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Selbstorganisation Jugendlicher und Selbstorganisationsförderung durch kommunale Jugendarbeit

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(1)

Selbstorganisation Jugendlicher und Selbstorganisationsförderung

in der kommunalen Jugendarbeit

Dissertation

zur Erlangung des sozialwissenschaftlichen Doktorgrades der Sozialwissenschaftlichen Fakultät

der Georg-August-Universität Göttingen

vorgelegt von Peter-Ulrich Wendt

aus Regensburg

Göttingen 2004

(2)

als eigene Veröffentlichung zugleich erschienen:

Selbstorganisation Jugendlicher und ihre Förderung durch kommunale Jugendarbeit.

Zur Rekonstruktion professionellen Handelns Hamburg 2005: Verlag Dr. Kovac

(3)

I n h a l t

1 „Krise der Jugendarbeit”? 1

1.1 Vorbemerkung: Warum dieses Vorhaben? 1

1.2 Ein Praxisproblem 2

1.3 Zur Situation der Jugendarbeit in der Bundesrepublik 5

2 Methodik der Studie 9

2.1 Qualitative Forschung 9

2.2 Grounded Theory 21

2.3 Forschungsdesign 31

2.4 Besondere Aspekte des Forschungsprozesses 33

2.5 Erhebungsverfahren 46

3 Zum Vorwissen: Der Rahmen der Untersuchung 55

3.1 Theoretischer Rahmen 55

3.2 Selbstorganisation Jugendlicher 70

3.3 Jugendarbeit als Selbstorganisationsförderung 78

3.4 Stand der Forschung 97

3.5 Zur Aufgabenstellung: Erkenntnisinteresse und Zielsetzung der Untersuchung 110

4 Zum Forschungsprozess 111

4.1 Exkurs: Praxisforschung als Instrument der Praxis? 111

4.2 Grundsätze 116

4.3 Design 121

4.4 Forschungsprozess 134

5 Befunde 156

5.1 Sample 156

5.2 Datensichtung 167

5.3 Datenstruktur nach relevanten Kategorien 226

5.4 Datenstruktur nach Achsen 244

5.5 Zwischenbilanz 256

5.6 Akteurstypen 267

5.7 Bernd, Angela, Sven und Sara: vier Akteure der Selbstorganisationsförderung 282

5.8 Befundverdichtung 342

6 Navigation als Steuerungsleistung der Selbstorganisationsförderung in der kommunalen Jugendarbeit – ein Arbeitsmodell 348

6.1 Arbeitsmodell 348

6.2 Exkurs: Zur Feldtheorie Kurt Lewins 352

6.3 Navigation als Handeln im Feld 365

7 Schluss-Folgerungen 371

Verzeichnis der verwendeten Literatur 386

Zum Autor 419

Anlage 1: Verzeichnis der Experten 420

Anlage 2: Differenztechnik 423

Anlage 3: Entwicklung des Kategoriensystems 424

(4)

V e r z e i c h n i s d e r T a b e l l e n 4.1 Mehrfachstatements im Sample 4.2 Datenquellen

4.3 Ergebnis der ICR-Prüfung 5.1 Ausbeute nach dem Typ 5.2 Ausbeute nach der Interviewhase 5.3 Ausbeute nach dem Geschlecht 5.4 Alterszusammensetzung des Samples 5.5 Alterszusammensetzung des Samples 5.6 Ausbeute nach dem Alter

5.7 Ausbeute nach der Herkunft 5.8 Ausbeute nach der Berufsausbildung 5.9 Ausbeute nach dem Status

5.10 Ausbeute nach der Berufserfahrung 5.11 Ausbeute nach der Vorerfahrung 5.12 Ausbeute nach dem Setting

5.13 Artikulationsverhalten nach dem Erhebungstyp

5.14 Defensives Artikulationsverhalten (Erhebungstyp/-phase) 5.15 Defensives Artikulationsverhalten (Einschätzungen/Handlungen) 5.16 Prozesse

5.17 Prozesse nach Dimensionen 5.18 Grenzen

5.19 Grenzen nach Dimensionen 5.20 Umweltwahrnehmung

5.22 Umweltwahrnehmung nach Dimensionen 5.23 Kompetenzen: Können und Wissen 5.24 Kompetenzen: Berufsausbildung

5.25 Kompetenzen: Indifferenz bei Berufsausbildung 5.26 Kompetenzen nach Dimensionen

5.27 Prozeduren 5.28 Interaktionen 5.29 Verständnis 5.30 Haltungen 5.31 Strategien 5.32 Berufsskripte

5.33 Strategietypen (Strategiekombinationen)

5.34 Artikulationsverhalten bei indifferenten Expertentypen 5.35 Begriffs- und Haltungstyp

5.36 Begriffstypen 5.37 Haltungstypen

(5)

V e r z e i c h n i s d e r G r a f i k e n 4.1 Frageanteile in Prozent

4.2 Integrationsentscheidungen

4.3 Mehrfachstatements zu einer Kategorie innerhalb eines Falles 5.1 Erhebungstypen

5.2 Experten nach Interviewphasen 5.3 Artikulationsverhalten der Experten 5.4 Angesprochene Themenkomplexe 5.5 Achsen

5.6 Positionen 5.7 Haltung 5.8 Einschätzungen 5.9 Operative Modi

5.10 Profil des Samples: Positionen

5.11 Profil des Samples: Einschätzungen (Dimensionen) 5.12 Profil des Samples: Grenzen und Prozesse

5.13 Profil des Samples: Umweltwahrnehmung und Kompetenzen 5.14 Profil des Samples: Operative Modi

5.15 Profil des Samples: Prozeduren 5.16 Profil des Samples: Interaktionen 5.17 Akteurstypen: Differenzprofil 1 5.18 Akteurstypen: Differenzprofil 2 5.19 Akteurstypen: Differenzprofil 3 5.20 Akteurstypen: Differenzprofil 4

V e r z e i c h n i s d e r A b b i l d u n g e n

1. Struktur der Studie

5.1 Identifizierung von Akteurstypen 6.1 Grafische Repräsentation des Feldes 6.2 Selbstorganisationssystem im Gleichgewicht 6.3 Vorgängiges Ereignis (t0)

6.4 Lage im Feld (t1)

6.5 Bestimmung einer Stratege (t2) 6.6 Lokomotion (t3)

6.7 Neue Lage im Feld (t3= t1neu)

(6)

V e r z e i c h n i s d e r Ü b e r s i c h t e n 4.1 Grundlegende Begriffe des Handels 4.2 Begriffe des Forschungsprozesses 4.3 Transkriptionsregeln

4.4 Kennzeichnung der Statements 4.5 Sichtungskriterien

4.6 Häufigkeit im Sample 4.7 Differenzen

4.8 Forschungsprozess 4.9 Samplingkriterien

4.10 Probleme bei der Interviewrealisierung 5.1. Positionen

5.2 Strategien der Selbstorganisationsförderung 5.3 Einschätzungen

5.4 Operative Modi

5.5 Operativen Modi zugeordnete Prozeduren 5.6 Operativen Modi zugeordnete Interaktionen

5.7 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Prozessen 5.8 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei internen Grenzen 5.9 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei externen Grenzen 5.10 Homogenität und unbeachtliche Differenz beim Setting

5.11 Homogenität und unbeachtliche Differenz beim Rahmen 5.12 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Kompetenzen 5.13 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Prozeduren 5.14 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Interaktionen 5.15 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Positionen 5.16 Strategieverknüpfungen

5.17 Strategiekombinationen

5.18 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Einschätzungen 5.19 Homogenität und unbeachtliche Differenz bei Handlungen 5.20 Matrix der Akteurstypen

5.21 Merkmale der Akteurstypen 5.22 Repräsentanz der Fallstudien 5.23 Handlungsschwerpunkte bei Bernd 5.24 Handlungsschwerpunkte bei Angela 5.25 Handlungsschwerpunkte bei Sven 5.26 Handlungsschwerpunkte bei Sara

6.1 Zentrale Begriffe der Feldtheorie im Bezug auf das Modell der Navigation

(7)

K o n v e n t i o n e n

Formulierungsweise

Die Darstellung erfolgt in der ersten Person Singular, weil sich, wie weiter unten noch ausgeführt wird, die Untersuchung im Kontext von Praxisforschung als ein an der Person des Forschers, „sein“ Praxisproblem und seine Interpretationen gebundene Vorhaben dar- stellt.

Die männliche Form meint stets – und uneingeschränkt – auch Frauen. Abweichendes ist kenntlich gemacht.

Zitierweise

Wörtliche Zitate werden durch Anführungszeichen gekennzeichnet; der Quellenverweis erfolgt in der Regel im Anschluss; sofern das wörtliche Zitat in die Darstellung einer Auffassung eines Autors eingekleidet ist, erfolgt der Verweis auf die Quelle im Rahmen des Verweises auf die referierte Darstellung.

Abkürzungen

Ausg. Ausgabe m. E. meines Erachtens

bearb. bearbeitet Ms. Manuskript

bzw. beziehungsweise o. O. ohne Ort

ders. derselbe (ohne Ortsangabe)

dies. dieselben Publ. Publikation

Diss. Dissertation S. Seite

f folgende u. a. unter anderem

ff fortfolgende Univ. Universität

ggfs. gegebenenfalls unveröff. unveröffentlicht

Hervorh. Hervorhebung v. a. vor allem

Hg. Herausgeber vgl. vergleiche

insb. insbesondere z. B. zum Beispiel

Prozentangaben

Wenn im Rahmen der Analyse (vgl. 5) Prozentangeben erfolgen, dann erfolgen diese stets gerundet.

(8)
(9)

1 „ K r i s e d e r J u g e n d a r b e i t ” ?

