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Begrifflich steht zunächst dieSelbstorganisation Jugendlicher im Mittelpunkt der Untersuchung. Das ihr zunächst unterlegte Grund-verständnis von der Selbstorganisation Jugendlicher77ist dadurch geprägt, dass sie (in wachsendem Maße) über Fähigkeiten verfü-gen und Fertigkeiten (teilweise kollektiv, z. B. in Cliquen) entwickeln, ihren Lebensalltag ohne Inanspruchnahme von erwachsenen Be-zugspersonen zu organisieren und den Statusübergang insoweit (auch) selbstorganisiert zu bewerkstelligen. Diese wachsende Fähig-keit zur Selbstorganisation scheint aber einherzugehen mit zunehmenden Problemen der durch Erwachsene geprägten Systeme (z.

B. Nachbarschaft), insbesondere mit den auf Freizeit und Gemeinschaft ausgerichteten Selbstorganisationsprozessen und ihren Er-scheinungsformen (z. B. Cliquen- und/oder informelle Treffpunkte Jugendlicher) umzugehen. Konflikte zwischen der Selbstorganisa-tion Jugendlicher und dem Umfeld (wie im eingangs geschilderten Praxisproblem dargestellt) scheinen kein Ausnahmefall zu sein (vgl.

z. B. Erfahrungsberichte: Heim u. a. 1992c 1992d und 1992f, Krafeld 1994, 1999, 2001 und 2003, Krause 1992). Im Sinne dieses Eingangsverständnisses wird ebenso allgemein Selbstorganisationsförderung zunächst als professionelles soziales Handeln von Fach-kräften kommunaler Jugendarbeit verstanden, das auf das Gelingen von Selbstorganisationsprozessen (und damit auch im Umkehr-schluss auf das Lösen von Konflikten zwischen Selbstorganisation Jugendlicher und Umfeld) gerichtet ist.

Ich werde im Folgenden kurz die Rahmenbedingungen des Aufwachsens Jugendlicher skizzieren und anschließend herausarbeiten, dass Cliquen(bzw. mit dem traditionelleren Begriff:peergroups) selbstorganisierte Systeme im Sinne Batesonssind und Selbstorgani-sationsförderung eine Form des sozialen Handels von Fachkräften der Jugendarbeit darstellt.

3 . 2 . 1 Bedi ngungen des Aufwac hsens Jugendl i c her

Das Aufwachsen Jugendlicher erfolgt unter den Bedingungen des sozialen Wandels (vgl. dazu z. Böhnisch/Schefold 1985, Beck 1986, Hradil 1987, Fend 1988, Breyvogel 1989, Heitmeyer/Olk 1990, Ferchhoff 1990, Bundesregierung 1990, Zapf 1991, 1994, 1995, Peukert 1996, Bundesregierung 2002), der die Arbeits- in eine Wissens- und Informationsgesellschafttransformiert (vgl. Bonß 2003).

In Anlehnung an Beck (Beck 1986, 1991, 1993, 1995 und 1997), auf den ich Bezug nehme, auch wenn das von ihm aufgestellte Theorem weiterentwickelt (vgl. z. B. Bundesregierung 2002, S. 105f) oder als catch-all-Ansatz kritisiert wurde (vgl. z. B. Griese 2001), lassen sich folgende Hauptlinien (in der Bundesrepublik) nachzeichnen:

1. die Existenzformen und -lagen werden immer weniger durch soziale Herkunft und Lage vorbestimmt, es gibt eine „Tendenz zur ,Klassenlosigkeit‘“: der Trend zur Konsumgesellschaft, die Modernisierungsschübe des Wohlfahrtsstaats, der vor allem ökono-misch diktierte Zwang zu Mobilität und die so genannte Bildungsexpansion lösen die traditionellen sozialen Bindungen und (alt-) hergebrachten Bindungen an Familie, Milieu, Nachbarschaft oder Betrieb auf und verbinden sowohl die damit verbundenen Chancen als mehr noch die Risiken mit allen gleichermaßen, „jenseits von Klasse und Schicht“. Menschen werden aus

vorgege-77 Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 KJHG ist Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Auch nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) wird ein junger Mensch zwischen 14 und 17 Jahren als Jugendlicher verstanden (vgl. Gernert 2001ac, S. 259f).

