[72] Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 111|
Heft 6|
7. Februar 2014VON SCHRÄG UNTEN
IGeL
Dr. med. Thomas Böhmeke
M
itunter zwingt mich meine tägliche Ar- beit in der Praxis zur schmerzhaften Er- kenntnis: Ich bin völlig altmodisch. Ja, ich bin rückständig und verbohrt, altbacken und bera- tungsresistent. Denn ich kümmere mich mehr um mei- ne Patienten als um den Praxisumsatz, was meine Steu- erberaterin gelegentlich zur Verzweiflung treibt. Mo- derne Verfahren zur betriebswirtschaftlichen Optimie- rung der Praxis gehen an mir vorbei wie künstliche Ge- lenke an orthopädisch Gesunden. Kurz: Bei mir gibt es keine individuellen Gesundheitsleistungen, in Form des heute üblichen grammatikalischen Auffahrunfalls auch als IGeL bekannt. Die Palette dieser Leistungen ist im kardiologischen Bereich sowieso redundant, also ver- zichte ich darauf. Trotzdem verlässt kein Patient die Praxis, den ich nicht gründlich mit Ultraschall unter- sucht habe, denn rupturwillige Aneurysmen, streuwüti- ge Nierenkarzinome, wanderlustige Gallensteine, ta- chykardietreibende Thyreoitiden sind mir ein Graus.Entfliehen kann ich dem Stacheltier aber nicht, denn meine Patienten, ganz auf der Höhe der Zeit, führen mir meine ökonomischen Anachronismen vor Augen.
Heute soll ich eine Patientin echokardiographisch untersuchen, die in Begleitung ihres Ehemannes sowie Dekubitusschuhen kommt und über eine chronische Entzündung am Fuß klagt; einen Zeh habe sie schon opfern müssen. Der Zusammenhang erschließt sich mir zwar nicht, aber der Ehemann betrachtet die Not der Gattin als Pflicht, sein Talent zur Ärztebeschimpfung auszuleben. „Überall, wo man hinkommt, egal ob Herz oder Magen, Prostata oder Haut, überall wollt ihr Ärzte uns das Geld aus der Tasche ziehen! Als ob die Versi- cherten-Scheckkarte nicht völlig ausreichend wäre! Ich will gar nicht wissen, was ihr Doktoren da für Unsum- men abbucht, sonst würde ich einen Herzinfarkt krie- gen!“ Ich kriege eine doppelseitige Fazialisparese. Pa- retisch ist das Herz seiner Allerliebsten dagegen gar nicht, sondern pumpt fröhlich vor sich hin. Ich schließe skalpellscharf, dass ihr Herz nicht in der Lage ist, einen Zeh als Tribut zu fordern, also muss es eine andere Ur- sache geben.
Nach und nach arbeite ich mich durch die arteriellen Leitungsbahnen bis zu den Beinen hinab, der Fuß könnte ja unter kritischer Minderdurchblutung leiden.
„Leidtun können einem die armen Patienten, die das mit sich machen lassen! Schon am Empfang versuchen
eure Arzthelferinnen, einem alles Mögliche aufzu- schwatzen! Ihr wollt euch nur bereichern, während wir ins Grab fahren!“ Meine Gesichtszüge mumifizieren.
Der Ultraschall weist eine kritische Stenose der Arteria femoralis superficialis nach. „Man kann gar nicht kri- tisch genug sein bei euch Ärzten! Ihr stopft euch das Geld rein, während wir am Existenzminimum leben!“
Am Existenzminimum liegt auch die arterielle Perfusi- on des Fußes seiner ehemaligen Verlobten. „Das muss- te doch mal gesagt werden!“
Jetzt reicht es. Ist ihm an der Anmeldung von meinen Fachangestellten ein IGeL angeboten worden?! „Äh, nein.“ Habe ich, obwohl ich nur eine Echokardiographie durchführen sollte, seine Frau nicht gründlich unter- sucht? „Ja, doch.“ Die Ursache für die Entzündung am Fuß ist eine höchstgradige Einengung der Oberschen- kelarterie, die gut zu behandeln ist. Was meint er nun, bekomme ich von der Kasse dafür etwa eine Sonderver- gütung? „Also, wenn Sie das so sagen, wahrscheinlich nicht.“ Und verlange ich von ihm zusätzliches Extraho- norar? „Nein.“ Und warum nicht? „Ja, warum denn nicht?“ Weil die Diagnose eigentlich unbezahlbar ist!
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.