[] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 38|
23. September 2011S C H L U S S P U N K T
VON SCHRÄG UNTEN
Kurz angebunden
Dr. med. Thomas Böhmeke
N
eunzig Prozent unserer Patienten bemängeln, dass wir uns viel zu wenig Zeit für ein Gespräch mit ihnen nehmen. Nicht nur das, wir fangen uns an zu räuspern, noch bevor die ersten 30 Sekunden verronnen sind, schauen ungeduldig auf den Bildschirm oder aus dem Fenster, um dann brutal das Wort abzuschneiden, um ungeniert den Satz zu amputieren. Ja, liebe Kol- leginnen und Kollegen, es ist traurig, aber wir sind dialogtechnisch keine duldbaren Rüpel, sondern therapiere- fraktäre Schwerverbrecher! Fortge- setzt über zwölf, 14 Stunden am Tag oh- ne Besserung in den Nachtstunden! Kein Wunder, dass wir allerorten dafür gerügt werden, wie auch jüngst in der Apotheken-Umschau (A 6/11 38–39). Aber wie kommt es zu dieser brachialen Sen- tentia interrupta? Nun, da auch ich ein schwarzes unter lauter solchen Schafen bin, möchte ich zur Verteidi- gung einige typische Beispiele des frakturierten Dia- logs erläutern:„Das müssen Sie . . .“ doch wissen! Egal, ob die vo- rangegangene Frage Krankenhausaufenthalte, tägliche Pillenrationen oder Vorerkrankungen touchiert, ich bin immer fassungslos, welch umfassende Allwissenheit unsere Patienten uns zutrauen. Daher ist es mir ein Be- dürfnis, eine Schneise in den Satz zu schlagen. Weil ich keine Terabyte Speicherkapazität für Patientendaten parat halte, denn ich bin so vergesslich, dass ich einmal im Quartal die PIN-Nummer meines Girokontos aus- wendig lernen muss.
„Meine Knochen . . .“ sind so schwer! Auch dies ist, bei den vielen Schwergewichtigen unter unseren Schutzbefohlenen, eine Satzfraktur wert. Unglaublich, wie viel Schwermetalle die Umweltverschmutzung im Skelettsystem einlagert. Komisch nur, dass die Rönt- genaufnahmen stets osteoporotische Sinterungsfraktu- ren zeigen.
„Sie haben keine Ahnung . . .“ davon, wie wenig ich esse, da würde auch ein Spatz zu Tode hungern! Hier grätscht meine ungezügelte Neugierde in die Sentenz, da ich alles über diese geheimnisvolle Diät wissen möchte, die die weltweiten Hungerprobleme lösen könnte. Dass dafür ganze Kontinente vom metaboli- schen Syndrom überschwemmt werden, muss man bil- ligend in Kauf nehmen.
„Das hat . . .“ mir keiner gesagt! Dies ist mein kate- gorischer Imperativ zum Wortbruch, weil täglich ge- hört. Es ist unfassbar, wie prekär das Wissen unserer Schutzbefohlenen zu all dem ist, was der Gesundheit zugutekommt. Nicht Herzinfarkt oder Krebs, sondern Informationsdefizite sind die Killer Nummer eins! Hier sehe ich ein beklagenswertes Versäumnis unserer Me- dien, die es nicht schaffen, dem Infarktpatienten das Rauchen abzuschwören, den Diabetikern die Fettleibig- keit, dem Kreislaufschwächelnden die Immobilisation.
Also ist es allerhöchste Zeit, dass wir uns nicht in Ne- bensächlichkeiten wie der Euro-Krise verlieren, son- dern uns endlich eines der letzten Tabu-Themen unse- rer Gesellschaft annehmen: der Gesundheit!
„Was soll ich denn sonst noch machen? Ich gehe . . .“
doch jedes Quartal zum Hausarzt, einmal im Jahr sogar zum Facharzt! Eigentlich eine Eloge an unsere Fähigkei- ten zur Wunderheilung. Aber, so muss ich gestehen, in Wunderheilungen bin ich ein glatter Therapieversager.
Bestimmt werden jetzt viele auf mich böse sein.
Aber stellen Sie sich doch alles mit vertauschten Rollen vor: Sie gehen zum Arzt, und der sagt Ihnen: Sie haben keine Ahnung! Das hat mir keiner gesagt! Was soll ich machen? Sie würden wortlos aufstehen und gehen. Wir dürfen das aber nicht.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.