Den weiteren Darlegungen vorangestellt werden soll, dass der Verfasser als Jugendlicher im Rhein-Main-Gebiet lebend mit Projekten und Ansätzen der selbstverwalteten Jugend(zentrums)bewegung konfrontiert war und sich seitdem – entsprechend biografisch geprägt – Konzepten der Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Selbsttätigkeit in den Systemen und Formen der Jugendarbeit verpflichtet weiß. Er fragt sich heute (seit 1991 als Abteilungsleiter und Jugendreferent in einem kommunalen Jugendamt tätig): Was ist zu tun, den wachsenden Fähigkeiten der jungen Menschen, ihr Leben, ihre Freizeit selbständig organisieren – mithin selbstorganisiert- führen zu sollen (wie es das Kinder- und Jugendhilfegesetz unterstellt), selbsttätig und selbstverantwortlich gestalten zu müssen (wie es der gesell- schaftliche Wandel erzwingt und die Jugendforschung beschreibt) und tatsächlich auch zu können (wie es die Erfahrung einer [wahr- nehmungs-] offenen Jugendarbeit [neben manchem Scheitern]auchimmer wieder bestätigt), mit den Mitteln der Jugendarbeit (und damit ihren professionellenMöglichkeiten) Rechnung zu tragen und sie hierbei zu befördern? Er fragt sich weiter: Sind Selbstverwal- tung und Selbstorganisation historische Episode oder Mittel, den Prozess einer gelingenden gesellschaftlichen Integration zu ermögli- chen, die zu unterstützen die Jugendhilfe (und damit die Jugendarbeit) gesetzlich aufgerufen ist? Und er fragt sich schließlich: Woran mag es liegen, dass (zumindest vordergründig)Selbstorganisation und Selbstverwaltung als Mittel der Jugendarbeit einmal „abhan- den” gekommen sind und zum anderen wie wiedergewonnen werden können? Ihn interessiert hierbei vor allem, welchen Beitrag und welche Leistungen hauptamtlichin der Jugendarbeit tätige pädagogische Fachkräfte leisten bzw. leisten könnten, Selbstorganisations- prozesse junger Menschen zu stärken.

1.1 Vorbemerkung: Warum dieses Vorhaben?

Als Forscherwill ic h diese Fragen der fachlichen Praxis nicht voluntär klären, das heißt mit dem fachlichen Selbstverständnis des in der Jugendhilfe tätigen Spezialisten, der sich auf sein berufliches Wissenund Können beziehen kann, eine Situation – und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen – bloß aus der Praxisheraus einzuschätzen. Ich will dies vielmehr mit den mir zur Verfügung und zu Gebote stehenden Mitteln der Sozialwissenschaften tun. Bezugspunkt hierfür sind allerdings - neben der Klärung methodologi- scher Fragen in Bezug auf die Bestimmung des Untersuchungsplanes und der gewählten Verfahren – die aus der Praxis gewonne- nen Ausgangsfragestellungen des (mit der Förderung von Selbstorganisationsprozessen Jugendlicher, ihren Problemen, offenen Fra- gen, Gelingens- und Scheiternserfahrungen konfrontierten) Praktikers, des in der Praxis tätigen Akteurs. Sie lauten:

welchen Stellenwert haben Selbstorganisation und Selbstverwaltung im Handlungskonzept von Profis der Jugendarbeit im eher ländlichen Raum?

welche Erfahrungen referieren sie in Bezug auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung?

welche Hinderungen stehen aus ihrer einer Förderung der Selbstorganisation junger Menschen im Wege bzw. werden als hinder- lich empfunden – und welche Beförderungen?

welche Modelle bieten sich an, als Instrumente zur Förderung der Selbstorganisation heute tauglich zu sein?

(10)

Aufgrund dieser Fragestellungen, die meine Ausgangseinstellungen bereits spiegeln, nimmt die Untersuchung die in der Jugendarbeit tätigen pädagogischen Fachkräfte in den Mittelpunkt der Betrachtung; siesind als Akteure„Gegenstand“ der Untersuchung, nicht die Jugendlichen und jungen Menschen selbst, die für sich Formen und Verfahren der Selbstorganisation finden und praktizieren.

Bezogen auf den Forschungsstand war zu Beginn des Projektes – 1994 bis 1996 - festzustellen, dass es zwar einen breiten Kenntnis- stand in der Jugendforschunggab (vor allem durch die Jugendstudien seit 1990), dies von der „Hauptamtlichenforschung”, der For- schung über beruflich in der Jugendarbeit tätige Fachkräfte1, freilich nicht zu sagen war. Gerade diese aber wollte ich in den Mittel- punkt rücken, denn mein Blickwinkel war – und ist – der desjenigen, der aufgrund persönlicher Affinität und beruflicher Tätigkeit mit der Frage konfrontiert ist, wie die „sozialpädagogischen Profis” (Thole/Küster-Schapfl 1997, 1996) eine den jugendkulturellen Ver- änderungen angemessene und zeitgemäße jugendarbeiterische Praxis realisieren können. Hierbei musste ich im Rahmen dieser Untersuchung damit umgehen, dass ich praktisch „Neuland“ betrat und die wenigen einschlägigeren Untersuchungen, die ich noch vorstellen werde, nur grobe Orientierungen geben konnten.

1.2 Ein Praxisproblem

Die Ausgangsthematikdieser Untersuchung ist ein Praxisproblem: Seit 1991 versuchte ich in meiner Funktion als Abteilungsleiter in ei- nem dörflichen Stadtteil von Salzgitter– ich nenne ihn hier F. – Räume für die Einrichtung eines kleinen Kinder- und Jugendtreffs zu finden. Es hatte in dem Dorf schon geraume Zeit und wiederholt den Wunsch aus der Dorfpolitik gegeben, für die Jugendlichen dort endlich einen Ort zu finden, wo sie sich treffen könnten. Ein hölzener Unterstand, für die Jugendlichen als Treffpunkt eingerich- tet, ging bald in Flammen auf. Wiederholt kam es anschließend (1992 und 1993) zu (von betroffenen Nachbarn initiierten) Polizei- einsätzen, da sich größere Gruppen Jugendlicher und junger Volljähriger – durchaus lautstark, unter Verwendung der Musikanla- gen ihrer Autos oder mitgebrachter „Ghettoblaster“ (Radio-/CD-Geräte) – auf dem Parkplatz vor der örtlichen Schule (und damit mitten im Dorf) traf. Einen dieser Einsätze begleitend kam ich schnell ins Gespräch mit den Jugendlichen dort, die erkennen ließen, sich der provokatorischen Wirkung ihres Sich-Treffens im Kern des Dorfes und ihres Sich-So-Treffens (laute Musik, Bier, sich wieder- holendes Autotüren-Schlagen bzw. Fahrzeugstars, junge Mädchen im Schlepptau) durchaus bewusst zu sein. Andererseits würden sie überall, wo sie sich träfen, vertrieben, sei es durch die Nachbarn selbst oder durch die Polizei. Würden sie heute hier verscheucht, dann träfen sie sich morgen eben beim Denkmal, im Park oder an anderen Orten. Sie wünschten sich einen Treffpunkt, das heißt ei- nen Ort, der ihnen selbst gehöre, ohne den neugierigen Blicken Dritter ausgesetzt zu sein, wo sie selbst „das Sagen“ hätten. Natür- lich seien sie dazu bereit, selbst Hand anzulegen, wobei sie auf die breite Palette von handwerklichen Berufen verwiesen, denen die jungen Leute als Auszubildende oder Berufstätige nachgingen. Auch den Betrieb des Treffs könnten sie sich vorstellen. Nur „ihr“

Haus müsse es sein.

Als Alternativen hierfür wurden mir in den folgenden Monaten immer wieder neue örtliche Leerstände angeboten: ein aufgegebe- ner Gasthof, Räume des örtlichen Anglervereins, ein ehemaliger Laden. 1994 ergab sich die Gelegenheit, das durch den Auszug des Mieters freiwerdende ehemalige Hausmeisterhaus an der örtlichen Schule für den Zweck eines dörflichen Kinder- und Jugend- treffsumzuwidmen. Zeitgleich setzte die erste Welle von Haushaltskonsolidierungsbemühungen ein mit der Konsequenz für den neu zu schaffenden Kinder- und Jugendtreff, dass dieser „kein Geld“ kosten durfte: weder wurden Mittel für Personal, Honorarkräfte oder Sachkosten noch Mittel für die Herrichtung des Gebäudes bereitgestellt. Das Gebäude wurde so, wie es war, dem Jugendamt zur Nutzung überlassen. Im politischen Beratungsverfahren (Beteiligung des Ortsrates, Diskussion im Jugendhilfeausschuss, Beschluss- fassung im Rat der Stadt) wurden die Widerstände gegen den Standort (der nur wenige Meter von einer Wohnbebauung entfernt liegt, an die Schule angrenzt (deren Leiter sofort und vehement gegen das Projekt intervenierte) schließlich auch mit dem Hinweis abgeschwächt, diese Lösung sei die einzige noch denkbare und koste überdies kein Geld. Stattdessen sollten die Jugendlichen, die das Haus nutzen würden, selbst Hand anlegen. Dazu aufgefordert ließen die so in die Pflicht genommenen Jugendlichen durchaus erkennen, sich für ihr Haus einsetzen zu wollen, wenn es denn nun endlich da sei.

Tatsächlich habe ich mich in der Reflexion der gegebenen Möglichkeiten seinerzeit damit abgefunden, dass es im Ort tatsächlich kei- ne andere Lösung geben würde. Weder war anzunehmen, dass Investivmittel bereitgestellt werden würden, um den eigentlich be- nötigten Neubau zu finanzieren, noch war überhaupt davon auszugehen, dass nach den zuvor intensiv durchgeführten Such- und Sondierungsprozessen im Dorf noch die Bereitschaft vorhanden sein würde, überhaupt nach einer Lösung zu suchen. Das „Problem“, für die Jugendlichen einen Jugendtreff suchen zu müssen, ohne einen Standort finden zu können, begann, nach meiner damaligen Einschätzung, für die beteiligten Akteure vor allem in der Dorfpolitik allmählich lästig zu werden.

1 Als hauptamtliche Mitarbeiter gelten die in der Kinder-und Jugendarbeit tätigen Fachkräfte, „die mindestens mit der Hälfte der tarifrechtlich geregelten wöchentlichen Arbeitszeit für einen längeren Zeitraum bei einem freien, öffentlichen oder privat-gewerblichen Träger angestellt sind“ (Thole 2000, S. 161).

(11)

Außerdem bot sich die in Salzgitter einmalige Chance, den Versuch eines von den Nutzern weitgehend selbstorganisierten dörfli- chen Jugendtreffs im Sinne eines Konzepts zu betreiben, das Krafeldspäter als „kleinräumliche Jugendarbeit“ bezeichnete (vgl. Kra- feld u. a. 1995), zu betreiben. Es sollten die im Dorf lebenden (oder sich zumindest dort treffenden) Jugendlichen sein, die unter Be- achtung einiger weniger Mindeststandards (z. B. Öffnung nicht vor 14.00 Uhr und Schließung gegen 22.00 Uhr, kein Alkoholkon- sum, keine Gewalt) ihren Treff selbst betreiben, selbst die Entscheidung über Programm (oder auch „Nicht-Programm“) treffen und die Regeln des Umgehens untereinander vereinbaren können sollten. Das Konzept stellte mithin den Versuch dar, aus der Not (kein Geld) doch auch eine Tugend (selbstorganisierter Jugendtreff) werden zu lassen. Lediglich im Hintergrund sollte ein pädagogischer Mitarbeiter aus einem der Nachbardörfer als Ansprechpartner fungieren und mit Rat dann nicht geizen, wenn die Nutzer darum nachsuchen sollten. Dieses Da-Sein im Hintergrund sollte sich in einem Besuch in dem Haus einmal in der Woche äußern.

Schon nach kurzer Anlaufphase kam es zu ersten Problemen, insbesondere zu Beschwerden aus dem Umfeld, das heißt der unmit- telbaren Nachbarschaft (Phase 1). Der Schulleiter ließ es an kritischen Bemerkungen nicht fehlen, der Jugendtreff begann, sich zum

„Dorfgespräch“ zu entwickeln. Es wirkte auf mich, als würden bestimmten Schlüsselpersonen im Ort jeden Vorfall geradeakribisch notieren. Auch der 1991 neu gewählte und im Dorf ansässige Ortsbürgermeister, der sich für die Findung eines Raumes zunächst sehr aktiv eingesetzt hatte, wurde auf abendliche Lärmbelästigungen, Alkoholkonsum und Pöbeleien der Jugendlichen angespro- chen und kam mit besorgten Anrufen auf mich zu (bzw. er fühlte sich ambitioniert, von sich bei mir vorstellig zu werden). Die Vor- würfe ließen sich tatsächlich auch nicht ganz aus der Welt räumen, denn tatsächlich ging es im Abendbereich nicht selten „die Post ab“. Einige Besuche, die ich selbst dem Jugendtreff abstattete (zu Gesprächen mit den Jugendlichen oder auch am Morgen, um ein Bild zu bekommen, wie es „danach“ aussehe und ob denn die Vorwürfe aus dem Dorf tatsächlich zuträfen), machten mir deutlich, dass die Nutzergruppe wirklich etwas mehr (und das hieß vor allem aktivere) Unterstützung seitens pädagogischer Fachkräfte be- nötigen könnte, zum Beispiel um die ja nicht unberechtigten Beschwerden aus der Nachbarschaft aufzugreifen und selbst Abhilfe zu schaffen (z. B. durch die Vereinbarung verbindlicherer Regeln untereinander, Kontaktaufnahme mit den Beschwerdeführern, „Good- Will-Aktionen“ im Umfeld). Nach einem besonders exzessiv verlaufenen Abend (verbunden mit dem Konsum großer Mengen Alko- holika, Sachbeschädigungen im Haus selbst und auch, offensichtlich Alkohol bedingt, im Umfeld), musste ich den Jugendtreff erstmals schließen, da sich die Jugendlichen an die mit dem pädagogischen Mitarbeiter getroffenen Vereinbarungen nicht gehalten hatten bzw. auch nicht hatten halten wollten, wie dieser meinte. Deshalb regte ich an, dass das Team der pädagogischen Fachkräfte, in dessen „Zuständigkeitsbereich“ auch dieses Dorf fiel, künftig eine „offensivere“ Begleitung des Jugendtreffs praktizieren sollte. Diese drei Mitarbeiter hatten schon in der Vergangenheit Erfahrungen mit einer „losen“ (distanzierten) Begleitung durch Honorarkräfte teilweise eigenverantwortlich geöffneten Kinder- und Jugendtreffs in anderen Dörfern gesammelt, nachdem im Zuge der Haushalts- konsolidierung die dort ursprünglich tätigen (beruflichen) Mitarbeiter reduziert und die Nutzer selbst stärker in die Mitverantwortung einbezogen worden waren2. Tatsächlich ließen sich ab diesem Zeitpunkt (Phase 2) die Mitarbeiter in dem Jugendtreff häufiger se- hen, wechselten sich ab, wenn der eigentlich „zuständige“ Mitarbeiter im Urlaub oder krank war, und garantierten so eine regelmä- ßige Anwesenheit vor Ort, die sich allerdings anfänglich nur auf wenige Stunden insgesamt beschränkte. Immer häufiger aber er- reichte mich aus diesem Team hieraus auch die Forderung, aufgrund von Vorfällen, akuten Problemen und weiter anhaltenden Nachbarschaftsbeschwerden stärker zu intervenieren, Regeln aufzustellen und umzusetzen, zumal der Jugendtreff wiederholt Thema in Beratungen der Dorfpolitik war und dort auch die Beendigung des Versuchs erwogen wurde. Die Jugendlichen ihrerseits reagier- ten auf das wachsende Maß pädagogischer Begleitung mit steigender Ablehnung und Widerstand. Die Konfliktfälle, „wilden Par- ties“, Lärmbelästigungen etc. nahmen eher noch zu. Verbindliche Abreden ließen sich nicht mehr erzielen, Vereinbarungen vom Vor- tag hatten schon am nächsten Morgen keine Gültigkeit mehr, brachten die pädagogischen Mitarbeiter ihre Einschätzungen zum Ausdruck. Eine weitere Schließung der Einrichtung, diesmal für einen mehrwöchigen Zeitraum, wurde deshalb 1995 notwendig und schließlich die Aufgabe des Konzeptes, den Jugendtreff von Jugendlichen selbstorganisiert und selbstverantwortlich führen zu lassen.

Stattdessen habe ich mich im Verlauf des hieran anschließenden Prozesses des Auswertens und Reflektierens entschieden, an ande- rer Stelle eine Fachkraft abzuziehen und den Jugendtreff – jedenfalls weitgehend – professionell begleitet öffnen zu lassen (Phase 3). Die ursprüngliche Nutzergruppe wurde - mit dem Argument, nunmehr zu alt zu sein (tatsächlich waren nahezu alle Mitglieder 18 Jahre und [zum Teil deutlich] älter), außerdem solle den Jüngeren (auch Kindern) eine Chance gegeben werden, sich in dem Kinder- undJugendtreff treffen, um ihre Freizeit verbringen zu können– aus dem Haus herausgedrängt. Es wurde versucht, mit einer jünge-

2 Mit dem so genannten „KonsolidierungsKonzept Jugendarbeit (KKJ)“ (vgl. Stadt Salzgitter 1994) wurde beabsichtigt, aus der Not eine Tugend zu machen: der durch die prekäre Lage des kommunalen Haushaltes auferlegte Zwang zur Einsparung von Personalressourcen und Finanz- mitteln sollte insoweit wettgemacht werden, als einzelnen pädagogischen Mitarbeitern die Begleitung mehrerer Jugendtreffs übertragen wur- de und Jugendliche – im Status von Jugend(gruppen)leitern – in den dann weitgehend selbstorganisierten Jugendtreffs Funktionen als verant- wortliche Ansprechpartner übernehmen sollten. Aus dem Kollektiv der die Einrichtung nutzenden Jugendlichen heraus sollte der Betrieb der Jugendtreffs weitgehend eigenverantwortlich gewährleistet werden. Die ursprünglich durch die so genannte Rahmenkonzeption für die kom- munale Jugendarbeit“ (vgl. Stadt Salzgitter 1991, 1992) ursprünglich konzeptionell abgesicherte dauerhafte Begleitung fünf kleiner dörflicher Jugendtreffs durch pädagogische Fachkräfte in der Einrichtung musste aufgegeben werden, ein sechster Treff konnte nur noch eingerichtet werden, wenn auf eine solche dauerhafte Begleitung von Anfang verzichtet werden würde.

(12)

ren Gruppe einen neuen – freilich deutlich (z. B. in Bezug auf den Grad der Eigenverantwortlichkeit oder Umfang der selbst ver- antworteten, eigengestalteten Öffnungszeit) abgeschwächten – Versuch der Selbstorganisation zu starten.

Im Ergebnis sind seitdem die wechselnden pädagogischen Mitarbeiter, zu deren Aufgabengebiet der Kinder- und Jugendtreff je- weils zählte, in dem für Salzgitter üblichen Sinne bestimmendauch in dieser Einrichtung tätig. Sie setzen Honorarkräfte ein, die sie in ihrer Abwesenheit vertreten und die Rolle einer aufsicht- und Schlüssel haltenden Person wahrnehmen (wozu sie in aller Regel eine entsprechende Jugendleiterausbildung absolviert haben, in der Erzieherausbildung sind oder an einer Fachhochschule Sozialarbeit bzw. –pädagogik studieren). Tatsächlich selbstorganisierte Ansätze gibt es in dieser Einrichtung – wie den übrigen städtischen Ein- richtungen – im Regelfalle seit 1995 nicht mehr.

