[56] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 46|
14. November 2014VON SCHRÄG UNTEN
Rätsel
Dr. med. Thomas Böhmeke
V
or die Therapie haben die Götter die Diagnose ge- stellt. Das war im alten Griechenland so und hat sich bis heute nicht geändert. Daher gilt es, vor Rezep- tierung der rettenden Tablette, vor Setzen des segens- reichen Skalpells des Übels Grund so scharf zu fixieren wie ein Laserstrahl die sprudelnde Arterie. Das ist nicht so einfach wie es klingt. Mitunter geben uns unsere Schutzbefohlenen Rätsel auf, die unsere differenzialdi- agnostischen Synapsen durchdrehen lassen wie einen Rotablationskatheter mit 150 000 upm. So auch heute in der Sprechstunde.„Herr Doktor Böhmeke, heute Nacht, es war ganz furchtbar, es fing mit so einem Stolpern des Herzens an, als ob mir jemand mit der Faust in den Hals schlägt!“
Nun, wenn der junge Mann ein sonst klaglos pumpen- des Herz sein Eigen nennt, spricht es für eine benigne Extrasystolie. „Das Pumpen und das Schlagen wurde immer heftiger, mir wurde ganz heiß!“ Eine Blutdruck- krise? Der Katastrophenaffine könnte auch eine Aor- tenklappenendokarditis mit kriegerischen Bakterien vermuten, die bis dato unbescholtene Taschenklappen im Nu zerfressen – nein, das ist absurd, viel zu weit her- geholt. „Mir lief der Schweiß in Bächen den Körper he- runter!“ Oh! Nachtschweiß? Ich will ja keine Panik verbreiten, aber könnte das nicht ein bösartiges Lym- phom sein, das die Schweißdrüsen vor sich hertreibt wie ein Zyklon den schwarz dräuenden Horizont?
„Meine Hände fingen an zu zucken, gehörten mir nicht mehr, der Mund wurde taub!“ Vergessen Sie den Lymphknotenkrebs! In das Auge des Hurrikans, par-
don, Zentrum der Differenzialdiagnostik drängt sich die von widerlichen, schleimi-
gen, alles zerfressenden Einzellern ohn- mächtig ausgelieferte Aortenklappe!
„Das linke Bein wurde ganz taub, ich konnte keinen Satz mehr herausbrin- gen!“ Himmel hilf! Sonnenklar: Fetzen ab- gerissener Klappen, mit Schwärmen massakrierender Kokken besetzt, fortgerissen vom Blutstrom des mit letzter Kraft zuckenden Ventrikels, werden in das ge- nauso ahnungs- wie wehrlose Gehirn geschleudert!
Kaum angelangt, setzen die marodierenden Mikroben, bewaffnet mit lysierenden Enzymen, mit Pyrogenen und Proteasen, ihr vernichtendes Werk fort!
„Oh mein Gott! Herr Doktor Böhmeke, seien Sie bit- te ganz, ganz ehrlich zu mir: Muss ich sterben?!“ Nö.
„Treiben Sie kein Luder mit meinem Leiden! Das ist jetzt nicht ihr Ernst!“ Doch. Alles halb so wild. „Haben Sie denn überhaupt eine Ahnung von dem, was mich da befallen hat?!“ Ja, klar. Ist doch ganz simpel. „Sagen Sie es mir, schonungslos! Ich kann die Wahrheit, sei sie noch so schmerzlich, besser vertragen als diesen Hor- ror!“ Ruhig, gaaanz ruhig. Alles ist gut.
Also: Sie konnten nicht einschlafen und haben dann irgendwelche Symptome gegoogelt. Und haben sich von einer Katastrophe in die nächste gemogelt.
Stimmt’s oder habe ich Recht? „Äh . . . also . . . ja, das stimmt.“ Und was lernen wir daraus? „Besser seinen Arzt fragen?“ Treffer, hundert von zehn möglichen Punkten für den Kandidaten. „Aber was mache ich, wenn mich das wieder nachts überfällt?“ Ich rate zum entschlossenen und furchtlosen, konsequenten und ru- hestiftenden Herunterfahren des Computers.
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.