Diese Begriffsbestimmung im Lichte des Jugendrechts wird hier als Minimaldefinition herangezogen bereits 1966 machte Hornsteindeutlich, Jugend könne nicht auf einen Nenner gebracht werden (vgl. Hornstein 1966, S. 322). Andere Definitionen stoßen schnell auf ihre Grenzen, denkt man zum Beispiel an Jaideund Schäfers, die Jugend in biologisch und entwicklungspsychologisch mitbestimmte Altersgruppen der 12-bis 18jährigen differenzieren (vgl. Jaide 1988, S. 21, Schäfers 1994, S. 30), während Ausubel Jugendliche eher über die Zughörigkeit zu Gruppen Gleichaltriger (mithin einen aktiven Orientierungsprozess) definiert (vgl. Ausubel 1968, S. 116). Dennoch empfiehlt es sich, selbst die rechtliche Definition in Bezug auf Selbstorganisationsförderung offen hand zu haben, denn dem Selbstverständnis der Jugendarbeit dürfte es kaum entsprechen, Zielgruppen quasi „mit dem Personalausweis“ einzugrenzen. Naglist wohl zuzustimmen, dass Jugendlicher ist, wer „sich für einen solchen hält und Angebote der Jugendarbeit aus eigenen Stücken annimmt“, also eine Form der „Selbstetikettierung als Definitionskrite-rium“ erfolgt (vgl. Nagl 2000, S. 32; ferner: Bundesregierung 1990, S. 53). Eine starre Abgrenzung trüge dem nicht Rechnung. Wie schon die Forschung zu den Lückekindern zeigte (vgl. Friedrich 1984), gibt es ältere Kinder, die von ihrem sowohl biologischen wie entwicklungspsycho-logischen Verhalten und ihrer Orientierung auf Gleichaltrige längst Jugendliche sind, während andererseits schon Heranwachsende 19- und 20jährige längst noch nicht distanziert zu Jugendszenen, Cliquen oder peergroups leben (vgl. Kilb 2003). Jugendliche in diesem geweiteten Verständnis sind also im Kernzwar die 14-bis 17jährigen, gleichwohl sind aber auch ältere Kinder (12- und 13jährige) und jüngere Heran-wachsende/Erwachsene (19- und 20jährige) im Einzelfall gleichermaßen zu der Altersgruppe hinzuzählen.

benen Sozialformen und Bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungsbezüge herausgelöst. Sie verlieren im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen an traditionalen Sicherheiten und sind gezwungen, diesen Stabili-tätsverlust durch eine neue Art der Einbindung auszugleichen und andere Orientierungen zu suchen: „Individualisierung bedeu-tet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsab-hängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird“ (Beck 1986, S. 216; vgl. ebenda, S. 216f).

2. Damit nimmt die die Verantwortung des Individuums für die Gestaltung des eigenen Lebens und die Verantwortung für die ei-gene persönliche Lebensgestaltung und -planung zu (und realisiert sich Biografie nicht mehr als Normal- sondern als Wahlbio-grafie), ohne dass die damit verbundenen Möglichkeiten zur Gestaltung neuer Wege einhergehen mit einer Erweiterung auch der dafür erforderlichen Ressourcen: „An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) tre-ten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten ma-chen“ (Beck 1986, S. 211). So ist zum Beispiel die zeitweise Erwerbslosigkeit bereits Bestandteil der Normalbiographie geworden oder es werden sinkende Chancen wahrgenommen, persönlich auf diese immer komplexeren Lebensbedingungen Einfluss auf-zuüben.

