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Archiv "Wahrheit ist schmerzlich" (08.03.1990)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

1111;1 1: 11H:

Liebe Kolleginnen und Kolle- gen, dieser Bericht wurde vielleicht zu sachlich verfaßt. Journalistische Sensationen könnten wir natürlich auch liefern; wir wollen aber mit Elend kein Aufsehen erregen, son- dern nur unsere primärste Pflicht er- füllen: zu helfen, wo wir können. Uns in der Bundesrepublik und den uns anvertrauten Patienten geht es gut, man möchte schon manchmal sagen

„zu gut". Denken wir auch an dieje- nigen, die in unserer direkten Nach- barschaft leben und die nicht einmal minimale Hilfe erhalten. Wir können es ändern — wir müssen es ändern.

Helfen Sie bitte, denn die Not ist groß.

Ihre Sachspenden können Sie an folgende Adresse schicken: Malteser Hilfsdienst, Steinweg 8, 8390 Passau, Telefon 08 51/3 50 61; Telefax 08 51/3 17 52.

Geldspenden können Sie auf fol- gende Kontonummer überweisen:

Sparkasse Passau (BLZ 740 500 00) 6270 — Kennwort Rumänien.

Rotkreuzhilfe

Auch das Deutsche Rote Kreuz, DRK, hilft in Rumä- nien. Nach dem Abschluß der Soforthilfe für die Betroffenen der blutigen Unruhen wird das DRK die deutschen Spenden in Höhe von rund zwölf Millio- nen DM im Rahmen des Ge- samtprogramms der internatio- nalen Rotkreuzhilfen einset- zen. Das Geld, das dem DRK von den Bundesbürgern zur Verfügung gestellt wurde, wird maßgeblich zur Versorgung und Neuausstattung der zum größten Teil veralteten und un- terversorgten Krankenhäuser im Nordwesten Rumäniens verwendet, zur Ausstattung von Ambulatorien zur medizi- nischen Versorgung der länd- lichen Bevölkerung, zur Abhil- fe der „katastrophalen Um- stände in Waisenhäusern und Altenheimen", wie die DRK- Pressestelle Bonn erklärt, und zur Verbesserung der Versor- gung von Behinderten. rö

J

eder Mensch hat seine eigene Biographie mit der Wahrheit, die Schmerz bereitet, aber auch hel- fen kann: mit der befreienden oder der unerträglichen Wahrheit.

Ich glaube, daß alle Menschen an ihrem Umgang mit der Wahrheit erkennbar sind. Die Wahrheit ist ein Maßstab, der um so gründlicher gilt, als er nie oberflächlich deutbar wird und zeitlebens widersprüchlich bleibt.

Natürlich gibt es vielerlei Wahr- heit und ebenso Unwahrheit. Die re- lative Wahrheit und die absolute. Ei- ne Tatsachen-Wahrheit, belegbar an Daten und Dokumenten, philosophi- sche Ideen der Wahrheit, aber auch eine unwiderlegbare Wahrheit des inneren Wissens bis ins Gefühl und Gehör.

Weil alle lexikalischen Ausle- gungen des Wortes „Wahrheit" fast bis zum Unendlichen vielschichtig sind, will ich vorausschicken, daß ich mich in alles, was ich darüber denke und hier zu sagen versuche, haupt- sächlich auf zweierlei Wahrheit be- ziehe: auf überprüfbare Fakten und die Wahrheit des Gewissens.

Am Anfang und Ende steht Ver- allgemeinerung. Wahrheit im Kin- der- und Greisenmund gilt als nicht verletzend, sie erscheint unschuldig, gewissermaßen nicht zuständig unter

„erwachsenen" Bedingungen, also Schonzeit-Wahrheit, offenbar nicht ernst zu nehmen. Ich erinnere mich, wie mir als Kind zum ersten Mal die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge willentlich verlorenging und mein Gewissen mir deswegen schmerzhaft angst machte.

Die Lügen, die mir in den Sinn kamen, hatten flinke Beine, und sie brachten mir in der Schule, im Kreis Gleichaltriger eine ebenso kurzfristi- ge wie falsche Bewunderung ein. Ich behauptete zum Beispiel, mein Va- ter sei Arzt, weil mir das viel besser gefiel als seine Tätigkeit als kauf- männischer Angestellter. Als Elf- oder Zwölfjähriger log ich, beim Erntedank-Aufmarsch auf dem Bük- keberg hätte unter einer Million Menschen der Führer Adolf Hitler ausgerechnet meine Hand berührt, die ich ihm entgegenstreckte. Für ei- ne große Pause war ich auf dem Schulhof der Held.

Die Entlarvung trat ein, und ich war, wie eine Redewendung sagt,

„bis auf die Knochen blamiert".