Dieses (sich ja schon im Laufe der ersten Phase des Prozesses 1994/1995 allmählich abzeichnende) Faktum regte mich wiederholt zum Reflektieren der Situation an, zumal ich aufgrund der Praxis meiner Mitarbeiter auch in anderen Einrichtungen und Handlungs- bereichen zu konstatieren hatte, dass der zuvor geschilderte Prozess und die ihm eigenen Erfahrungen einerseits kein Einzelfall wa- ren (vgl. Perik u. a. 2000), andererseits auch erste positive Resultate referiert werden konnten (vgl. Faber 2000). Dabei verdichtete sich allmählich mein aufgrund der Gespräche mit den Mitarbeitern gewonnener Eindruck, dass das Gelingen bzw. Misslingen ent- scheidend mit der Position und inneren Einstellung (ich nannte es Haltung) des Mitarbeiters zur Selbstorganisation und ihrem Gelin- gen-Könnenbzw. Misslingen-Müssenzu tun haben könnte. Aufgrund zahlreicher Gespräche gelangte ich mehr und mehr zu der Auffassung, es liege eine Differenz vor zwischen der theoretischenBereitschaft einerseits, Selbstorganisationsprozesse positiv zu se- hen und als unterstützungswürdig wahrzunehmen, und der tatsächlichen Praxisandererseits, im Vollzug die Probleme zu sehen und als unüberwindbare Schwierigkeiten zu erleben. Ich erlebte die Mitarbeiter als hin- und her gerissen: auf der einen Seite im Ge- spräch bemüht, Wege zu finden, den Jugendlichen Selbstorganisation zu ermöglichen, auf der anderen Seite in der Praxis blockiert, dies auch tun zu können. In der Praxisreflexion dominierten jeweils resignative Züge, Argumentationsketten, warum etwas wieder habe nicht gelingen können, und Bilanzierungen, dass die Theorie das eine, die Praxis eben aber doch etwas ganz anderes sei. Die- se Beobachtungen reduzierten sich dabei nicht nur auf die Mitarbeiter, die mit dem Jugendtreff in F. zu tun hatten. Ähnliche Versu- che, Selbstorganisationsprozesse zu unterstützen, gab es auch in anderen Stadtteilen Salzgitters, wobei die Rahmenbedingungen je- weils höchst unterschiedlich waren (und vom Bauwagen bis zu selbstorganisierten Räumen in sonst professionell begleiteten Jugend- treffs reichten), die Problemwahrnehmung und die (im Ergebnis Chancen zur Selbstorganisation Jugendlicher doch verneinende) Haltung der Mitarbeiter aber allenfalls in Nuancen differierten.

Mein Nachdenken hierüber mündete in Fragen, die vor allem lauteten: Welche Bedeutung für das Gelingen oder Scheitern von Selbstorganisation hat die Tatsache, dass pädagogische (berufliche) Fachkräfte im Hintergrund (erste Phase in F.) oder mehr oder minder stark auf das Leben in der Einrichtung Einfluss nehmen (zweite Phase in F.)? Was halten die Fachkräfte eigentlich grundsätz- lich von Selbstorganisation, welchen Stellenwert nimmt sie in ihrem pädagogischen Konzept ein? Welche Interventionsstrategien ver- folgten die Mitarbeiter, welche Haltung zur Selbstorganisation an sich nehmen sie ein, wie beeinflussen diese ihr Handeln? Hätte der Prozess einen positiveren Verlauf nehmen können, und welchen Anteil hieran hätten die pädagogischen Fachkräfte haben können?

Gibt es so etwas wie einen „Stil der Förderung von Selbstorganisationsprozessen“ durch pädagogische Fachkräfte? Welchen Stel- lenwert haben örtliche Strukturen (zum Beispiel die Dorfpolitik oder die dörfliche Kultur prägende „Schlüsselpersonen“) auf Prozesse der Selbstorganisation und wie werden diesen von den Professionellen wahrgenommen bzw. beeinflusst? Wie verhält es sich eigent- lich anderenorts damit? Lässt sich die Art und Weise, wie die „Profis“ in diesem Dorf auf den Prozess einwirkten, auch an anderer Stelle beobachten? Was sagen andere pädagogische (berufliche) Fachkräfte zur Selbstorganisation und wie gehen sie mit den da- mit verbundenen Prozessen, Chancen und Problemen um?

Da die Gespräche hierüber mit Mitarbeitern oder Kollegen keine Erkenntniszugewinn brachten, der eine Anreicherung der Praxis in Bezug auf eine gelingendere Förderung von Selbstorganisationsprozessen durch die kommunale Jugendarbeit hätte erwarten las- sen, entwickelte ich die Idee einer umfassenderen Klärung mit zweierlei Zielbestimmung: 1. festzustellen, wie pädagogische Fachkräf- te, die in kommunalen Kontexten (also in überwiegend von der öffentlichen Hand, den Städten und Gemeinden, betriebenen Ju- gendhäusern tätig sind) selbstorganisierte Prozesse Jugendlicher sehen, einschätzen und begleiten (fördern bzw. behindern) und 2.

zu klären, ob Verfahren, Strukturenoder Arbeitsweisenverändert werden können bzw. modifiziert werden müssen, die es pädagogi- schen Fachkräften erlauben, selbstorganisierte Prozesse zu fördern. Während also einerseits darauf geachtet werden sollte, wie sich in der Jugendarbeit tätige Fachkräfte zur Selbstorganisation Jugendlicher positionieren (z. B. in dem sie ihre Erfahrungen referieren und die Art und Weise beschreiben, wie sie mit Selbstorganisationsprozessen junger Menschen umgehen, die sie begleiten und ge- gebenenfallsunterstützen) und somit die „Profis“ im Mittelpunkt stehen, wollte ich andererseitss die Umwelt in den Mittelpunkt rücken, die die Selbstorganisation fördern oder behindern hilft. Die Erträge beider Reflektionsziele wollte ich nutzen, um in meiner berufli- chen Funktion als Jugendreferent (sei es durch organisatorische Veränderungen, Fortbildungsprozesse oder politische Beratungspro- zesse) dazu beizutragen, dass vergleichbare künftige Prozesse gelingen bzw. in den städtischen Einrichtungen der offenen Jugend- arbeit insgesamt Chancen für gelingende Selbstorganisation eröffnet werden könnten.

(13)

Der Anspruch an das sich vor diesem Hintergrund allmählich entfaltende Forschungsprogramm stellt sich mithin als Konzept einer Praxiserforschung durch den verantwortlichen Praktikerdar. Die Notwendigkeit hierzu ergab sich auch dadurch, dass die insgesamt zwar sehr umfangreiche Literatur zu auch praktischen Fragen der Jugendarbeit zahlreiche Hinweise zu vielen Themen enthielt, nicht aber zu der sich mir darstellenden relevanten Fragestellung. Auch ein Blick in die wissenschaftliche Forschungslandschaft vermittelte Mitte der 90er Jahre nichts Erhellendes. Ich begann daher 1995/96 darüber nachzudenken, selbst ein Forschungsprojekt zu initiie- ren, und entwickelte zunächst die Idee einer Befragung von Jugendarbeitern auf der Basis meiner praxisgesättigten Vorannahmen.

Diese Befragung führte ich zwischen Oktober 1996 und Juni 1997 unter in der Jugendarbeit tätigen Fachkräften durch, denen ich einen Fragebogen vorlegte, mittels dessen diese ihre Einstellung zu insgesamt 13 vorgegebenen Situationen als kurzen Rekonstrukti- onen aus der Praxis der Jugendarbeit einschätzen sollten (vgl. ausführlicher Wendt/P.-U. 19983). Als sozusagen die Untersuchung leitende Annahme habe ich meine Überlegungen in einer These vorangestellt:

D ie K omp etenz jung er Mensc hen, Allta g und F reizeit selb storg a nisiert zu g esta lten ( S elb storg a nisa tions- k omp etenz) wird im Ha nd lung sk onzep t v on F a c hk rä ften k ommuna ler Jug end a rb eit theoretisc h p rok la - miert, jed oc h nur zurüc k ha ltend rea lisiert; Jug end a rb eit ist d e fa c to Ha nd eln im S inne v on Mod era tion und Inszenierung , nic ht jed oc h im S inne v on F örd erung zur S elb storg a nisa tion.

Thematisiert wurden zwei Komplexe, die sich aus meinen Eindrücken aus den Diskussionen mit meinen Mitarbeitern speisten: zum ei- nen Aspekte theoretischer Akzeptanz(d. h. Einstellungen in Bezug auf informelle Jugendszenen/-kulturen und Cliquen), zum anderen Elemente einer Praxis der Selbstorganisationsförderung(d. h. Einstellungen zu praktischen Konsequenzen aus dem theoretischen Dis- kurs über Akzeptanz informeller Jugendszenen/-kulturen und Cliquen).

Die Ergebnisse der Befragung legten für mich den Schluss nahe, dass es insgesamt eine differenzierte Zustimmung zu Aspekten und Konzepten der Selbstorganisationsförderung gab, als ich zunächst aus meinem eigenen Verantwortungskreis erfahrungsgeleitet ver- mutet hatte. Dass der informelle Treffpunkt durchaus als angemessener Ort der Freizeitgestaltung junger Menschen gesehen werde würde, überraschte mich kaum, dass diese Akzeptanz auch für expressive und aggressivere Kulturen zu gelten schien schon eher.

Dass Jugendarbeit auch eine Arbeit des Interessenausgleichs und der Moderation sei, überraschte mich wieder weniger, mehr aber, dass die Akzeptanz des kulturellen Anders-Seins junger Menschen (auch im Widerspruch zu eigenen Überzeugungen) doch deutlich war und ihrerseits einerseits eine Öffnung für einen stärkeren nachbarschaftlichen Verantwortungsbezug junger Menschen im Ge- meinwesen nicht ausschließen musste und andererseits jungen Menschen Räume zur eigenverantwortlichen Nutzung in Selbstverwal- tung überlassen werden sollten, auch wenn dies Probleme mit sich bringen könnte: Beides jedenfalls würde höhere und anspruchs- vollere Moderationsleistungen und die grundsätzliche bejahte Notwendigkeit (intensiver) aufsuchender Arbeit (außerhalb der tra- dierten Institutionen der Jugendarbeit) abfordern. Dies vorausgesetzt wurde verständlich, dass die Aufforderung, Selbstorganisati- onsförderung als Hauptaufgabe der Jugendarbeit anzusehen, Zustimmung findet.