3. Diese Individualisierung des Lebens verlangen immer neue „Suchbewegungen“ und experimentelle Umgehensweisen mit Le-bensorientierungen und -gestaltungen mit der Konsequenz der (Neu-) Entwicklung sozialer Beziehungen, die unter den verän-derten Bedingungen eine Lebensbewältigung in enttraditionalisierten, individualisierten Lebenswelten erlauben (z. B. veränder-ten [auch familialen] Beziehungen zwischen den Geschlechtern). „Der Einzelne stilisiert sich in seiner personalen Individualität, fühlt sich auch subjektiv originär und originell und teilt doch mit einer Masse anderer Einzelner einen ähnlichen Lebensstil“ (Böh-nisch 1996, S. 55). Zur Emanzipation führt das eigene Leben nicht. Vielmehr wird das aus den Sozialbezügen freigesetzte Indi-viduum nunmehr von anderen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, zum Beispiel von Märkten, Moden, Medien oder (so-zialen) Versorgungssystemen (vgl. Beck 1986, S. 115ff, 121ff, 129, 161ff, 205f und 208f; ferner: Thiersch 2002, S. 20, Fend 1988, Olk 1985, Fuchs 1983, Beck 1983).

Was heißt das für Jugendliche? Bis in die 70er und 80er Jahre galt im Grundsatz, was Eriksonals die grundlegendste Aufgabe der Jugendzeit ansah: eine neue Identität herauszubilden (vgl. Erikson 1966). In dieser Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, der Zeit der körperlichen Reifung zum Erwachsenen kommt es regelhaft zu einer notwendigen psychischen Krise, die mehr oder weniger heftig, mehr oder weniger lang sein kann: In dieser Krise findet gewissermaßen eine Verflüssigung jener Strukturen und Festlegun-gen statt, die aus der Kindheit stammen. Die Familie wird in Frage gestellt, es erfolgt in der Regel eine Abwendung und Trennung von der Familie, andere gesellschaftliche Kräfte und Instanzen gewinnen für den Jugendlichen an Einfluss. Die Identität des Jugendli-chen wird revidiert und erfährt eine neue Festlegung (vgl. Pollak 2002, S. 79)

Der Jugendliche ist in dieser Lebensphase mit verschiedenen – im Übrigen seit Eriksonstark veränderten (vgl. Hornstein 1988, S. 70) – Entwicklungsaufgaben konfrontiert:

1. dem Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers;

2. dem Erwerb emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen;

3. der Entwicklung eines ersten Lebensplans und einer Zukunftsperspektive und der Vorbereitung auf eine berufliche Karriere;

4. dem Erwerb eines Werte- und Normensystems und Entwicklung eines ethischen Bewusstseins als Verhaltensrichtschnur, dem Er-werb und der Einübung eines sozial verantwortlichen Verhaltens

5. der Ausformung eines relativ stabilen Selbstkonzepts und der Beherrschung der Triebe und Affekte im Rahmen der Selbstkon-trolle,

6. dem Erwerb der Geschlechtsrolle, dem Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts und der Fähigkeit, in-time und emotionale Beziehungen zu einem Sexualpartner aufzunehmen sowie der Vorbereitung auf Heirat und Familienleben;

7. „dem Erwerb eigener Handlungsmuster und Verhaltensstandards zur Nutzung des Konsumwarenmarktes und der kulturellen Freizeitangebote

8. der Ausformung von Ambiguitätstoleranz, damit die Widersprüche von Normen und Zielen ausgehalten und ertragen werden können (vgl. Erikson 1966, Havighurst 1972, Ferchhoff/Neubauer 1989, S. 121f, Kolip 1993, S. 74f, Nagl 2000, S. 64f).

Böhnisch und Münchmeierbezeichnen die hiermit verbundenen Prozesse alsLebensbewältigung(vgl. Böhnisch/Münchmeier 1993, S.