„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahr- heit spricht." So drohte mir auch meine Sprichwörter ausstreuende Mutter. Auf meine Lügenzeit folgte die Pubertät, ich wurde ein Wahr- heitsfanatiker, bis ich spürte, wie oft ich andere, selbst Erwachsene, wie mit dem Seziermesser traf. Diese Wahrheit um jeden Preis war einge- bildet, sie wollte Schmerz verursa- chen, aber nicht in mir, vielmehr in anderen; es war eine Waffe, mit der ich meine eigene Verletzlichkeit ver-

Aus dem Buch „Schmerz", das Anfang März erscheint

teidigte und um mich eine Zone der Furcht verbreitete: Mit dem kann man nicht reden, der „schenkt einem die Wahrheit ein". Eine schmerzlich- vernichtende, zunächst auswegslose Wahrheit brachte das Ende meiner Jugend: Ich war neunzehn und Sol- dat und hatte mit dem Koppelschloß, auf dem „Gott mit uns" geprägt stand, den falschen Gehorsam gelei- stet. Nun traf mich die Wahrheit über die Konzentrationslager, und obwohl ich unter die „Jugendamne- stie" fiel, reichte dieser Schlag bis in Persönlichste, er bestimmt nicht we- nige meiner Handlungen noch heute nach vierundvierzig Jahren.

Ich war schon verheiratet und zum ersten Mal Vater, als ich immer

noch nicht wußte, wie ich mit der

Wahrheit umgehen sollte Allmäh- lich sah ich ein: Die Wahrheit, die Schmerz bereitet, erfordert mensch- liche Nähe. Wahrheit kann zuschla-

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gen und rohe Gewalt bedeuten. Wer war ich überhaupt, daß ich mein Verständnis der Wahrheit auf ande- re richten durfte wie ein Geschoß?

Ich wurde kleinlaut und begriff die ausweichende, manchmal selbsthei- lende Funktion angeblich „frommer"

Lügen. Alle scheinbare Einsicht brachte mich nicht weiter. Niemand kann einen anderen mehr mit dem Besitzanspruch auf die Wahrheit verletzen als der Mensch, den man oder frau liebt. Bei Freunden beob- achtete ich das ähnlich wie bei uns.

Wenn wir als junges Paar mit unse- rem Wahrheitsverlangen aufeinan- der losgingen, konnte das furchtbar werden. War Schweigen Frieden und Wahrheit ein persönlicher Kriegszu- stand? Natürlich habe ich, wie un- zählige andere und nicht nur in jun- gen Jahren, an der Wahrheit, die mir zugefügt wurde oder die ich austeil- te, verzweifelt gelitten. Dabei han- delte es sich oft gar nicht um „Wahr- heit", vielmehr um das, was einer von uns dafür hielt. Im Ernst waren das äußerst umstößliche Behauptungen

— etwas sei so, wie es mir hassenswert und kaum erträglich erschien —, vor allem, wenn es sich um mich handel- te. Je schmerzhafter ich das emp- fand, um so ungerechter schrie ich zurück und wußte doch: Nicht nur

„der getroffene Hund bellt".

D

amals griff meine Mutter zum letzten Mal ein, und sie tat gut daran, keinen weiteren Versuch zu ma- chen. „Ihr müßt aufhören, euch im- merzu an den Kopf zu werfen, was ihr für Wahrheit haltet", sagte sie, als ich an ihrem Krankenbett saß. Sie spürte, wie mich das umtrieb: der Schmerz aus Verletzung durch eine geradezu programmatische Wahr- haftigkeit, die den einen nächsten Menschen immer nur an dem Ideal- bild mißt, das einer sich vom ande- ren zu Anfang gemacht hat. Dieses nicht einlösbare Versprechen. Das Zurückbleiben hinter der Selbster- wartung und entsprechend die Ent- täuschung, die der andere uns berei- tet, diese zu Schaden gekommene Vorstellung vom eigenen und ande- ren Ich tat weh. Es war auch die Er- kenntnis eines unwiederbringlichen Verlusts und das Wissen, zu hoch an-

gesetzt zu haben. Idealismus nüchter- te sich herab auf Realitätssinn, das war humaner. Es war immer zuerst ei- ne individuelle Geschichte, wie ein- zelne mit ihrem persönlichen An- spruch, wahrhaftig mit sich umzuge- hen, scheiterten und wie sie manch- mal zögernd aus Niederlagen ein auf- richtiges Bemühen wiedergewannen.

Ein Bemühen, das fortan mit dem Be- griff der Wahrheit vorsichtiger um- ging und mehr Geduld lernte.

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ür mich ergab sich daraus nicht zuletzt ein neues Emp- finden für die Dimension des Glaubens. Denn wie sollte jener Wahrheitssinn, der sich auf das Gewissen gründet, ohne eine Über- zeugung wirksam werden, die über den einzelnen und seine Reichweite hinausging? Ohne einen verfaßten Kodex geglaubter Gebote und eine ethische Instanz? Ich glaube längst nicht mehr, daß Wahrheit — so ver- standen — ohne Bindung tragfähig werden kann, sie braucht die sittliche Verpflichtung einer Confessio.

Existentielle Wahrheit als Grenzerfahrung ist notwendig, um die eigene Möglichkeit und Unmög- lichkeit zu erkennen. Als ich Ende zwanzig war und nicht mehr ganz er- folglos, wenn ich eigene gedankliche Arbeiten und Erzählerisches veröf- fentlichen wollte, träumte ich davon, ein wichtiger Autor zu werden. Wir lebten damals in einem Münchner Freundeskreis von lauter Gleichaltri- gen. Es waren Verlagsleute, Schau- spieler, Journalisten, Kritiker und Künstler, Theater- und Filmema- cher, einige hatten es schon weit ge- bracht. Eines Tages erschien in die- sem Kreis Ingeborg Bachmann, die sich in der Isarstadt einmietete und eine ökonomische Bleibe zwischen Piper Verlag und Bayerischem Rundfunk fand. