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Schon im Zusammenhang mit dem Interview ist auf einige Probleme in der Erhebungssituation hingewiesen worden, die insbesonde-re das Verhältnis von Forscher und Akteur betinsbesonde-reffen. Diese zweifelsfinsbesonde-rei zentrale Problemstellung darf nicht verdecken, dass im Rah-men des Forschungsprozesses weitere Probleme zu vergegenwärtigen sind, insbesondere auch solche, die forschungsethische Fra-gen berühren.

2 . 4 . 1 Rol l en i m Pr ozess

In der Erhebungssituation interagieren als Akteureund ForscherMenschen mit spezifischen Rollenzuweisungen.

2.4.1.1 Ak teure

Diese Interaktion birgt Probleme, was Brunner andeutet, wenn er sie als eine relationierte Beziehung zwischen dem „forschenden Subjekt“ (Forscher) und dem „erforschten Objekt“ (Akteur bzw. Experte) bezeichnet und davon spricht, dass beide als soziales System

„in einem ganz spezifischen sozialen Kontext in wechselseitiger Beziehung zueinander“ stehen (Brunner 1994, S. 202). Radtkespricht

sogar davon, dass beide unter der Herrschaft einer Forschungs- und Verwertungslogik stehen (vgl. Radtke 1979, S. 37), die ihnen spezifische Rollen zuschreibt. Diese Rollen nennt Ulichdas „Produkt der Interaktion zwischen situativen Handlungskontexten, Situati-onseinschätzungen und habituellen (aber nicht unbeeinflussbaren) Handlungstendenzen“ (Ulich 1994, S. 53). Das legt den aus der Literatur zunächst gespeisten Eindruck nahe, Akteur und Forscher seien sich gegenseitig in ihren Rollen ausgeliefert: einerseits der Forscher abhängig vom Akteur, der ihm dem Zugang zum Feld (und den von ihm benötigten Daten) eröffnet (oder verweigert), an-dererseits der Akteur, der „beforscht“ wird, zum Gegenstand wird in einer ihm kaum transparenten Forschungssituation. Tatsächlich scheint diese Situation von Perspektivenwechsel gekennzeichnet zu sein. Flickverwendet die „Metapher vom Forscher als ‚professio-neller Fremder“ und spricht vom sukzessiven Einnehmen einer „Innensperspektive“, das heißt das „Verstehen der Sicht des Subjekts oder der Organisationsprinzipien sozialer Gruppen aus der Perspektive des/der Erforschten“ (Flick 1995b, S. 154f). Ähnlich argu-mentiert Lamnek, der „die grundsätzliche Offenheit und Flexibilität, um die sozialen Akteure in deren Sicht und in deren natürlicher Lebenswelt zu erfahren”, zum zentralen Prinzip erhebt (Lamnek 1995a, S. 196).

Der Akteur ist jedenfalls nicht länger „beforschtes Objekt“. Ulichverweist auf die „Auffassung, die sich im Zuge der ‚kognitiven Wen-de‘ vom ‚Gegenstand‘ psychologischer Forschung entwickelt hat (z. B. Groeben/Scheele 1977): Individuen sind nicht länger als bloß passiv reagierende Organismen ihrer Umwelt hilflos ausgeliefert, sondern ihnen werden Erkenntnisfähigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Rationalität zugeschrieben. Daraus ergibt sich eine neue ‚Rolle‘ als Untersuchungspartner“ (Ulich 1994, S. 43).

Ähnlich argumentiert Haußer, der darauf verweist, dass sich die Rolle des Experten in einer qualitativen Untersuchung wesentlich er-weitert wird: „Nicht mehr Mikro-Reaktionen auf manipulierte Labor-Stimuli oder elementaristische Fragebogen-Items sind erwünscht, sondern umfassende Auskünfte über Erfahrungen in der sozialen Lebenswelt“ (Haußer 1994, S. 63). Damit geht es um Gegens-tandsrelevanz, das heißt die subjektive Bedeutsamkeit eines Forschungsgegenstands für den Experten selbst, wenn dieser in seiner aktuellen Lebenswelt direkt „von dem betroffen ist, was in der Untersuchung verbalisiert werden soll“ (vgl. Haußer 1994, S. 68f).

2.4.1.2 Fo rsc her

Diesen Akteuren steht der Forscher zunächst fremd gegenüber; er steht an dieser Stelle vor dem Problem der Aushandlung von Nä-he und Distanz im Verhältnis zum Akteur, der Offenlegung, Transparenz und Aushandlung der wechselseitigen Erwartungen, Ziele und Interessen und vor der Entscheidung zwischen Innen- und Außenperspektiven, unter denen er sich dem Gegenstand seiner Unter-suchung nähert (vgl. Flick 1995b, S. 155). Er nimmt damit eine Doppel-Rolle wahr:

„Auf der einen Seite zeichnet er sich durch Empathie aus, indem er versucht, sich in die Darstellung der Interviewpartnerin zu ver-setzen, um zu verstehen, wie sie die Welt erlebt und deutet. Zugleich muss er jedoch eine andere Haltung zur Interviewpartnerin aufbauen, nämlich, dass er die Worte wohl hört, aber nicht sicher ist, welchen Bedeutungshorizont die Begriffe für die Interview-partnerin haben. Er kennt nicht die selbstverständlichen Voraussetzungen, die die InterviewInterview-partnerin mit ihren Begriffen verbindet, und der Interviewer muss sich der Fremdheit ihrer Darstellung bewusst sein. Er muss sich in eine Haltung absichtlicher Naivität be-geben ... dabei gleichzeitig im Gespräch den Eindruck vermitteln, interessiert und entspannt zuzuhören“ (Hermanns 2000, S. 364, S. 361 und S. 366; ähnlich argumentiert Kvale, vgl. Kvale 1996, S. 33).

Müllerhat hierzu im Rahmen seiner Untersuchung unter anderem ausgeführt, dass der Forscher die Untersuchung „nicht mit dem

‚fremden Blick’ des Besuchers vom Mars oder des Ethnologen führen (kann), sondern nur in der Haltung des interessierten Fachkol-legen, dem unterstellt werden kann, daß er im Prinzip Bescheid weiß, worum es in diesem Handlungsfeld geht. Die Befragten empfinden seine Fragen deshalb und in dem Maße als sinnvoll, als sie sich ähnliche Fragen auch schon gestellt haben und immer wieder stellen“. Das Interview erhalte dadurch für den Akteur den Charakter der Selbstevaluation, der durch die Fragen des Forschers stimuliert und beeinflusst, aber eben nicht durch ihn erzeugt wird. Allerdings helfe „die relative Unkenntnis“ des Forschers über die den Akteuren ja bekannten Bedingungen ihres Handelns, die impliziten Konzepte der Handelnden zu versprachlichen.

Dazu brauche der Forscher aber keine Detailkenntnis, gerade inhaltsunspezifische Fragen eigneten sich, um Akteure zu „Theore-tikern in eigener Sache“ werden zu lassen“ (vgl. Müller/B. K. 1989a, S. 24).

Zweifelsfrei handelt es sich für den (durchaus feldkundigeren) Forscher um das „Dilemma der Selbstpräsentation“: Um sein Interview gut zu führen, kann er sich nicht so wissend und kenntnisreich zeigen, wie er zu sein glaubt (vgl. Hermanns 2000, S. 361), zumal dann nicht, wenn er Angehörige einer Gruppe interviewt, der er selbst angehört (vgl. ebenda, S. 366).

Flicknennt das die „Dialektik von Fremdheit und Vertrautheit für den Forscher“ (Flick 1995b, S. 155; vgl. auch Lamnek 1995a, S. 267).

Der Forscher nimmt eine Rolle ein, die er teils frei bestimmen kann, die er teils zugewiesen erhält. Damit geht es zu Beginn um eine Verständigungzwischen Akteur und Forscher über das gemeinsame Vorhaben, eine Art Verhandlungsprozess, eine soziale Situation zu gestalten, für den es gegenseitigen Vertrauens bedarf. De Sola Poolnennt das Interview sogar „ein interpersonelles Drama mit einer sich entwickelnden Handlung“ (Sola Pool 1957, S. 193), wobei dem Forscher eine besondere Gestaltungsaufgabe zufalle (vgl.

Filsinger/Hinte 1988, S. 60, Mayring 1999, S.124, Flick 1995b, S. 154, Scheele/Groeben 1988, S. 26, Ulich 1994, S. 46ff, Hermanns 2000, S. 360f und S. 363).

Dabei ist zu beachten, dass der Forscher beim Interview weitaus mehr von den Aussagen des Akteurs abhängig ist, als bei der Beo-bachtung (vgl. Moser 1995, S. 153). Das erhöht den Druck, diese kommunikative Funktion gelingend zu erfüllen, einen akzeptablen und doch klaren Rahmen für die Interviewsituation selbst zu schaffen. Daher kommt dem Forscher vor allem die Aufgabe zu, zwi-schen den Äußerungsinteressen des Akteurs, der Struktur des Interview-Leitfadens und der zeitlicher Begrenztheit des Interviews selbst zu vermitteln und dabei eine möglichst vollständige Strukturierung der Datensammlung durch den Akteur zu gewährleisten (vgl. Flick 1995b, S. 157f). Der Forscher muss also die Untersuchungsbedingungen so gestalten, dass die Fähigkeit des Akteurs zur Reflexivität und Rationalisierung „optimale Realisierungschancen erhält. Dazu gehört beispielsweise eine umfassende Aufklärung ü-ber den Untersuchungszweck und -ablauf. Die Untersuchungssituation und ihre Hintergründe sollen für das Erkenntnis-Objekt von vornherein größtmögliche Transparenz besitzen. Im Verlauf der Untersuchung sind Sinn und Bedeutung der einzelnen Untersu-chungsschritte und –maßnahmen vom Forscher metakommunikativ zu erläutern“ (vgl. Scheele/Groeben 1988, S. 26).

Um solche Aufgaben zu bewältigen bietet es sich für den Forscher, so Köckeis-Stangl, am ehesten die Rolle „des anteilnehmenden Zuhörers an, der ein echtes Interesse an dem zeigt, was der Befragte sagt und diesem zunächst auch die Strukturierung des Ge-sprächs überlässt“ (Köckeis-Stangl 1980, S. 356, vgl. auch Lamnek 1995b, S. 106, Ulich 1994, S. 58). Der Forscher „selbst erzählt kei-ne eigekei-nen Erfahrungen (außer einleitend, um zu dokumentieren, daß der Gesprächspartkei-ner ebenfalls gefahr- und sanktionslos be-richten kann), gibt keine Stellungnahmen und Äußerungen ab und hält sich mit Kritik an den Ausführungen des Befragten zurück. Er stellt im wesentlichen nur Fragen bzw. macht solche Bemerkungen, die dem Befragten zeigen, daß seine Antworten verstanden wurden und daß Interesse an den Äußerungen des Befragten besteht“, was die Bereitschaft des Akteurs, sich einzubringen, auf-rechterhält (Lamnek 1995b, S. 106).

2.4.1.3 Bez iehung Fo rsc her – Ak teur

Dennoch bleibt die Beziehung zwischen Akteur und Forscher fragil. Das Geschlecht, das Alter, die soziale Herkunft, die ethnische Zugehörigkeit und non-verbale Signale (vgl. Fontana/Frey 1994, S. 368ff) bleiben relevant, wie Friebertshäuseran Beispielen erläu-tert: „Man kann vermuten, daß über die Probleme junger Mütter eine weibliche Interviewerin anderes erfahren wird als ein männli-cher Interviewer. Eine jung aussehende und studentisch gekleidete Interviewerin kann auf unterschiedliche Interviewpartner jeweils einen anderen Einfluss ausüben: ein junger Drogenabhängiger beispielsweise könnte ihr gegenüber Vertrauen fassen, während ein statusbewußter Jugendamtsleiter in ihr vielleicht kein Gesprächsgegenüber sieht, mit der er über die problematische Seite seiner Po-sition reden möchte“ (Friebertshäuser 1997, S. 391).

„Die weiteren Besonderheiten hängen von der Fragestellung der Untersuchung, den Situations- und Rollenauffassungen der Betei-ligten, unterschiedlichen Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten, der Transparenz der Situation, der Aufgaben und der Rollenbe-ziehung sowie einigen strukturellen Merkmalen ab“ (Ulich 1994, S. 51)

Grenzen einer allzu starken Verflechtung des Forschers in die Lebenswelt des Akteurs sieht Ulich, „denn dieser wird z. B. dann keine offenen Antworten geben, wenn der Forscher sich innerhalb einer Machthierarchie befindet, der der Befragte angehört, wenn der Forscher über Sanktionsmittel verfügt usw.“ (Ulich 1994, S. 58). Andererseits kann der Forscher nicht als „Neutrum“ auftreten. Wie-derholt wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass nur der Forscher, der authentisch in der Forschungssituation auftritt, erwarten kann, ernst genommen zu werden und von Akteuren ernstzunehmende Aussagen erhalten wird (vgl. Köckeis-Stangl 1980, S. 356;

Scheuch 1962, S. 156 und S. 161, Ulich 1994, S. 57).

2 . 4 . 2 Vor wi ssen

Die Frage ist, mit welchem Vorwissen der Forscher in die Untersuchung einsteigt. Schmidtvergleicht es mit einer Brille: „es kann – je nach Entfernung zum Betrachteten - hilfreich sein, hindurchzuschauen, um klarer zu sehen; aber es kann notwendig sein, über den Brillenrand hinweg zu blicken, die Brille zu putzen oder zu erneuern“ (Schmidt/C. 1997, S. 565).

Zum Vorwissen zählen zum Beispiel „Daten, die der Forscher ‚im Kopf‘ hat und die aus seinem persönlichen Erleben, seiner For-schungserfahrung und seiner Kenntnis der Fachliteratur stammen“ (Strauss 1998, S. 48), es handelt sich um „alltagsweltliches Vorwis-sen, auf das wir, wie vage und unsicher es auch sein mag, beim Fehlen besserer Informationen zurückzugreifen gezwungen sind, um überhaupt eine erste Orientierung im Forschungsfeld vornehmen zu können“. Dazu kommen ihm „vertraute allgemein-theoretische Konzepte, die ebenfalls zur grundlegenden Konstitution des Gegenstandes durch den Forscher beitragen“, sowie „gegenstandsbe-zogene Konzepte, die die Fokussierung auf bestimmte inhaltliche Aspekte des zu untersuchenden Forschungsthemas erlauben und

die daher im gegebenen Fall durchaus auch im Rahmen qualitativer Forschung die Formulierung von Ex-ante-Hypothesen ermögli-chen und sogar erfordern können“ (Meinefeld 2000, S. 273).

Hopfspricht davon, die „enge Wechselbeziehung zwischen theoretischem Vorverständnis und empirischem Material und das Ver-fahren einer sich schrittweise vortastenden Klärung und Revision von Begriffen, Interpretationen und theoretischen Annahmen“ als konstitutiv für qualitative Forschung zu bezeichnen (Hopf 1979, S. 29). Nach Mayringkönnen Untersuchungen „als ausreichend qua-litativ abgesichert gelten“, wenn das Vorverständnis des Forschers offen gelegt wird (vgl. Mayring 1999, S. 25). Der Umgang mit Vorwissen ist jedenfalls zu klären in Bezug darauf, ob – und insofern in welchem Umfang – es für das Forschungsvorhaben relevant ist. Flickmeint, der Forscher stehe an dieser Stelle vor seiner ersten Entscheidung im Forschungsprozess (vgl. Flick 1995b, S.151).

Fischer verweist darauf, dass „menschliches Verhalten konstitutiv auf Vorgängen der kategorial-interpretativen Deutung situativer Gegebenheiten beruht: wir nehmen unsere Umwelt nicht ‚konstatierend‘ hin, ‚wie sie ist‘, sondern ‚beobachten immer schon im Lichte von Theorien‘ (festen Annahmen über das Funktionieren der Welt, über die wir in Form von ‚Schemata‘ verfügen)“ (Fischer/P.-M.