52f; ferner: Böhnisch 1998b, Grundwald/Thiersch 2004b, S. 15); mir erscheint dieser Begriff gut geeignet, damit die sich Jugendli-chen stellenden Aufgaben zu charakterisieren. Vor dem Hintergrund des oben kurz skizzierten sozialen Wandels – bzw. Struktur-wandels der Jugendphase(vgl. Münchmeier 1991b, 1997 und 1998) – heißt dies im Blickwinkel junger Menschen insbesondere, dass

die klassischen Orientierungsmilieus an Bedeutung einbüßen und Großorganisationen an Integrationskraft verlieren, der Einzelne nicht mehr über stabile Beziehungen verfügt und auf sich selbst gestellt ist, Probleme der Identitätsbildung durch brüchiger und zunehmend unverbindlicher werdende Normen und Wertesysteme entstehen und Konkurrenzbeziehung(„Trend zur

Ellenbogen-gesellschaft“) stärker ausgeprägt werden: Der soziale Wandel hat für Jugendliche zur Folge, dass „sich traditionelle Lebenskon-zepte, Orientierungs- und Handlungsmuster immer mehr auflösen, ohne daß andere, tragfähigere Leitlinien zur Lebensbewälti-gung erkennbar oder greifbar wären“ (Krafeld 1992c, S. 26) bzw. sich „neue, offenere Möglichkeiten der Lebensführung für Gruppen und für einzelne ergeben“ (Thiersch 2002, S. 20)78.

das Schulsystem Kinder mehr als früher von der Familie trennt und zu einem Schüler-Sein als eigenständigem Lebenszuschnitt führt und die Ablösung vom Elternhaus früher beginnt (vgl. Ferchhoff 1990, S. 129, Melzer/Hurrelmann 1990, S. 44 und 53, Schrö-der/H. 1995, S. 34; ferner: Baethge 1985). Es bildet sich damit eine eigenständige, „gesellschaftlich noch unbestimmte und risiko-hafte nachschulische Lebensphase“ (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1987, S. 50) heraus, „an deren Ende erst als - immer unsicherer er-reichbare - zweite Statuspassage die stabile Integration in Erwerbstätigkeit, damit die ökonomische Selbständigkeit steht“; längst ebnen Bildung und Ausbildung nicht mehr Wege in die Zukunft, damit werden „die wichtigsten Fixpunkte zum Erwachsenwerden (z. B. ökonomische Unabhängigkeit) aufgrund der langen Schul- und Ausbildungszeit sowie dem oft nicht funktionierenden Über-gang in eine gesellschaftlich anerkannte Erwachsenenrolle heute wesentlich später erreicht“ (Deinet 1992a, S. 25), bleiben doch Jugendliche heute immer länger wirtschaftlich von ihren Eltern abhängig (vgl. Schröder/H. 1995, S. 34 und 180ff, Ferchhoff/Olk 1988, S. 27, Krafeld 1992c, S. 19).

Insgesamt hat sich in den zurückliegenden 20, 30 Jahren die Lebensphase Jugend von einer relativ „sicheren Übergangs-, Exis-tenz- und Familiengründungsphase“ – unter nicht zu unterschätzendem Einfluss der Massenmedien – zu einem „offenen Lebensbe-reich“ gewandelt (vgl. Ferchhoff 1990, S. 130) und die Zukunftgerichtetheit Jugendlicher einer Gegenwartsorientierung weichen lassen, bei der „hedonistische, lust- und spaßvolle Lebensgefühle vor(herrschen). Sofortige Wunscherfüllung ist angesagt. Das tra-ditionelle deferred gratification pattern resp. die Zukunftsbezogenheit treten in den Hintergrund“ und „die Zielspannung Erwach-senwerden hat nachgelassen“ (Ferchhoff 2002, S. 157f).