Diese Ergebnisse brachten weitere Fragestellungen mit sich (zumal alte, wie die nach der Differenz zwischen Theorie und Praxis, nicht beantwortet werden konnten), die ich weiter untersuchen wollte. Auch wollte ich klären, ob meine auf der Basis quantitativer Infor- mationen gezogenen Schlussfolgerungen so in der Wahrnehmung von Jugendarbeitern subjektiv „stimmig“ sein würden. Ich entwi- ckelte die Idee einer Untersuchung auf der Grundlage qualitativer Forschungsstandards und den Gedanken einer Expertenbefra- gung. Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung sollten bei der Entwicklung des Instruments zu Grunde gelegt werden.

Das Nachfolgende ist also ein Bericht meiner Bemühungen, das Thema als Forschungsprojekt eines wissenschaftlich qualifizierten Prak- tikers „aufzuziehen“in dem Selbstverständnis, dass die Frage der Selbstorganisationsförderung als konkret sich stellendes Praxisprob- lem Teil der Fortentwicklung einer in den oben kurz skizzierten Defizitlagen befindlichen Jugendarbeit darstellt, es also eines Ansto- ßes zur Entwicklung deren konzeptioneller Grundlagen von Jugendarbeit von innenbedarf, denn„ohne direkten Impuls von außen wird es nötig, das eigene Handeln und seine Bedingungen neu zu planen, wenn Probleme entstehen, die eine optimale Erfüllung der Ziele und Aufgaben mit den tradierten Methoden hindern, oder wenn Handlungsbedarf erkannt wird, auf den bisher noch nicht re- agiert wurde“ (Deinet/Sturzenhecker 1996, S. 430).

1.3 Zur Situation der Jugendarbeit in der Bundesrepublik

Die in Salzgitter erkennbaren Probleme stellen keine Unikate dar; sie reflektieren lediglich die Gesamtsituation der Jugendarbeit in der Bundesrepublik. Seit den 70er Jahren steht das, was als Jugendarbeit bezeichnet wird, unter einem andauernden Druck, Ant- worten auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zu finden, die insbesondere mit den Chiffren der Entstrukturierung, Indi- vidualisierung und Pluralisierung verbunden sind. Da diese Prozesse bruchvoll verlaufen und oft auch mit Scheitern verbunden sind

3 Von der Befragung wurden 480 in der Jugendarbeit beruflich (318 „hauptamtlich“) oder ehrenamtlich tätige Personen insbesondere aus Hes- sen, Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erreicht.

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(insbesondere weil die Bedeutung von Jugendarbeit für immer mehr Jugendliche abzunehmen scheint) ist häufig die Rede von der Krise der Jugendarbeit. Wiederholt wurde in der Fachdiskussion die Frage gestellt, warum – bzw. wozu –überhaupt noch Jugendar- beit zu betreiben sei. Artmann fragte 1982, ob es eine Krise des Pädagogischen in der Jugendarbeit gebe (vgl. Artmann 1982), Gieseckeprovozierte die Szene skeptisch mit seinem „Wozu noch Jugendarbeit?“ (vgl. Giesecke 1984), „Wozu Jugendarbeit?“ frag- ten auch Böhnisch und Münchmeier, nicht ohne allerdings Antworten und Perspektiven zu geben (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1987), von Dammstammt die Frage, ob Jugendarbeit noch Perspektiven hat (vgl. Damm 1987), Brenner und anderesind vor allem seit En- de der 80er Jahre in der Fachzeitschrift „deutsche jugend“ wiederholt auf der Suche nach dem Proprium der Jugendarbeit und skiz- zieren deren wachsende (gesellschaftliche, politische) Infragestellung, zum Beispiel aufgrund von Mittelkürzungen (vgl. Brenner u. a.

1981, Deinet 1986, Brenner/Deinet 1990, Brenner 1991, 1993c, 1994a, 1994b, 1996e, 1999b, 1999c, 1999d, 2000e, 2001b), Scherrstellte die Frage, ob die Krise der Jugendarbeit zu einer Krise der Jugendarbeiter werde (vgl. Scherr 1993), Hafenegerbe- schrieb Jugendarbeit unter den Bedingungen der (politischen) Krise (vgl. Hafeneger 1994a, 1994b, 1994c, 1996b), Krieger und Mi- kulla diskutierten Wege zur Selbstdefinition der Jugendarbeit unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Krise (vgl. Krie- ger/Mikulla 1994), bis schließlich Tholefragte, warum überhaupt noch Jugendarbeit nötig sei (vgl. Thole 2000), um – gemeinsam mit Pothmann– zu resümieren: „Vertrauen wir den Beobachtungen der sozialpädagogischen Akteurlnnen der Praxis, dann ist die Kin- der- und Jugendarbeit seit dem Ende des letzten Jahrhunderts nach einer gut einhundertfünfzigjährigen Geschichte ernsthaft in ihrer Existenz gefährdet“ (Pothmann/Thole 2001, S. 73), einer Einschätzung, der die Autoren nicht folgen wollen, denn sie sprechen auch vom „Krisenmythos“, der sich empirisch, das heißt in der quantitativenEntwicklung des Arbeitsfeldes, nicht durchgängig widerspiege- le.

Qualitativsind es Entwicklungen, wie sie Kappelerregistriert, und die die Rede von der Krise der Jugendarbeit eher rechtfertigen; er spricht davon, dass sich die Jugendarbeit in einer „geradezu ausweglos erscheinende defensive Position“ gedrängt darstelle. Diese Krise sei „kein neues Phänomen: immer wieder befand sich die Jugendarbeit über ausgedehnte Zeiträume in der Defensive und zwar immer dann, wenn es starken gesellschaftlichen Kräften gelang, sie zu funktionalisieren, sie für ordnungspolitische und neutrali- sierende Zwecke gegenüber Mädchen und Jungen der heranwachsenden Generation, deren Lebensäußerungen das rationale Kal- kül einer auf die Tradierung der bestehenden Verhältnisse zielenden Politik immer wieder stören, in Dienst zu nehmen“ (Kappeler 2001a, S. 9). Auch von Wensierksisieht Jugendarbeit von verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen bedroht: durch die sozia- len und kulturellen Wandlungsprozessen ihrer Zielgruppe, die Konkurrenz der kommerziellen Freizeitindustrie sowie durch den Rati- onalisierungsdruck knapper Haushaltskassen (vgl. von Wensierski 2002, S. 46; ferner: Pothmann/Thole 2001, S. 73), und sie erfährt

„unmittelbar und ungefiltert die Auswirkungen der sozialen und ökonomischen Veränderungen auf Kinder und Jugendliche und ist mit den wachsenden individuellen Chancen und Risiken der Zukunftssicherung konfrontiert“. Solche Veränderungen bringen es mit sich, dass ein „neuer Bedarf an Selbstverständigung, Selbstpositionierung und Konzipierung einer modernen Kinder- und Jugendar- beit“ entsteht (vgl. Düx 2003, S. 11).

Ich sehe (auch als Reflex meiner beruf geprägten Fragestellungen) drei mangelgeprägte Rahmenbedingungen (bzw. Defizitlagen), die seit Mitte der 90er Jahre verstärkt die Jugendarbeit und die dort beruflich tätigen Fachkräfte nachhaltig bestimmen:

ein weithin fehlendes Verständnis von sich selbst, den Aufgabenstellungen, Zielen, Möglichkeiten und Methoden der Jugendarbeit im Übergang zur zweiten Moderne, also ein Verständigungsdefizitunter den Fachkräften selbst:Krafeldführt dies darauf zurück, dass die (insbesondere offene) Jugendarbeit seit ihren Anfängen gerade tradiert bestrebt war, nach pädagogischem Eigensinn zu suchen (vgl. Krafeld 1984, S. 147ff, Krafeld 1992c, S. 60), dieser aber allein schon angesichts immer schneller verlaufender gesell- schaftlicher und jugendkultureller Veränderungsprozesse kaum gefunden werden wird, falls ihn zu finden überhaupt das Ziel sein sollte. Wenngleich auch mit einem grundsätzlich anderen (sozialpolitiscvh instrumentalisierenden) Tenor findet sich diese Einschät- zung auch schon in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Achten Jugendbericht, in der festgestellt wird, dass die der Ju- gendarbeit zugeschriebenen Merkmale – Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und Partizipation –„keineswegs für alle Arten der Jugendarbeit kennzeichnend“ seien und der damit verbundene Anspruch „nur ausnahmsweise oder nur partiell einzulösen“ sei (vgl. BMFSFJ 1990, S. IX).

Tatsächlich stellen die in der Diskussion der Jugendarbeit befindlichen unterschiedlichen Ansätze und Methoden der Jugendarbeit (vgl. die Übersicht in Thole 2000, S. 242ff) Anforderungen dar, die in der Praxis nur selten eingelöst werden. Theorie und Praxis der Jugendarbeit erscheinen weit auseinandergedriftet (vgl. Kappeler 2001a, S. 11, Jordan 1996, S. 303). Die relativ aktuelle Re- zeption der PISA-Untersuchung (vgl. PISA-Konsortium 2001) in der Jugendarbeit verweist dieses programmatische Dilemma; ohne eigenes Selbstverständnis muss sie sich der bildungspolitischen Indienststellung erwehren, indem sie ein neues Gegenprofil zu erar- beiten sucht, über das sie aktuell nicht wirklich verfügt: Schon Mitte der 90er Jahre wurde die Diskussion um die Bildungsfunktion der Jugendarbeit wieder aufgenommen und der Bildungsauftrag und -anspruch von Jugendarbeit reformuliert (vgl. z. B. Mül- ler/B. K. 1993b, Nörber 1994, Scherr 1994a, 1996b, 1997a, 1997b und 2000, Brenner/Hafeneger 1996, Lindner 2002b, Bren- ner 2002b, Rauschenbach 2002 und 2003, Sturzenhecker 2003, Nörber 2003, Hornstein 2003, Müller/B. K. 2003b, König 2003,

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BAGLJÄ 2003, Scherr 2003, AGJ 2003a, Bimschas/Schröder 2004a/b)4. Gespeist wurde diese Diskussion5zunächst aus der Sor- ge vor zunehmend desintegrativen Tendenzen innerhalb der Jugendszenen: „Die Jugendarbeit müsse sich wieder stärker auf Pä- dagogik und Bildung stützen, im Sinne von Wertevermittlung, kultureller Traditionsvermittlung und auf der Basis eines explizit a- symmetrischen Erziehungs- und Generationenverhältnisses (Pädagoge als Erwachsener). Die konkreten Konzeptvorschläge dazu fallen bisher allerdings noch vage und diffus aus“ (von Wensierski 2002, S. 38). Ähnliches ließ sich im Übrigen auch in Bezug auf die in diesem Kontext diskutierten anderen Wege konstatieren, auf rechtsextremistische und/oder fremdenfeindliche Entwicklun- gen unter Jugendlichen zu reagieren, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Integration von Ansätzen der aufsuchenden, ak- zeptierenden Jugendarbeit (vgl. z. B. Schröder 1994, Becker/Simon 1995, Voß 1995, Krafeld 1996c, 1998a, 2000, 2001 und 2003). Die (neuen) Konzepte (Theorie) kamen im Alltag der Jugendarbeit (Praxis) nur selten an.