1994, S. 179). Ohne theoretisches Modell ließen sich weder Phänomene untersuchen noch Verhaltens- oder Messkorrelate definie-ren (vgl. ebenda, S. 188). Ähnliche Argumente finden sich zum Beispiel bei Meuser und Nagel(Meuser/Nagel 1991, S. 464) und A-ckermann und Seeck(vgl. Ackermann/Seeck 1999a, S. 24, Seeck 2000, S. 19): Stets befinde sich der Forscher „schon auf beacker-tem Boden“ (heuristischen Annahmen, Objekttheorien und Vorstellungsrahmen), was die Forschungsfrage bedinge und die Auswahl der Experten leite.

Auch forschungsökonomische Gründe (z. B. eine knappe Ressourcenausstattung, die „Abkürzungsstrategien“ erzwingt) können die Aufstellung von Selektionskriterien nahe legen, die sich aus dem Vorwissen des Forschers speisen müssen (vgl. Hopf 1983, S. 50ff).

Mehr noch aber fließt das Vorwissen in die Analyse ein, argumentieren Bos und Tarnai. Theoretische Vorüberlegungen führten zu vorläufigen Kategorien, die an den Daten überprüft, korrigiert und modifiziert werden, bis mit ihnen der Text adäquat erfasst wer-den könne (vgl. Bos/Tarnai 1989, S. 8). Schärfer formuliert das Mayring, der auf die Grundsätze der Hermeneutik verweist, wonach das eigene Vorverständnis immer die Interpretation beeinflusse und die Analyse sozialwissenschaftlicher Gegenstände immer vom Vorverständnis des analysierenden Forschers geprägt sei. Auch ohne Explikation des Vorverständnisses präge der Standpunkt des Forschers den gesamten Forschungsprozess. Das Vorverständnis müsse deshalb offen gelegt und schrittweise am Gegenstand wei-terentwickelt werden (vgl. Mayring 1999, S. 18, Ulich 1972).

Lamnekargumentiert, nicht erst bei der Beschreibung der Daten, sondern „bereits bei deren Gewinnung zeigt sich die Abhängigkeit von der Theorie, denn die Alltagserfahrung, die im Lichte theoretischer Begriffe und mit Hilfe von Meßoperationen in wissenschaftli-che Daten transformiert wird, ist ihrerseits schon symbolisch strukturiert und bloßer Beobachtung unzugänglich” (Lamnek 1995a, S.

133; ferner: Atteslander 1993, S. 41 und S. 53f). Allerdings sei der Gebrauch wenig spezifizierter Konzepte zu Beginn der Untersu-chung charakteristisch für qualitative ForsUntersu-chungsansätze: „Dies bedeutet aber nicht, daß der Forscher in eine UntersuUntersu-chung begriffs-los ginge, sondern er sollte mit flexiblen Konzepten beginnen, die im Verlauf des explorativen Forschungsprozesses ihre Sensibilität gegenüber der empirischen Welt bewahren” (Lamnek 1995a, S. 131). Damit schlägt Lamnekeine Brücke zu der Position, welche die Berücksichtigung von Vorwissen weitgehend negiert.

Diese Position wird prominent von Glaser und Straussvertreten: Sie verlangen, dass sich der Forscher von allem Vorwissen frei ma-chen müsse. Konsequenterweise haben Glaser und Straussverlangt, die Literatur zu Theorien und Sachverhalten zu ignorieren, die den untersuchten Bereich betreffen, um seinem Forschungsfeld möglichst unvoreingenommen gegenübertreten zu können (Gla-ser/Strauss 1967, S. 37). Sie gehen davon aus, dass „die Phänomene für sich sprechen. Dies heißt, daß in qualitativen Studien der Forscher offen in das soziale Feld geht und sich von diesem unvoreingenommen ‚informieren‘ lässt. Seine vorhandenen theoreti-schen Vorstellungen oder Erwartungen dürfen nur Orientierungscharakter haben, sollen nur sensibel für die zu untersuchenden Phänomene machen” (Lamnek 1995a, S. 136f). Aus den Daten abgeleitet und durch typische Beispiele innerhalb des Datenbestan-des beschrieben sind Kategorien sind von den Daten abhängig, nicht einer externen Theorie, die an sie angelegt wird (vgl. Gla-ser/Strauss 1998, S. 47), Theorien ex posterioriabgeleitet (vgl. Mohler 1981, S. 720). Flickspricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer „gleichschwebende(n) Aufmerksamkeit“: Eigene theoretischen Annahmen und Strukturen lenkten dagegen die Aufmerksamkeit des Forschers auf konkrete Punkte und machten ihn blind für die Strukturen im untersuchten Feld bzw. Subjekt, wo-durch er sich und seine Forschung um die Entdeckung des tatsächlich ‚Neuen‘ bringe. Er verfehle damit die Authentizität im Zugang zum Untersuchten und stülpe ihm Strukturen über, die diesem eigentlich fremd sind (vgl. Flick 1995b, S.151, Meinefeld 2000, S. 268).

