie steht es mit These 3? Es ist wichtig zu sehen, daß die Problema- tik „Sterbenlassen ja — Töten nein?"

selbst dann im Umgang mit Neugebo- renen keineswegs gegenstandslos wird, wenn man jedem Neugebore- nen ein eigenes Recht auf Leben zu- erkennt. Denn auch ein Recht auf

Leben steht einer genuinen Sterbe- hilfe, die im Interesse und auf Wunsch des Betroffenen erfolgt, ge- nerell nicht entgegen. Daß es gerade auch unter Neugeborenen Schicksale gibt, die so hoffnungslos und leidge- prägt sind, daß ein Weiterleben für die betroffenen Kinder sinn- oder wertlos ist, läßt sich nicht leugnen. Es ist schwer einzusehen, warum in sol- chen Fällen grundsätzlich zwar passi- ve, unter keinen Umständen aber ak- tive Sterbehilfe zugelassen werden soll. Ist ein schneller Tod hier nicht häufig sogar die humanere Lösung?

Es ist nicht erkennbar, wie man ohne Rekurs auf religiöse Dogmen Kuhse/

Singer in diesem Punkt widerspre- chen kann.

Das Buch ist nicht nur stellen- weise provozierend, sondern auch sehr spannend geschrieben. Sein Hauptverdienst liegt in der engen Verbindung von ethischen Überle- gungen und Thesen mit einer Fülle von in hohem Maß problembezoge- nen und suggestiv geschilderten rea- len Fallbeispielen. Wer seine Thesen pauschal ablehnt, wird, wenn er vor den Problemen nicht einfach die Au- gen verschließt und sich in Leerfor- meln und Phrasen flüchtet, gehalten sein, ebenso direkt und offen eine ethische Alternative zu formulieren.

Daß die sogenannten Einbecker Emp- fehlungen über „Grenzen ärztlicher

Behandlungspflicht bei schwerstge- schädigten Neugeborenen" von 1986 beziehungsweise 1992 mit all ihren Unklarheiten, Ungereimtheiten und faulen Kompromissen eine vertretba- re Alternative nicht darstellen, wird kein einsichtiger Leser des Buches bestreiten können.

(Helga Kuhse und Peter Singer:

Muß dieses Kind am Leben bleiben?) Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener, Von der Autorin und dem Autor überarbeitete und erwei- terte deutsche Ausgabe, Autorisierte Übersetzung von Jutta Schust, Ha- rald Fischer Verlag, Erlangen, 1993, 317 Seiten, 38 DM).

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Dr. Norbert Hoerster, Höchberghang 40,

97234 Reichenberg A-2100 (32) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 31/32, 8. August 1994

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