Jugendliche verbringen immer größere Lebensanteile unter Gleichaltrigen, obgleich die Familie einen hohen Stellenwert hat. Die Autoren des Achten Jugendberichts (S. 62ff), des Neunten Jugendberichts (S. 47ff) und des Elften Jugendberichts (Bundesregie-rung 2002, S. 125ff)„betonen die positive Funktion und den hohen Stellenwert, den Familie in den Einstellungen von Jugendlichen hat. (...) Auch bei zunehmendem Alter bleibt diese Bedeutung der Eltern auf hohem Niveau bestehen“ (Schmidtchen 1997, S. 113;

vgl. ebenso Shell-Jugendwerk 2000, S. 13ff, Oswald 1980, S. 72ff, Allerbeck/Hoag 1985, S. 60, Jaide 1988, S. 199ff, Veen u. a.

1994, S. 39, Shell-Jugendwerk 1992/ Bd. 1, S. 293, Nagl 2000, S. 80ff, Krafeld 1992c, S. 19). Jugendliche versuchen, ihre Selb-ständigkeit neben und nicht gegen die Familie herzustellen und zu leben (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1993, S. 118), ihre Verselbst-ständigung erfolgt weniger im Konflikt, vielmehr wird sie von den Eltern aktiv unterstützt und begleitet (vgl. Bundesregierung 2002, S. 126). Ferchhoffspricht daher von einem Modell der „alllagspragmatischen Koexistenz, solange wie möglich im Elternhaus zu le-ben und zugleich dennoch ohne dienliche Kontrollformen selbständig“ zu sein (Ferchhoff 1993, S. 126).

Die Erosion bzw. Entwertung Identität stiftender (traditioneller) Lebensformen -Olkspricht von der damit einhergehenden „Ent-strukturierung der Lebensphase Jugend“ (vgl. Olk 1985, S. 300) – zwingt die Jugendlichen, sich auf die Suche nach Neuem zu be-geben –Beckspricht von Suchbewegungen(vgl. Beck 1986, S. 119) –, und lässt neue Lebensstile eine immer größere Bedeutung erlangen, die quasi Identität stiftende Funktionen übernehmen (vgl. Ferchhoff 1990, S. 143). Damit pluralisieren und dynamisieren sich die Lebenszusammenhänge und –stile Jugendlicher, was zum Beispiel mit einer Vervielfachung ihrer (Freizeit-) Stile Jugendli-cher einhergeht. Ferchhoffregistrierte allein 29 differente (Jugend-) Stile (vgl. Ferchhoff 1999, S. 120ff; auf die Pluralisierung Stile verweisen auch unisono die Shell-Jugendstudien seit 1981: vgl. Shell-Jugendwerk 1981, Shell-Jugendwerk 1992, Bd. 1 [Gesamt-darstellung und biographische Portraits], Shell-Jugendwerk 1997, Shell-Jugendwerk 2000, Shell-Jugendwerk 2002). Die Freizeit ist dabei der Raum, in dem sich diese Stile am deutlichsten artikulieren können (vgl. Lüdtke 1992, S. 239), wobei vor allem die Kon-takte mit Gleichaltrigen bedeutsam sind. Dieser dominierende „Peer-Kontext“ kann „als einer der signifikantesten Reflexe der rela-tiven Ausgliederung von Jugendlichen aus den institutionellen Ernstbereichen der Gesellschaft“ (ebenda, S. 240) begriffen und die peergroup als die wichtigste Bezugsgruppe für das Freizeitleben eingeschätzt werden. Allerdings mehren sind damit erhebliche Scheiternsrisiken verbunden; so wachsen zwar die Optionen junger Menschen, angesichts eines expandierenden Freizeitmarkts ih-re Fih-reizeit zu gestalten, zugleich werden diese durch pih-rekäih-re Lebenslagen und wachsende Armut beschränkt (vgl. Bundesih-regie- Bundesregie-rung 2001).Eisenbürger und Vogelsangsprechen insgesamt von einem „riskanten Prozess der jugendlichen Alltagsgestaltung und Identitätsfindung“ (Eisenbürger/Vogelsang 2002, S. 29; ferner: Krafeld 1992c, S. 26ff; ferner: Krafeld 1992e, S. 310, Olk 1985, Fuchs 1983).

