• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Genetische Beratung: Können wir darauf verzichten?" (07.05.1987)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Genetische Beratung: Können wir darauf verzichten?" (07.05.1987)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Genetische Beratung:

Können wir darauf verzichten?

prüfen oder zumindest den „Schein"

zu wahren. Die Anzahl der Prü- fungswiederholungen ist dement- sprechend in 46 Prozent der Klini- ken gleich Null, in den restlichen Kliniken durchschnittlich 5 (das ent- spricht 2,4 Prozent der Praktikums- teilnehmer).

Ein durch einen Rechtsstreit entstandenes Verfahren in Frank- furt, bei dem jeder Student einen Patienten allein mit Anfertigung ei- nes Protokolls untersuchen muß, ge- hört zwar schon zum Maximum der Kontrollen. Die Vorschrift ist aber abgemildert durch die juristisch ge- rade noch hinnehmbare Bestim- mung, daß sechs Tage zwischen Un- tersuchung und Anfertigung des Protokolls (unter Beiziehung von Lehrbüchern und Lernhilfen) ge- währt werden. Die eigentlich not- wendige Klausur könnten wohl nur so wenige Studenten bestehen, daß durch den Rückstau ein erhebliches organisatorisches Chaos entstehen müßte.

Die Lernziele werden nach Ein- schätzung der Hochschullehrer durch das Praktikum nur unzuläng- lich erreicht. Nur 43 Prozent halten Wissen für sicher erreichbar; Kön- nen und psychiatrisches Verhalten nur 14 Prozent; exemplarische Er- fahrung nur 21 Prozent.

(Wird im nächsten Heft fortgesetzt)

Anschriften der Verfasser:

Professor Dr. H. J. Bochnik Arbeitsgemeinschaft

Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) Zentrum der Psychiatrie der Universität Frankfurt Heinrich-Hoffmann-Straße 10 6000 Frankfurt/M. 71

K. Georgi, Diplom-Psychologe Zentrum der Psychiatrie der Universität Frankfurt Heinrich-Hoffmann-Straße 10 6000 Frankfurt/M. 71

Professor Dr. med. J. Spranger Universitäts-Kinderklinik Mainz Langenbeckstraße

6500 Mainz

Die Sorge, genetische Beratung führe zu einer zunehmenden Stigma- tisierung von Behinderten und El- tern von Behinderten, wird in den letzten Jahren immer wieder laut.

Die Befürchtung von Mißbrauchs- möglichkeiten oder der Verdacht, es würden eugenische Zielsetzungen verfolgt, führten vereinzelt bereits zur Forderung, genetische Bera- tungsstellen abzuschaffen. So sieht eine Arbeitsgruppe des Kongresses

„Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik" das Pro- blem in der Rolle der „Beratungs- stellen als künftige Selektions- und Kontrollinstrumente" und kommt zu dem Schluß, „daß — selbst unter der Berücksichtigung des Wunsches einer Frau nach Chromosomenana- lyse — die Humangenetischen Bera- tungsstellen überflüssig und abzu- schaffen sind" (Zimmermann 1986, S. 168). Auch auf einer parallel zum 7. Internationalen Humangenetik- Kongreß in Berlin von Frauengrup- pen veranstalteten Tagung wurde für die Abschaffung beziehungswei- se für den Verzicht auf genetische Beratungsstellen plädiert (dazu Stuttgarter Zeitung vom 23. Septem- ber 1986).

Die öffentliche Diskussion der Ziele und der möglichen Auswir- kungen der genetischen Beratung erscheint auch uns erforderlich. Ei- ne solche Auseinandersetzung führt jedoch eher dazu, die Notwendig- keit genetischer Beratung zu ver- deutlichen.

Verkürzte Sicht

Im Zusammenhang mit der For- derung nach Abschaffung der gene- tischen Beratung fällt uns zunächst folgendes auf:

0

Der genetischen Beratung wird Individualisierung vorgewor- fen, wobei Individualisierung dahin- gehend verstanden wird, auf der Ebene der einzelnen Familie die Ge- burt von Behinderten zu vermeiden.

Es wird zugleich unterstellt, daß die-

ses Mittel der Individualisierung nur dazu dient, die Anzahl von Behin- derten in der Gesellschaft zu redu- zieren und damit Kosten einsparen zu können. Diese Form der Indivi- dualisierung gab und gibt es im Ver- lauf der Entwicklung der geneti- schen Beratung. Doch wird Indivi- dualisierung zunehmend, wie in den USA so auch in der Bundesrepublik, auf eine andere Weise verstanden:

der Aspekt der Prävention tritt zu- rück gegenüber der Hilfestellung für den einzelnen, mit dem Ziel, (poten- tiellen) Eltern eine Entscheidung zu ermöglichen, die sie tragen und ver- antworten können (dazu Reif und Baitsch, 1986). Die Individualisie- rung wird gefordert und angestrebt, um der spezifischen Situation des einzelnen und der einzelnen Familie annähernd gerecht werden zu kön- nen und einer Routinisierung und ihren Gefahren zu begegnen.