Dies zielt auf das Prinzip der Offenheit auf theoretischer Ebene ab, wonach die theoretische Strukturierung des Forschungsgegens-tandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des ForschungsgegensForschungsgegens-tandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat (vgl. Hoffmann-Riem 1980, S. 343), und stellt also auch eine Kritik strenger Hypothesengeleitetheit dar: Der Forschungsprozess muss so offen gehalten werden, dass Änderungen und Ergänzungen (auch in Bezug auf die Methoden) möglich sind, wenn dies der

Ge-genstand erfordert (vgl. Mayring 1999, S. 16f39). Statt das Vorwissen in Form von Hypothesen zu explizieren tritt daher in der quali-tativen Methodologie die Forderung nach einer Suspendierung dieses Vorwissens zugunsten einer größtmöglichen Offenheit gegen-über den spezifischen Deutungen und Relevanzsetzungen der Akteure (vgl. Meinefeld 2000, S. 266).

Dies bedeutet Verzicht auf Hypothesenbildung ex ante. Zwar wird die Fragestellung des Forschungsvorhabens auch unter theoreti-schen Aspekten bestimmt, ein Hypothesensatz ist damit aber nicht verbunden (Hoffmann-Riem 1980, S. 34540).

Meinefeldmerkt kritisch an, diese Argumentation übersehe, dass

„auch die erste Konstitution von Daten bereits eine aktive Leistung des Forschers darstellt, die auf seinem Forschungsinteresse und Vorverständnis aufbaut. Die Forderung nach einem ‚möglichst voraussetzungslosen‘ Sicheinlassen auf das Feld verdeckt gerade diese grundlegende Konstitution des Feldes in Abhängigkeit von dem Forscher zu diesem Zeitpunkt ‚verfügbaren Wissensvorrat‘.

Erkenntnisse über soziale Phänomene ‚emergieren‘ nicht aus eigener Kraft, sie sind Konstruktionen des Forschers von Anfang an.

Die in der qualitativen Methodologie gelegentlich zu findende Idealisierung der ‚Unvoreingenommenheit‘ des Forschers und der Vorstellung einer ‚direkten‘ Erfassung der sozialen Realität sind somit erkenntnistheoretisch nicht zu halten“ (vgl. Meinefeld 2000, S.

268f, zit. 269).

Er sieht zwei Auswege: Einerseits sei es immer „nur möglich, die Kategorien anderer Personen auf der Basis der eigenen Kategorien zu verstehen“ und „Wahrnehmung nur unter Rückbezug auf die je eigenen Deutungsschemata Bedeutung gewinnt, also das Vorwis-sen unsere Wahrnehmungen unvermeidlich strukturiert“. Zweitens biete sich eine Differenzierung „in der Unterscheidung der For-schungsfragen nach Art und Menge des bereits vorliegenden Wissens auf dem gerade untersuchten Gebiet“ an:

„Keineswegs aber muss dies bedeuten, für neue Beobachtungen nicht mehr offen zu sein. Wenn wir lernen, zwischen der prinzi-piellen methodischen Offenheit und der Expliziertheit, mit der das Vorwissen reflektiert und ausformuliert wird, zu unterscheiden, wird es möglich, die Formulierung von Hypothesen mit dem Rekonstruieren gegenstandsspezifischer Bedeutungsgehalte zu ver-einbaren. Die Offenheit für das Neue hängt gerade nicht davon ab, dass wir auf der inhaltlichen Ebene das Alte und Bekannte nicht bewusst gemacht haben, sondern davon, in welcher Weise wir die Suche nach dem Neuen methodisch gestalten. (...) Nur das Gerüst der in die Untersuchung einbezogenen Dimensionen ist damit festgelegt, nicht aber deren konkrete inhaltliche Aus-prägung; es können also sehr wohl inhaltlich überraschende Ergebnisse auf diesem Wege gewonnen werden“ (Meinefeld 2000, S. 271f).

Jedenfalls wird es darum gehen, das Vorwissen transparent zu machen, um Außenstehenden (d. h. sowohl der scientific community als auch fachlich interessierten Lesern) die Möglichkeit zu bieten, die Beobachtungen und Interpretationen des Forschers im Rahmen des Forschungsprozesses (von dessen Anlage bis zur Präsentation der Resultate) einschätzen zu können (was in Kap. 3 geschehen wird; dieses Kapitel stellt insofern die Darstellung des Elemente meines Vorwissens und der sich für mich hieraus ergebenden Schluss-folgerungen für die Durchführung der Untersuchung dar).

2 . 4 . 3 For sc hungsethi sc he Fr agen

In forschungsethischen Diskussionen gibt es keinen Dissens darüber, dass die in Untersuchungen einbezogenen Akteure nicht ge-schädigt, keinen Nachteilen oder Gefahren ausgesetzt werden dürfen und ihre Anonymität zu wahren ist41. Lamnekverweist gleich mehrfach darauf, dass („selbstverständlich“) dem Akteur absolute Vertraulichkeit und Anonymitätzuzusichern ist (vgl. Lamnek 1995b, S. 93, S. 97 und S. 107; ebenso Friebertshäuser 1997, S. 393): Er verdeutlicht ihm die Folgenlosigkeit des Interviews, dass soziale Konsequenzen im Sinne einer negativen Sanktionierung ausgeschlossen sind, zum Beispiel dadurch, dass Akteure weder in der Ana-lyse und schon gar nicht bei der Publikation mit ihrem Namen genannt oder Orte ohne Verschlüsselung genannt werden (vgl.

Lam-39 Meinefeldverweist ausdrücklich auf die klassischen Studien der empirischen Sozialforschung (z. B. die Arbeiten von Thomas und Znaniecki, Whyte, Becker oder Lazarsfeld), an Hand derer sich zeigen lasse, „dass eine Formulierung inhaltlich spezifizierter Hypothesen zu Beginn die-ser Studien oftmals gar nicht möglich gewesen wäre; so betonen Whyte und Blanche Geer ausdrücklich, wie grundlegend sich ihre Fragestel-lung nach den ‚ersten Tagen im Feld‘ gewandelt hat und wie sie sie an die Besonderheiten und Möglichkeiten ihres Untersuchungsgegenstan-des anpassen mussten“ (Meinefeld 2000, S. 267)

40 Den von Flickreferierten Einwand von Hopf, ob die geforderte Offenheit des Forschers der tatsächlichen Forschungspraxis gerecht wird und aus dem Verzicht auf explizite Hypothesen nicht die Gefahr des Operierens mit impliziten Hypothesen folge, die dann (zum Beispiel bei der Auswertung) „mehr oder weniger unreflektiert und unkontrolliert ‚durchschlagen‘“ könnten (Hopf 1985, S. 151), muss man sicher sehr ernst nehmen; hier kann freilich nach meiner Auffassung eine präzise Dokumentation des Prozesses und insofern Prozesstransparenz Abhilfe schaf-fen.

41 Der von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und dem Berufsverband Deutscher Soziologen (BDS) veröffentlichte Ethik-Codex be-fasst sich mehrfach (Ziffern 1, 2, 4 und 5) mit den Schutzrechten der Untersuchten und damit mit dem Thema der Anonymität (vgl. DGS /BDS 2002), ebenso der Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (vgl. DGfE 1999 und DGfE 1997, S. 861f).