78 Allerdings weisen die Autoren des Elften Jugendberichtes auch darauf hin, , dass trotz der Heterogenisierung der jugendkulturellen Erlebens-praxen der Biografieverlauf „noch immer stark von soziodemographischen Merkmalen wie Geschlecht, Bildung, dem Bildungsstand der Eltern oder regionalen Besonderheiten beeinflusst“ und durch sozialstrukturelle Merkmale im erheblichem Maße präformiert und die Wahl eines spezifischen Lebensstils an biografische und soziale Vorerfahrungen im Rahmen familialer Primärsozialisation gekoppelt bleibt (vgl. Bundesre-gierung 2002, S. 128).

Das „Kernproblem“ stellt sich dabei zunehmend als Individualisierung und Pluralisierung dar. Die Begriffe der „Pluralisierung von Le-benszusammenhängen und Lebensstilen“ (Olk/Otto 1981) bzw. der „Individualisierung von Lebensführungsmustern“ (Berger/Hradil 1990) charakterisieren Im Sinne Becks die Prozesse der zunehmenden Notwendigkeit, persönlich über den Lebensentwurf zu ent-scheiden, da aufgrund der tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen eine einfache Orientierung an vorgegebenen (tradier-ten) Werten und Normen zunehmend schwierig geworden ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund des Auseinanderfallens von Familien- und Verwandtschaftssystemen diese personale Sicherheit im unmittelbaren Lebensbereich von Jugendlichen gefährdet ist. „Gerade für Jugendliche ergibt sich hieraus die Schwierigkeit, ihre lebensbiographischen Projekte und Planungen ohne den Bezug auf äußere Normen, Gruppen und Personenbindungen gewissermaßen aus sich selbst heraus, aus der Beziehung zur eigenen Per-son, Psyche und Körper, zu entwickeln“ (Heitmeyer/Olk 1990, S. 29) Was zählt, ist das „frei flottierende eigene Ich“ (vgl. Ferchhoff 1990, S. 82).

Individualisierung schafft zwar eine Vielzahl von neuen Optionen und größere Gestaltungsspielräume, diese Gestaltungsmöglichkei-ten bringen zugleich erhebliche Herausforderungen für Jugendliche mit sich, da klare Orientierungen, VorgegebenheiGestaltungsmöglichkei-ten und Leit-bilder auch Sicherheit vermittelten, ihr weitgehendes Fehlen aber zu Verunsicherung beitragen wird. Die Offenheit von Lebenssitua-tionen kann so zu einem Risiko für Jugendliche werden, wenn sie durch die Komplexität und Vielfalt von SituaLebenssitua-tionen überfordert werden, wenn ihnen keine klaren Maßstäbe mehr vermittelt werden, auf deren Basis sie Entscheidungen treffen können (vgl. Bun-desregierung 1990, S. 29, 52f und 59, vgl. die Resultate der 12. Shell-Jugendstudie in Shell-Jugendwerk 1997, S. 13). Sie müssen „ih-re lebensbiographischen Projekte und Planungen ohne den Bezug auf äuße„ih-re Normen, Gruppen und Personenbindungen gewis-sermaßen aus sich selbst heraus, aus der Beziehung zur eigenen Person, Psyche und Körper, zu entwickeln.“ (Heitmeyer/Olk 1990, S.

29) Was zählt, ist das „frei flottierende eigene Ich“ (vgl. Ferchhoff 1990, S. 82).

Das schafft für Jugendliche, dass zunehmend biographische Ungewissheit, „die dem Ambivalenzcharakter gesellschaftlicher Indivi-dualisierung entsprechend sowohl als ‚Sonnen- oder als Schattenseiten’ der Jugendbiographie in gestiegenen Freiheitsgraden oder zunehmende Verunsicherungen biographischer Prozessverläufe ihren Ausdruck finden können“ (Schröder/H. 1995, S. 20), und führt zu einer Art Individualbiographie, welche Drößlerals „die Bewältigung einer prinzipiell gestaltbaren Individualbiografie, das Zurecht-finden im Dschungel jugendkultureller Stilbildungen, die Wahl zwischen Optionen bezüglich der eigenen Zukunft, die Konstruktion individueller Lebensentwürfe oder die Einbindung in soziale Bezugssysteme“ beschreibt (vgl. Drößler 1998, S. 75; vgl. auch Pollak 2002, S. 79).