Genetische Beratung wird häufig verkürzt gleichgesetzt mit dem Angebot oder mit dem Nahele- gen von Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch, falls eine Behinderung vorgefunden wird; dies trifft so nicht zu. Ganz abgesehen davon, daß nur ein Bruchteil der Er- krankungen oder Behinderungen pränatal diagnostiziert werden kann, geht es in der genetischen Beratung vordringlich darum, zur Klärung der gegebenen Situation beizutragen, Informationen verständlich zu ver- mitteln und es den Eltern zu ermög- lichen, diese in ihre komplexe Ent- scheidungsproblematik einzubezie- hen. Im übrigen stellt sich das Pro- blem der Pränataldiagnostik nicht nur bei der genetischen Beratung; es zeigt sich unabhängig von den dia- gnostischen Methoden der Human- genetik, so z. B. auch beim Einsatz des Ultraschalls (Martinius, 1985).

Aus unserer Sicht erscheint auch in den Fällen, in denen es vor- wiegend um Pränataldiagnostik im Sinne einer erweiterten Schwanger- schaftsvorsorge (aufgrund des Alters der Mutter beziehungsweise der El- A-1278 (32) Dt. Ärztebl. 84, Heft 19, 7. Mai 1987

(2)

tern) geht, genetische Beratung be- sonders wichtig: Die Technologie (in Form von Amniozentese, Chorion- biopsie, Chromosomenanalyse) ist vorhanden und wird zunehmend be- kannt. Es wird nach ihr gefragt, auch ohne daß ein genetischer Bera- ter darüber informiert. Der behan- delnde Frauenarzt sieht sich ver- pflichtet, die Schwangere bei ent- sprechendem Alter hierauf aufmerk- sam zu machen. Häufig ist er es, der eine Durchführung nahelegt. Die Hoffnung, zur Beruhigung der Schwangeren beizutragen, mag ihn hierzu veranlassen; auch die Sorge kann mitspielen, bei Nichtinforma- tion und Auftreten einer Behinde- rung regreßpflichtig gemacht zu wer- den. Für eine Aufklärung über Risi- ken und Aussagemöglichkeiten der Untersuchung sowie die Auseinan- dersetzung mit der Frage, was es be- deutet und was geschehen soll, falls

„etwas" gefunden wird, bleibt dort zumeist nur wenig Raum. Auch ge- hört eine umfassende Aufklärung letztlich in den Aufgabenbereich derjenigen, die diese Untersuchung anbieten und durchführen.

Eine solche Aufklärung und Auseinandersetzung ist u. a. auch deshalb erforderlich, weil es sich bei der Pränataldiagnostik nicht um Vorsorgemaßnahmen im eigent- lichen Sinne handelt. Auch wenn in wenigen spezifischen Fällen eine Therapie des Ungeborenen bereits versucht wird, können pränatal ent- deckte Erkrankungen oder Behinde- rungen in aller Regel nicht geheilt werden. Dies gilt insbesondere für die Chromosomenstörungen, wie die Trisomie 21, deren erhöhte Auf- tretens- bzw. Wiederholungsrisiken den größten Teil der Indikationen zur Pränataldiagnostik ausmachen.

Wird beim Ungeborenen z. B. eine Trisomie 21 nachgewiesen, stehen die Eltern vor der Entscheidung, dieses Kind mit seiner Behinderung anzunehmen oder die Schwanger- schaft abbrechen zu lassen. Eine sol- che Entscheidung kann für die Be- troffenen mit tiefen Wertkonflikten und Schuldgefühlen verbunden sein.

Die genetische Beratung bietet Raum für die Vermittlung der in der individuellen Situation erforder- lichen Informationen und kann dazu

beitragen, daß die Eltern zu einer Entscheidung finden, die sie verant- worten und deren Konsequenzen sie längerfristig tragen können. Die Entscheidung kann dann auch da- hingehend ausfallen, das Angebot, eine Amniozentese oder Chorion- biopsie durchführen zu lassen, nicht wahrzunehmen. Eine solche Ent- scheidung kann unter anderem da- von beeinflußt sein, das Risiko einer Fehlgeburt nicht eingehen zu wol- len, die Risiken, ein behindertes Kind zu bekommen, eher gering ein- zuschätzen, einen Schwangerschafts- abbruch grundsätzlich oder auch speziell im gegebenen Fall abzuleh- nen sowie davon, eine Methode in Frage zu stellen, die als Folge einen Schwangerschaftsabbruch miteinbe- zieht. Entscheiden sich die Eltern nach ausführlicher Information und Reflexion für die Pränataldiagno- stik, sind sie dieser Technologie nicht „ausgeliefert". Findet eine ausführliche Information und eine Auseinandersetzung mit den mög- lichen Folgen nicht statt, besteht da- gegen die Gefahr des „Ausgeliefert- seins" und die Gefahr, daß die vor- handene Technologie routinemäßig angewendet wird.

