S C H L U S S P U N K T
[76] Deutsches ÄrzteblattJg. 103Heft 4113. Oktober 2006
G
elegentlich, vielleicht auch eher selten werde ich um einen fachkundigen Rat gebeten. Dies ist jedoch eine gute Gelegenheit, tief greifende Kenntnisse über die aktuelle Medizin zu präsentieren und ihre Er- rungenschaften präzise zu durchleuchten. Ich persön- lich fühle mich geehrt, wenn ich konsultiert werde, ist es doch ein Beweis dafür, dass mein Kommentar von großem Wert ist.Heute legt mir ein Professor der Chemie seinen Arzt- brief zwecks zweiter Meinung vor. Vor längerer Zeit wurde er in einer kardiologischen Abteilung untersucht.
Ich bin tief beeindruckt von der höchst umfangreichen Diagnostik: Keine Arterie blieb ohne Kontrastmittel- kontakt, keine Extrasystole hatte auch nur den Hauch einer Chance, dem Elektrokardiogramm zu entgehen, und die Leberwerte wurden im Tagesprofil ermittelt.
„Und das alles wegen dieses einen auffälligen EKGs“, meldet mein Gegenüber seine Zweifel an. Ich erläutere, dass ein negatives T in Ableitung III zwar nicht patho- gnomonisch ist, aber durchaus als Hinweis für eine Myokardischämie gewertet werden kann. „War denn bei unauffälligen Myokardszintigramm, Belastungs- echo und Herz-MRT trotzdem eine Katheterdiagnostik
erforderlich?“ Ich winde mich wie der Ductus hepaticus um ein Gallengangskonkrement und versuche zu er- klären, dass die nichtinvasive Diagnostik durchaus falschnegative Befunde erbringen kann . . . man sollte doch in Anbetracht der Risi- ken einer koronaren Herzerkrankung auf Nummer sicher gehen . . .
„Warum wurden die Nierenar- terien dargestellt, wenn ich nie- mals erhöhte Blutdruckwerte hatte?“, insistiert der Profes- sor. Ich fange an zu stottern wie der Harnstrahl bei Bla- senausgangsstein. Wenn man schon mal in der Arterie drin ist, dann ist doch eine sorg- fältige Diagnostik nicht ganz von Übel . . . „Weshalb hat man Hunderte von Laborun- tersuchungen gemacht, die alle unauffällig waren? War- um hat man diese jeden Tag wiederholt? Die Blutgruppe hätte auch mein Hausarzt mit- teilen können, oder ändert die sich alle paar Wochen?“ Mein Redefluss kommt ins Stocken wie das Herzzeitvolumen bei Asystolie. Akutsituationen erfor- dern halt ein konsequentes und umfassendes Vorgehen, so könnte man das verstehen . . . manchmal ist der Hausarzt einfach nicht zu erreichen . . . mein Gegen- über blickt mich kritisch an. „Herr Böhmeke, nachdem Sie nun alle meine Unterlagen durchgelesen haben:
Sagen Sie mal ganz ehrlich, welche Erkrankung habe ich denn eigentlich?“
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Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.
VON SCHRÄG UNTEN
Zweite Meinung
Dr. med. Thomas Böhmeke