Dies erfolgt zugleich unter den Bedingungen pluralisierter bzw. entstrukturierter Lebensbedingungen, das heißt Lebensstrukturen, die sich in Bezug auf die Strukturen in Stadt und Land, zwischen In- und Ausländern, für Jungen und Mädchen, aber auch in Bezug auf die Zugehörigkeit zu Jahrgangskohorten stark unterscheiden (vgl. Thiersch 2002, S. 20). Einerseits können Jugendliche – wie be-schrieben – als kompetente Gestalter ihrer eigenen Freizeitkultur auftreten, andererseits werden sie aufgrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt und bruchvoller Prozesse beruflicher Integration als resigniert und passiv angepasst charakterisiert (vgl. Baethge 1985, 1988 und 1991 Baethge u .a. 1983 und 1988).Olkdeutete schon 1985 diesen Widerspruch als Ausdruck der gleichen Jugendge-neration und geht davon aus, „daß die einheitliche Statuspassage Jugend zerfällt und auf diese Weise in eine Vielzahl subsystem-spezifischer Übergangsphasen mit je eigenen Erscheinungsformen und Zeitstrukturen zerlegt wird“ (Olk 1985, S. 294).

Damit kann Jugend spätestens seit Mitte der 80er Jahre nicht mehr als „kollektive Statuspassage“ zwischen Kindheit und Erwach-sensein gefasst werden, die mit der Pubertät beginnt und mit dem Eintritt in das Berufsleben und/oder der eigenen Familiengrün-dung endet, sondern es bildet sich ein relativ eigenständigerLebensabschnitt Jugendheraus, der als eigener, offener, individualisier-ter und pluralisierindividualisier-ter Lebensbereich (vgl. Ferchhoff/Neubauer 1997, S. 114, Ecarius/Fromme 2000, S. 19) in eine „Vielzahl subsyste-mischer Übergangsphasen mit je eigenen Erscheinungsformen und Zeitstrukturen“ (Olk 1985, S. 294) zerfällt und als „psychosoziales Laboratorium“ gekennzeichnet werden kann (vgl. Eisenbürger/Vogelsang 2002, S. 28; ferner: Shell-Jugendwerk 2000, Ferch-hoff/Neubauer 1997, Merkens/Zinnecker 2001, Sander/Vollbrecht 2000, Timmermann/Wessela 1999).

3 . 2 . 2 Cl i quen al s S ystem e j ugendl i c her S el bstor gani sati on

In diesem Laboratorium übernehmen die Systeme Gleichaltriger eine zentrale Rolle; für Drößlerist es das „wesentliche Merkmal mo-dernen ‚Beziehungslebens’“, dass diese Kontakte zu Gleichaltrigen „zum großen Teil frei gewählt werden müssen, d. h. daß auch gendliche angehalten sind, sich ihre sozialen Netze weitgehend selbst zu ‚stricken’“ (Drößler 1998, S. 78). Die Suchbewegungen Ju-gendlicher fokussieren sich – folgt man der Literatur – in den Netzwerken JuJu-gendlicher79: Danach verfügen Jugendliche in der Regel

79 Netzwerke beschreiben Heinze, Olk und Hilbertals das „Eingebundensein der Menschen in soziale Beziehungen und Bindungen õ durch Netze, bei denen einzelne Personen die Knotenpunkte und ihre Beziehungen untereinander die Verbindungslinien zwischen den Knotenpunk-ten darstellen. (...) Durch ihre Einbindung in soziale Netzwerke werden die Individuen also in die Gesellschaft integriert, werden ihnen soziale Erwartungen, Bestätigung, immaterielle und materielle Unterstützung usw. in alltäglichen Interaktionen übermittelt“ (Heinze u . a. 1988, S. 112).

