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iele Checklisten er- wecken den Eindruck, eine Immobilie ließe sich bewerten wie ein Fahr- rad. Wenn zwei Räder, Lenk- stange, Pedal und Bremse vorhanden sind, kann man das Vehikel kaufen. Sattel und Gangschaltung erhöhen den Verkaufspreis. Die Funk- tionsfähigkeit läßt sich in Ru- he zu Hause überprüfen –nach dem Kauf. Die Realität sieht anders aus: Trotz mathe- matischer Formeln können nicht einmal Sachverständige die unwägbaren Einflußgrö- ßen exakt beurteilen. Kein Wunder, denn es gibt kei- ne allgemeinverbindliche Me- thode zur Immobilienbewer- tung. Je nachdem, welches Verfahren angewandt wird, und je nachdem, welche Da-
ten diesem Verfahren zu- grunde gelegt werden – schon die Bodenrichtwerte sind oft mehrere Jahre alt –, können die ermittelten Werte weit auseinander liegen. Zehn Prozent Differenz sind allge- mein anerkannt. Die Recht- sprechung geht von wesent- lich größeren Toleranzen aus.
Den Immobilienmarkt gibt es nicht. Er zerfällt in re- gionale Teilmärkte, die kaum per Checkliste oder anhand von Durchschnittswerten zu beurteilen sind. Wenn in einer Analyse steht, ein Reihenhaus in guter nord- deutscher Wohnlage koste 400 000 DM, bedeutet das nicht, daß jedes Hamburger Gebäude mit 500 000 DM hoffnungslos teuer und jedes Objekt in der Lüneburger Heide mit 350 000 DM beson- ders günstig ist. Daher ist es problematisch, sich bei der Bewertung einer Immobilie auf einige Kriterien zu verlas- sen und das Gemäuer sofort zu kaufen, wenn alle Soll- vorgaben eingehalten wer- den. Bei allem Verständnis für Vergleichs-, Richt- und Durchschnittswerte muß im- mer der Einzelfall beurteilt werden. Selbst die Prädikate
„gute Wohnlage“ und „solide Bausubstanz“ verraten nicht alles über den Wert einer Im- mobilie.
Schon die Begriffe „nor- male“ oder „gute Wohnlage“,
„1a-“ beziehungsweise „1b- Lage“ und andere Klassifika- tionen werden nicht selten aus dem Bauch heraus defi- niert. Sie geben nicht einmal Aufschluß über die ortsüb- liche Vergleichsmiete oder über einen marktgerechten Kaufpreis. Eine ortsübliche Vergleichsmiete – sofern sie überhaupt bekannt ist – muß immer im Verhältnis zur Qua- lität der Bausubstanz gesehen werden. Die Anfangsmiete bietet weder einen Anhalts- punkt für den weiteren Ver- lauf (Indexierung) noch für die Höhe der Folgekosten.
Ein weiteres Problem ist die Qualität der Bewirtschaf- tung. Hochwertige Bausub- stanz schützt den Besitzer nicht vor Verlust, wenn er
sie nur unzureichend erhält.
Auch Kennzahlen sagen, iso- liert betrachtet, wenig aus.
Der ominöse „Vervielfälti- ger“ liefert nur oberflächliche Informationen zur Rendite und zur Dauer der Kauf- preisamortisation aus An- fangsmieterträgen. Er ver- liert seinen Informationsge- halt, wenn ein Bauträger ho- he Anfangsmieten „garan- tiert“, nachdem er die Zusatz- kosten vorher im Kaufpreis berücksichtigt.
Aussagekräftige Kennzahlen sind meist unbekannt Daß jeder Standort seine eigenen Gesetze hat, die sich mit keiner Checkliste erfas- sen lassen, gilt besonders für Einzelhandelsobjekte. Auch ein Objekt in 1a-Lage steht auf verlorenem Posten, wenn ein neues Einkaufszentrum am Stadtrand die Kunden ab- wirbt. Ebenso schwierig ist es, wenn sich das Objekt in 1b- Lage befindet, der Mieter kurzfristig in eine günstige 1a-Lage umzieht und die Flächen nur mit Verlust oder mittelfristig gar nicht mehr vermietbar sind. Kennzahlen, die die mittelfristige Entwick- lung des Flächenangebots und der Mieternachfrage an einem Makrostandort erfas- sen und die Kaufkraft und Kundenfrequenz bewerten, sind dem Anleger in der Re- gel unbekannt.
Keine Checkliste schützt vor der Gefahr, eine Immobi- lie überteuert zu kaufen, weil Steuersparer den Preis hoch- treiben. Keine Analyse stellt dar, wann die steigende Nach- frage ein Flächen-Überan- gebot absorbiert haben wird.
Keine mathematische Formel berechnet die besten Kauf- und Verkaufszeitpunkte. Zu- treffende Tips, die Millionen Mark auf das Konto scheffeln und dauerhaft vor Verlust schützen, gibt es nirgend- wo. Wenn es sie gibt, werden sie von erfolgreichen Investo- ren als kostbare Betriebs- geheimnisse gehütet, deren Offenlegung an Hochverrat
grenzte. WG
A-790 (62) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 12, 26. März 1999
V A R I A WIRTSCHAFT