Da führte im Ergebnis zu einer methodischen Pluralität ohne Fundament, einer großen Zahl differenter methodischer Ansätze, a- ber kaum Verbindendem. Eine Verständigung über die Funktion der Jugendarbeit ist unterblieben. Das dürfte auch dazu geführt haben, was Kappelerzu der Einschätzung bringt: „Die unterschiedlichen Ansätze, Formen und Methoden von Jugendarbeit kon- kurrieren miteinander um gesellschaftliche Anerkennung und öffentliche Finanzierung“ (Kappeler 2001a, S. 10).

Ähnlich stellte sich das Mitte der 90er Jahre auch in der Jugendarbeit der Stadt Salzgitter dar. Obgleich mein Vorgänger im Amt des Jugendreferenten sich der Mühe unterzogen hatte, ein Konzept für die Weiterentwicklung der kommunalen Jugendarbeit zu erarbeiten, kam dies über eine Ansammlung von Skizzen über die unterschiedlichen Praxisansätze nicht hinaus. An einer verbin- denden Vision, nach der Jugendarbeit zum Beispiel als „Lernhelfer“ agieren könnte, Jugendlichen bei der Bewältigung ihrer Um- weltaneignung zu unterstützen, fehlte es – und dies insbesondere in der disparaten Praxis der in der Jugendarbeit Salzgitters täti- gen Fachkräfte.

eine fehlende gesellschaftliche (politische) Akzeptanz der Jugendarbeit als offenem sozialen System, das nicht besteht, um zur Be- friedung gesellschaftlicher Spannungszustände zu diesen, also ein Akzeptanzdefizitim gesellschaftlich-politischen Setting:

Bereits 1984 warnte Giesecke vor einer zunehmenden Sozialpädagogisierung der Jugendarbeit. Er erklärte die Jugendarbeit gleich ganz für anachronistisch, da die moderne Gesellschaft ihr die Grundlagen entzogen habe, sie keine überzeugende Theorie und kein Professionalisierungskonzept mehr präsentiere (vgl. Giesecke 1984, 1998)6. Auch die Autoren des Achten Jugendberichts kamen zu der Einschätzung, für die inhaltliche Entwicklung der Jugendarbeit sei Ende der 80er Jahre kennzeichnend, dass „sich die öffentliche Jugendarbeit zunehmend mit den sozialen Folgeproblemen auseinandersetzen musste, die die sozialökonomische Krise in den Gemeinden freisetzte“ (vor allem Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungs- und Berufsnot Jugendlicher). „Mit diesen Problemeinbrüchen war allerdings die Funktionsbalance zwischen außerschulischer Bildung und sozialer Dienstleistung, die sich im institutionellen Aufschwung der öffentlichen Jugendarbeit herausgebildet und ihre öffentliche Legitimation gestärkt hatte, empfind- lich gestört. Einrichtungen den offenen Jugendarbeit in den Gemeinden bekamen nun stillschweigend oder öffentlich die Bearbei- tung der lebensweltlichen Folgen sozialer Probleme von Jugendlichen zugedacht: Eindämmung von Jugendkriminalität, Hilfe bei den durch Arbeitsplatzprobleme entstandenen Lebenskrisen, Ausbalancierung von Ansprüchen Jugendlicher auf eigene Räume und Ressourcen“. Die Kommission spricht in diesem Zusammenhang vom „sozialpolitisch in die Pflicht nehmen“ (vgl. BMFSFJ 1990, S. 111f). Auf der anderen Seite wurde argumentiert, sie würde, wenn sie sich mit wesentlichen Lebenssituationen und zentralen Problemen der heranwachsenden Jugend nicht ernsthaft beschäftige und hierfür keine spezifischen Angebote entwickle, ihre Glaubwürdigkeit verlieren und sich ins Abseits stellen (vgl. Jordan/Sengling 2000, S. 112 und 123). Nach Auffassung der Bundes- regierung sollte sich Jugendarbeit daher „gezielt auf die Aufgaben konzentrieren, die über den Markt nicht zu erwerben sind: Sie sollte insbesondere Aufgaben wahrnehmen, in denen die solidarische Handlungsbereitschaft von Jugendlichen ihren Sinn findet, wie in der Arbeit mit Problemgruppen und in einem konkreten Engagement für die Lösung gesellschaftlicher und ökologischer Probleme“ (BMFSFJ 1990, S. X). Diese Form von Inpflichtnahme wurde in den 90er Jahren (z. B. angesichts von jugendlichem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit) offensichtlich (vgl. Damm 1991a, Nörber 1993, Brenner 1994a, Hafeneger 1994a und 1994b) und sie wird – insbesondere aufgrund der Nachbearbeitung der PISA-Studie – womöglich der Gefahr ausgesetzt sein, begrifflich und methodisch auf das System Schule und auf eine dienende Funktion enggeführt zu werden (vgl. Rauschenbach 2003). Zudem registriert Düxin diesem Zusammenhang, dass der ihrer Meinung nach in den 70er und 80er Jahren herausgebil- dete gesellschaftliche Konsens, dass eine öffentlich geförderte Kinder- und Jugendarbeit prinzipiell sinnvoll und notwendig ist, in

4 Müllersieht Chancen, in der Diskussion um den Bildungsauftrag der Jugendarbeit solche Lerngelegenheiten und Bildungsanregungen zu posi- tionieren, die für soziale Räume sorgen, in denen Jugendliche Optionen für selbst bestimmte Lernprozesse finden (vgl. Müller/B. K. 2003a). Er macht damit deutlich, dass die Förderung von Selbstorganisationsprozessen im Rahmen von (kommunaler) Jugendarbeit auch im Kontext der aktuellen Bildungsdiskussion ihren Platz hat.

5 Als kritischen Hinweis auf die „Aktualität“ der Bildungsdebatte in der Sozialen Arbeit insgesamt vgl. OelschlägelsAnmerkungen hierzu aus dem Jahre 1991; vgl. Oelschlägel 2004b.

6 Mollenhauerging noch einen Schritt weiter und riet dazu, die Jugendarbeit gleich ganz abzuschaffen, denn das sei „das Beste, was man der jungen Generation und auch dem Verhältnis der Generationen untereinander antun kann“ (Mollenhauer 1982, S. 26).

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den 90erJahren mehr und mehr ins Wanken geriet. Sie verweist auf die in dieser Zeit aufgenommenen Diskussion zur Effektivie- rung der öffentlichen Verwaltungen7, die auch für die öffentlich finanzierte Jugendarbeit mit der Konsequenz verbunden gewesen sei, ihre Wirkung und ihren Nutzen in Relation zu den Kosten durch den Ausweis ihrer sozialisationsbezogenen, gesellschaftsinte- grativen, kulturellen und bildungsbezogenen Wirkungen legitimieren zu müssen. Als Folge ist „derzeit eine gewisse Verunsicherung und ein innovativer Orientierungsbedarf zwischen erneuerter politischer Legitimation, fachlicher Anerkennung und inhaltlicher Weiterentwicklung nicht zu übersehen“ (Düx 2003, S. 22).

Auch diese Entwicklungen haben die Jugendarbeit in Salzgitter nicht ausgespart. Aufgrund der als „chronisch“ zu bezeichnenden Unterfinanzierung ausgelöste Konsolisierungsprogramme haben der kommunalen Jugendarbeit seit 1993 schrittweise die mate- riellen Grundlagen entzogen (z. B. durch Abschmelzen der Haushaltsmittel – verbunden mit eine Verringerung der pädagogi- schen Fachkraftstellen – um im Ergebnis nahezu 30%, bezogen auf das Jahr 1991) und einen Konsens über die Notwendigkeit kommunaler Jugendarbeit hat es jedenfalls in der Zeit, die ich selbst als Betroffener überschauen kaum, nicht gegeben.

ein fehlendes Konzept, auf die Verarbeitungsmechanismen der Jugendlichen zu reagieren, wie diese den gesellschaftlichen Wan- del bewältigen, das zu einemAnerkennungsdefizit bei den Jugendlichen selbst führte (vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Müller 1985b, Schilling 1986, Thole 1987, Böhnisch 1998d, Krafeld 1998c, Kappeler 2001a, S. 10): Die mit der gesellschaftlichen Indivi- dualisierung und Pluralisierung verbundenen Prozesse haben auch für Jugendliche eine Zunahme der Möglichkeiten gebracht, zum Beispiel ihre Freizeit zu gestalten. Die Zahl der Anbieter auf diesem Freizeitmarkt hat deutlich zugenommen, Jugendarbeit als Anbieter muss längst mit wachsender medialer und kommerzieller Konkurrenz Schritt halten. Vor allem kommerzielle Anbieter ha- ben die Interessen Jugendlicher, Räume für sich zu erschließen und zu gestalten, aufgegriffen und – in der Regel mit ganz ande- ren finanziellen Möglichkeiten ausgestattet – dieses Interesse bedient, während die Jugendarbeit diese Interessen und die mit ih- nen notwendigerweise verbundenen Kompetenzen zur Befriedigung zu sehr vernachlässigt habe (vgl. Deinet 1993a, S. 124f).