Problematik

der Chorionbiopsie

Im Gegensatz zu einer Beratung vor einer Schwangerschaft besteht dann, wenn eine Schwangerschaft bereits eingetreten ist, das Problem, daß den Klienten nur sehr wenig Zeit verbleibt zwischen der Bera- tung und der Entscheidung, ob sie pränataldiagnostische Untersuchun- gen nutzen wollen oder nicht. Dies gilt insbesondere für die Chorion- biopsie, die bereits zwischen der neunten und elften Schwanger- schaftswoche durchgeführt werden kann und die in den Fällen, in denen sich alle Beteiligten zu der Entschei- dung für einen Schwangerschaftsab- bruch durchringen, einen Schwan- gerschaftsabbruch durch Abrasio bis zur zwölften Schwangerschaftswo- che ermöglicht. Es wird erwartet und vieles spricht dafür, daß es vie- len Eltern eher vorstellbar erscheint, eine Schwangerschaft zu einem sehr frühen Zeitpunkt abzubrechen als zu

einem so späten, wie er mit einer Amniozentese verbunden ist. Hier- aus ergibt sich zugleich eine neue Problematik. Je vorstellbarer ein Schwangerschaftsabbruch, je weni- ger konflikthaft er erlebt wird, um so weniger können wir davon ausge- hen, daß die Entscheidung nach reif- licher Reflexion erfolgt, und um so eher kann ein solches Vorgehen tat- sächlich zur Routine werden. Dieser Gefahr, die zugleich die Gefahr ei- nes Einstellungswandels gegenüber Behinderten und deren Eltern mit sich bringen kann, ist entgegenzu- wirken. Die Stigmatisierung und Diskriminierung von Behinderten wird jedoch keineswegs durch die Abschaffung der genetischen Bera- tung verringert. Die genetische Be- ratung kann im Gegenteil dazu bei- tragen, eine „routinemäßige" An- wendung von Chorionbiopsie und Amniozentese zu verhindern und den Automatismus — pathologischer Befund = Schwangerschaftsabbruch

— zu durchbrechen. Statt die Ab- schaffung genetischer Beratung zu fordern, plädieren wir dafür, das Selbstverständnis, die Aufgaben und Ziele der genetischen Berater zu dis- kutieren und für eine solche Bera- tung Sorge zu tragen, die den Klien- ten eine Entscheidung ermöglicht, die sie verantworten und zu der sie langfristig stehen können.

Literatur

Martinius, J., Psychologische und ethische Probleme für Arzt und Eltern bei pränataler Fehlbildungsdiagnose. Pädiat. Prax. 30, (1984) 253-257. Reif, M., u. Baitsch, H., Genetische Beratung — Hilfestellung für eine selbstverant- wortliche Entscheidung?, 1986, Heidelberg, Springer Zimmermann, B., Alte und neue Eu- genik, in: Die Grünen im Bundestag, AK Frau- enpolitik & Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e. V., Köln. Frauen ge- gen Gentechnik und Reproduktionstechnik, Dokumentation zum Kongreß vom 19.-21. 4.

1985 in Bonn, S. 166-168.

Anschrift der Verfasser:

Dr. rer. soc. Maria Reif Abteilung Anthropologie und Wissenschaftsforschung der Universität Ulm

Am Hochsträß 8, 7900 Ulm Dr. med. Dorothee Speit, Dr. med. Michael Wolf

Abteilung Klinische Genetik der Universität Ulm

Frauenstraße 29, 7900 Ulm Dt. Ärztebl. 84, Heft 19, 7. Mai 1987 (35) A-1279

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

"Es ist offensichtlich", so Profes- sor Murken , " daß die pränatale Diagnostik auch in der ferneren Zukunft nur einen Teil der geneti- schen Risiken in

Es besteht die Gefahr, daß die bis- herigen Aufwendungen vergeblich waren, die geschaffenen Einrich- tungen zerfallen und dadurch Nachteile für Individuum und Ge-

ln der genetischen Beratung kann durch eine auf ärztliche Be- funde gestützte Familienana- mnese oder durch die Untersu- chung der Ratsuchenden in man- chen Fällen ein

Wenn nämlich das in der geneti- schen Beratung festgestellte Ri- siko eine Krankheit betrifft, die sich aus dem Fruchtwasser für den Feten diagnostizieren läßt, dann kann

kommt es zu einer Situation, in der für die betroffenen Mütter die vorher besprochene Möglichkeit eines Ab- bruches der Schwangerschaft zur logischen Konsequenz wird. Auch

Gesetzt den Fall, es wi rd eines Tages möglich sein, den zu erwartenden Kranken erfolgreich intrauterin zu behandeln — man sollte der Wissen- schaft eine jetzt noch

Gesetzt den Fall, es wi rd eines Tages möglich sein, den zu erwartenden Kranken erfolgreich intrauterin zu behandeln — man sollte der Wissen- schaft eine jetzt noch

Zu- gleich aber wird mit dieser Freispal- te noch einmal deutlich gemacht, daß der Arzt bei seiner Auswahl nicht nur auf den Preis schauen, sondern auch ihm