über ein ausgedehntes und in sich differenziertes soziales Netzwerk, das sowohl auf informelle als auch auf formelle Weise Kontak-te zwischen Gleichaltrigen ermöglicht (vgl. Ferchhoff/Olk 1988, S. 25; zusammenfassend Baacke 1983; Baacke/Ferchhoff 1988).

Dieses Netzwerk bietet dem Jugendlichen die Option, im Falle problematischer Lebenssituationen auf verschiedene Ansprechpartner aus unterschiedlichen sozialen Kontexten (z. B. Familie, Partnerschaft, Gleichaltrige) zurückzugreifen, die in den unmittelbaren Le-bensbereichen der Jugendlichen verankert sind (vgl. Bundesregierung 2002, S. 127, Schröder/H. 1995, S. 33).

Schon Colemanbeschrieb1961 in seiner Studie „Adolescent Society“ die Entwicklung einer Gesellschaft der Gleichaltrigen in und um eine Schule, in der peergroup-verbindliche Kontroll-, Sanktions- und Gratifikatikationsmuster entwickelt wurden, die sich meist als att-raktiver und verbindlicher als die der Schule eigenen erwiesen; seitdem setzt sich die Erkenntnis durch, dass Jugend eine eigenstän-dige Teilkultur mit eigenen Normen und Verhaltensregeln ist (vgl. z. B. Naudascher 1978, S. 142f).

Seit den Untersuchungen von Eisenstadt, Parsons bzw. Erikson ist weitgehend anerkannt (und die ältere deutsche peergroup-Forschung vollzog die Befunde in der Bundesrepublik nach80), dass die peergroups eine zentrale Funktion für die Entwicklung im Ju-gendalter haben, um, eher noch als Familie oder Schule, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, einen eigenen Status zu erwerben bzw. zwischen traditionellen und modernen Wertsystemen zu vermitteln, und insofern die Herausbildung altershomogener Gruppen Jugendlicher für deren Vorbereitung auf erwachsenes Rollenhandeln gesellschaftlich erforderlich ist. Sie besitzen eine Art Vorberei-tungscharakter auf die noch unzugängliche Erwachsenenwelt, indem sie späteres Verhalten unter Gleichaltrigen, Kollegialität und Gegenseitigkeit, Intimität und Offenheit einzuüben erlauben, und ergänzen so die institutionalisierten Erziehungsprozesse (vgl. Ferch-hoff 1990, S. 27 und 29, Tillmann 1989, S. 194ff, Krafeld 1992c, S. 36, Schröder/H. 1995, S. 111ff, Nagl 2000, S. 28f).

Die jüngere deutsche peergroup-Forschung beantwortet die Frage nach dem Stellenwert der peergroups noch trennschärfer und verweist auf die gestiegene Bedeutung der Cliquen für die Lebensbewältigung Jugendlicher81: Seit den 80er Jahren wurde auch empirisch bestätigt, dass sich Jugendliche in ihrer frei verfügbaren Zeit in immer stärkerem Maße mit anderen Gleichaltrigen zu-sammentun (vgl. etwa: Gillis 1980, Roth/L. 1983, Fend 1988, S. 154). Für Allerbeck und Hoagstellt die Zunahme der Mitgliedschaft

Die jüngere deutsche peergroup-Forschung beantwortet die Frage nach dem Stellenwert der peergroups noch trennschärfer und verweist auf die gestiegene Bedeutung der Cliquen für die Lebensbewältigung Jugendlicher81: Seit den 80er Jahren wurde auch empirisch bestätigt, dass sich Jugendliche in ihrer frei verfügbaren Zeit in immer stärkerem Maße mit anderen Gleichaltrigen zu-sammentun (vgl. etwa: Gillis 1980, Roth/L. 1983, Fend 1988, S. 154). Für Allerbeck und Hoagstellt die Zunahme der Mitgliedschaft