„Das Verhältnis von Jugend und Jugendarbeit ist komplizierter denn je und entsprechend verworren und hilflos sind die Wege der Annäherung“ (Kappeler 2001a, S. 10f), in der Regel äußerte sich die wachsende Kluft zwischen Jugendlichen und Jugendarbeit durch eine sinkende Inanspruchnahme deren Angebote, zum Beispiel der Einrichtungen der Jugendarbeit, wie den Jugendhäu- sern, oder Freizeitdienstleistungen (vgl. z. B. Josties/Sutorius 1987, Simon 1987, Schultz 1993, Hafeneger 1995c, Seppendorf u. a.

1998, Haid 1999, Münchmeier 2003, S. 185).

Eine solche Entwicklung ließ sich auch in der kommunalen Jugendarbeit in Salzgitter konstatieren. In der Regel erwies sie sich nicht in der Lage, den kommerziellen Angeboten insbesondere aus dem Umland (Braunschweig, Hildesheim, Goslar) Entsprechendes entgegenzusetzen, was sich insbesondere in einer sinkenden (zahlenmäßigen) Inanspruchnahme der Jugendtreffs und einer ab- nehmenden Stetigkeit im Kontakt von Jugendlichen zu den pädagogischen Fachkräften (d. h. einer zunehmenden Kurzfristigkeit und Beliebigkeit) äußerte.

7 „Als Beleg dafür führen Bissinger und andere(Bissinger, S., u. a.: Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe. Strukturanalysen zu fachlichen Eck- werten, Organisation, Finanzen und Personal; in: Sachverständigenkommission Elfter Kinder- und Jugendbericht (Hg.), Materialien zum Elften Kinder- und Jugendbericht, Bd. 1: Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Bestandsaufnahme, München 2002, S. 9– 104) die ‚im Zuge der Verwaltungsmodernisierung ... entstandenen Debatten um eine stärkere betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, die Limitierung und Budgetierung der Leistungen des KJHGs sowie die weitere Verlagerung der Leistungsdefinition auf die kommunale Ebene’

(ebenda, S. 11) an“ (Düx 2003, S. 22, Fußnote 13).

Zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung vgl. insb. Heinz 2000, Eichmann 1997a und 1997b sowie die Aufsätze in Merchel/Schrapper 1996, ferner: Kißler u. a. 1993, Metzen 1994, Kulbach/Wohlfahrt 1996, insb. S. 30 – 60, und die Aufsätze in Bassarak 1997; in Bezug auf die Perspektiven der Jugendhilfe in den Prozesse der Verwaltungsmodernisierung vgl. AGJ 1995, Flösser/Otto 1996, AGJ 1995, Thole u. a. 2000 oder Otto/Peter 2002; vgl. ferner für die Jugendarbeit Pfeiffer/A. 1993 und 1996, Wöhrle 1993, Müller/B. K. 1994c, Deinet 1996e , Rech 1997, Philipp 2000, Kammerer 2000, Brenner 2001a, Brenner 2001a

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2 M e t h o d i k d e r S t u d i e

Gegenstand der Untersuchung sind die Einstellungen und Handlungsweisen von Fachkräften der kommunalen Jugendarbeit, d. h. in der Regel (sozial-) pädagogischer Fachkräfte (die als Mitarbeiter in Jugendhäusern o. ä. und als sog. „Jugendpfleger” tätig sind) im Hinblick auf

die Einschätzung der Selbstorganisationskompetenzen junger Menschen und deren Spektrum selbstorganisierter Handlungsformen und

das eigene professionelle Handeln und den Möglichkeiten, Selbstorganisationsprozesse junger Menschen zu fördern.

Um diese Einstellungen (und das auf ihnen fußende Handeln) rekonstruieren zu können habe ich mich für die Methode des Exper- teninterviews als zentrales Erhebungsverfahren, mithin ein Verfahren qualitativer Forschung, entschieden. Die nachfolgenden Über- legungen zu qualitativer Forschung und ihr eigener Methoden, die im Rahmen der Untersuchung zum Einsatz kommen, stellen eine

„Materialisierung“ der im Vorwege angestellten Überlegungen dar, wie die Untersuchung durchzuführen sei. Sie fließen insoweit in die Untersuchung direkt ein und werden im folgenden Kapitel reflektiert. Sie sind nicht der Versuch einer methodologischen Stand- ortbestimmung (worunter sicherlich die Trennschärfe in der Darlegung methodischer Überlegungen leidet), sondern eine Art Positi- onsbestimmung des Praktikers als Forscher, der sich qualitative Forschung zugänglich und nutzbar machen möchte.

Ich werde daher jene Aspekte klären, die mir für die Planung der Untersuchung von Bedeutung erschienen. Dies erfolgt als ein Pro- tokoll des Heranarbeitensan die methodischen Grundlagen qualitativer Forschung in der Chronologie, in der mir diese Klärung ge- boten erschien.

Ich halte das für erforderlich, damit auch interessierten Laien, die Experten in der Sache sind, den Verlauf der Untersuchung nach- vollziehen können. Der Maßstab für die Präsentation ist also der Fokus des interessierten Laien.

2.1 Qualitative Forschung

„Über unsere soziale Umwelt hegen wir bestimmte Vorstellungen“, schreibt Atteslander. Für Einzelne noch einsichtig und in Überein- stimmung mit seinen Erwartungen sind ihm Teile der sozialen Umwelt nicht mehr durchschaubar, werden Zusammenhänge unerklär- lich und problematisch. An diesem Punkt setzt die Sozialforschung ein: „mit der Erfahrung und dem Bewußtwerden der Problematik sozialer Phänomene. Sie ist ein Versuch, diese Probleme zu erklären“ (Atteslander 1993, S. 31).

2 . 1 . 1 Qual i tati ve For sc hung al s Inter pr etati on sozi al er Real i tät

Grundgedanke der Sozialforschung ist, dass Menschen jede soziale Interaktion selbst als Vorgang der Erklärung, der Deutung bzw.

der Interpretation auffassen. Im Rahmen dieser Klärung muss dem Einzelnen, so Mayring, deutlich werden, „welche Rollen von ihm

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erwartet werden, ihm zugeschrieben werden und welche Perspektiven er selbst hat. Wenn soziales Handeln selbst schon Interpreta- tion ist, dann muß der Wissenschaftler natürlich erst recht ‚Interpret‘ sein“ (Mayring 1999, S. 2).

Dieses interpretative Paradigmawird in der qualitativen (Sozial-) Forschungzum forschungsleitenden Denkmodell (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, Wilson 1970, Gerdes 1979, Hopf/Weingarten 1979, Kleining 1983 und 1995). Dabei wird davon aus- gegangen, dass jegliche Interaktionen interpretative Prozesse sind, in denen sich die Handelnden durch sinngebende Deutungen dessen, was der andere tut oder tun könnte, aufeinander beziehen (vgl. Schäfers 1998, S. 208). Sozialforschung ihrerseits deutet dieses Handeln im Rahmen der ihr eigenen interpretativen Verfahren, bei denen Beobachtungen oder Äußerungen von Befragten (sog. Verbalisationen) analysiert werden (vgl. Brunner 1994, S. 197, Bohnsack 2000, S. 371). Ein noch engeres Verständnis legen Strauss und Corbinvon qualitativer Forschung an den Tag, die sich dadurch auszeichne, dass ihre Resultate „keinen statistischen Ver- fahren oder anderen Arten der Quantifizierung entspringen“, womit sie ausdrücklich eine nicht-mathematische analytische Vorge- hensweise meinen, deren Ergebnisse erstens aus Daten, die mit unterschiedlicher Verfahren erhoben werden (zum Beispiel Beobach- tungen, Interviews, andere Dokumente), zweitens aus analytischen oder interpretativen Verfahren und drittens aus schriftlichen und mündlichen Berichten stammen (vgl. Strauss/Corbin 1998, S. 3ff, zit. S. 3).

Ziel qualitativer Forschung ist jedenfalls, „ein möglichst zutreffendes Set der relevanten Handlungsmuster in einer sozialen Situation herauszufinden“ (Lamnek 1995b, S. 92). Dabei hat sie sich in den letzten Jahren zu einem kaum noch überschaubaren Feld entwi- ckelt, findet immer mehr Beachtung in eher angewandten Bereichen (Praxis), zum Beispiel der Sozialarbeit (vgl. Flick u. a. 2000b, S.

13) und erlebt auch in der deutschsprachigen Diskussion seit den 70er Jahren immer größere Verbreitung (vgl. zu den Phasen dieser Entwicklung Flick 1995d, S. 20). Gegenwärtig ist zu registrieren, dass sich eine Reihe von Feldern und Ansätzen qualitativer For- schung herausgebildet hat, die sich eigenständig entfalten und relativ wenig Bezug zu den Diskussionen und zur Forschung in den jeweils anderen Feldern haben, zum Beispiel objektive Hermeneutik, Biographieforschung oder Tiefenhermeneutik (vgl. Flick u. a.

2000b, S. 26).

Trotz dieser in den Ansätzen differenten Entwicklung (auf die ich hier nicht weiter eingehe) lassen sich drei theoretische Hauptlinien in den Traditionen 1. des symbolischen Interaktionismus und der Phänomenologie(die eher subjektiven Bedeutungen und individuellen Sinnzuschreibungen nachgehen), 2. in der Ethnomethodologieund im Konstruktivismus(hier stehen eher die Routinen des Alltags und die Herstellung sozialer Wirklichkeit im Mittelpunkt) und 3. instrukturalistischenoder psychoanalytischenPositionen (die von der An- nahme von latenten sozialen Konfigurationen sowie von unbewussten psychischen Strukturen und Mechanismen ausgehen) identifi- zieren.Flick, Kardorff und Steinkebestimmen vier „Grundannahmen und Kennzeichen qualitativer Forschung“ (wobei m. E. der Be- zug insbesondere zum Symbolischen Interaktionismus unübersehbar ist):

1. Thema qualitativer Forschung ist die soziale Wirklichkeit als gemeinsame Herstellung und Zuschreibung von Bedeutungen.

2. Prozesscharakter und Reflexivität kennzeichnen diese soziale Wirklichkeit als Handlung und Deutung; daher steht die Analyse von Kommunikations- und Interaktionssequenzen im Mittelpunkt qualitativer Forschung.

3. Aus der Beurteilung, dass „objektive“ Lebensbedingungen (im Rahmen eines Konzeptes der Lebenswelt8) durch Menschen sub- jektiv interpretiert werden und diese für sie Bedeutung erlangen, folgt methodologisch, dass dieses Sinnverständnis hermeneu- tisch gedeutet werden kann und „verstehbar wird“, wodurch individuelle und kollektive Einstellungen und Handlungen erklärbar sind.

4. Die Rekonstruktion von Konstruktionen sozialer Wirklichkeitwird zum Ansatzpunkt der Forschung, was für qualitative Methodo- logien bedeutet, dass sie selbst einen kommunikativen, dialogischen Charakter aufweisen (vgl. Flick u. a. 2000b, S. 18 und 21f;

ähnlich argumentiert auch Mayring, vgl. Mayring 1999, S. 9ff, zur Hermeneutik dort S. 3; ferner: Mayring 1995).

Qualitative Zugänge erscheinen überall dort als angemessen, wo zum Beispiel unbekannte Lebensbereiche bzw. neue undurchsichti- ge Konstellationen erforscht werden sollen, wofür eine flexible Vorgehensweise nötig wird, in deren Rahmen der erforderlichen me- thodischen Schritte noch während der Untersuchung reflektiert und gegebenenfalls verändert werden können (Lüders 1997a, S.

801, Lamnek 1995a, S. 264). Sie bieten sich dort an, wo die Kenntnisse über die soziale Umwelt noch gering bzw. das methodische Vorgehen nicht schon standardisiert sein kann. Damit wächst die Bedeutung qualitativer Forschung, denn „es gibt immer mehr Berei- che menschlichen Zusammenlebens, die nur durch qualitative Forschungsmethoden zugänglich sind“ (Atteslander 1993, S. 77)9.

8 Heinzebezeichnet Lebensweltals den „Kontext, in dem sinnvolles Handeln aus der Verknüpfung der historischen Entwicklung, der Interpretati- on des aktuellen Kontextes und der Antizipation künftiger Handlungen entsteht“. Der Begriff fasst „die Gesamtheit der für das Handeln eines Individuums tatsächlich bestimmenden objektiven Bedingungen in Zusammenhang mit der im Verlauf der biographischen Entwicklung heraus- gebildeten Art und Weise des Individuums, seine Tätigkeit mit diesem Zusammenhang zu vermitteln“ (Heinze 1987, S. 22f; vgl. auch von Kar- dorff 1988, S. 75, Lamnek 1995a, S. 268).

9 Ackermann und Seeckzum Beispiel trafen die Entscheidung für eine qualitativ-empirische Untersuchung, weil sie davon ausgingen, dass sich durch die Beantwortung standardisierter Fragevorhaben nur ein Aspekt der Realität offenbare; vgl. Ackermann/Seeck 1999a, S. 14f.

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So sollen Sinnperspektiven und Prozessstrukturen in den Äußerungen von Individuen rekonstruierbar werden, in denen die Lebens- welten aus der Sicht der handelnden Menschen (das heißt „von innen heraus“) im Wege eines methodisch kontrollierten Fremdver- stehens beschrieben werden, was, dem Anspruch nach, ein besseres Verständnis der sozialer Wirklichkeit ermöglichen soll. Hierzu wird im Rahmen der Forschung den Beforschten breiter Raum zur Darstellung eingeräumt und sie, soweit das möglich ist, in dialogi- scher Forman der Untersuchung beteiligt (vgl. Jakob 1997b, S. 125f, Flick u. a. 2000b, S. 14 und 23, Mayring 1999, S. 13, Brunner 1994, S. 202f, Lamnek 1995a, S. 24f, Schründer-Lenzen 1997, S. 109, Lüders/Reichertz 1986, S. 92). Seitens Forschung setzt das ein starkes Interesse an der Analyse an „Deutung, Wahrnehmungen und komplexen Deutungssystemen“, „in sich strukturierten sozialen Gebilden“ und „einer möglichst umfassenden Analyse der Handlungskontexte von Individuen“ voraus (Hopf 1979, S. 18).

Dem ist ein Begriff des Verstehens unterlegt, wie ihn Eiblgeprägt hat: als „Rekonstruktion, wie ein Anderer ‚Tatsachen‘ mittels seiner Regelmäßigkeitsannahmen verknüpft oder verknüpft hat, um ein Problem zu lösen“. Kontrollierte Interpretation soll es erlauben, „die den bewußten und mitgeteilten Deutungen und Einschätzungen des ‚Alltagsmenschen‘ zugrundeliegenden Regelsysteme, Strukturen und Deutungsmuster aufgewiesen werden“ (zit. lt. Groeben/Scheele 1977, S. 116; vgl. Ulich 1994, S. 43, von Kardorff 1988, S. 78f, Flick 2000/Kardorff Steinke 2000b, S. 23).

Auf diesem Wege rekonstruierte Deutungs- und Handlungsmuster sollen „typisch“ sein für die soziale Gruppierung, denen der unter- suchte Akteur angehört. Seine Sichtweisen, Deutungs- und Handlungstypen stehen im Mittelpunkt des Interesses qualitativer For- schung (Lamnek 1995a, S. 191). Damit ist sie nach Flick und anderen„in ihren Zugangsweisen zu den untersuchten Phänomenen häufig offener und dadurch ‚näher dran‘ als andere Forschungsstrategien“ und kann helfen, „häufig ein wesentlich konkreteres und plastischeres Bild davon deutlich“ werden zu lassen, was das Phänomen aus der Akteursperspektive bedeutet. In Zeiten, in denen sich fest gefügte soziale Lebenswelten und -stile auflösten und sich soziales Leben immer wieder neu konstituiere, seien Forschungs- strategien notwendig, die genaue und dichte Beschreibungen liefern können und dabei die Sichtweisen der Akteur berücksichtigen“

(vgl. Flick u. a. 2000b, S. 17, auch Schumann 1997, S. 665; zu „dichten Beschreibungen“ vgl. Geertz 1987).

Diese qualitative Orientierung wird seit Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre auch in der Pädagogik registriert, womit eine stärkere Hinwendung von pädagogischer Theorie und Praxis zum Alltag und zur Lebenswelt der Akteure erzieherischer Prozesse verbunden sei (vgl. Fatke 1997, S. 57f, Mayring 1999, S. 8, Lamnek 1995a, S. 33).

2 . 1 . 2 Z i el e qual i tati ver For sc hung

Um dieses „Unsichtbare“ sichtbar zu machen werden qualitative Untersuchungen in der Regel mit generalisierender (also über den untersuchten Einzelfall hinausgehender) Absicht geführt und versucht, die Ergebnisse auf andere, ähnlich gelagerte Fälle zu übertra- gen; es kann damit um Theoriebildung (vgl. Flick/Kardoff/Steinke 2000b, S. 24, zit ebenda, Merkens 1997, S. 97) bzw. Hypothesen- generierung (vgl. Lamnek 1995a, S. 23, Schründer-Lenzen 1997, S. 111) als Ziele qualitativer Forschung gehen. Mit den Instrumen- ten qualitativer Forschung sind auch detaillierte Beschreibungen oder Evaluationen laufender sozialer Praxis möglich und können sehr praktische Zielstellungen (zum Beispiel Evaluationsvorhaben) verfolgt werden (vgl. Flick 2000a, S. 257f).

Das lässt bereits die starke Anwendungsorientierung qualitativer Forschungsansätze erkennen, um „die Vorhersage und Erklärung von Verhalten zu ermöglichen“ und „für praktische Anwendungen brauchbar zu sein (d. h. Vorhersage und Erklärung sollten dazu taugen, den Praktiker Situationen verstehen und in Ansätzen kontrollieren zu lassen)“ (Glaser/Strauss 1998, S. 13; ferner: Flick u. a.

2000b, S. 13). Diese Anwendungsorientierung ist schon in den „klassischen“ qualitativen Studien offensichtlich geworden: Whyteseth- nographische Studie über eine Straßengang in einer Großstadt im Osten der USA der 40er Jahre (vgl. Whyte 1955/1996), Goff- mans Studien über psychiatrische Kliniken und Gefängnisse (vgl. Goffman 1973), Garfinkels so genannte „Krisenexperimente zu Voraussetzungen und Regeln zur Herstellung alltäglicher Verständigungsprozesse (Garfinkel 1967) und die Studie von Jahoda, La- zarsfeld und Zeisel(vgl. Jahoda u. a. 1933/1980 und 1995) zu den Arbeitslosen von Marienthal (vgl. Flick u. a. 2000b, S. 14ff).

Qualitative Untersuchungen knüpfen folglich auch an konkreten praktischen Problemstellungen an (vgl. Mayring 1999, S. 26). Witzel nennt dies Problemzentrierung, welche den Ausgangspunkt einer vom Forscher wahrgenommenen gesellschaftlichen Problemstellung kennzeichne (vgl. z. B. Witzel 1982 und 1985). Auf diese können dann auch die Untersuchungsergebnisse bezogen werden (vgl.

Mayring 1999, S. 22). Zugleich geht es aber auch um Verallgemeinerung, um Ergebnisse, die über den einzelnen Fall hinausführen und allgemeine Aussagen bzw. Feststellungen über das Typische ermöglichen, mithin das Identifizieren von Allgemeinem im Beson- deren (vgl. Moser 1998, S. 14, Mayring 1999, S. 23 und S. 26, Lamnek 1995a, S. 192f, Wahl u. a., S. 206). Die Typik des untersuch- ten Gegenstandes wiederum ermöglicht eine Übertragbarkeitauf andere, aber ähnliche Gegenstände bzw. ähnlich gelagerte Prob- leme. Erst hierdurch wird eine gehaltvolle Anwendbarkeit der Resultate qualitativer Forschung in der Praxis möglich (vgl. Merkens 2000, S. 291, Glaser/Strauss 1998, S. 241, 249 und 252, Haupert 1995, S. 48, Fatke/Hornstein 1987, S. 591f). Problemzentrierung, Typik und Übertragbarkeit (Anwendbarkeit) kristallisieren sich somit als die zentralen Ziele qualitativer Forschung heraus.

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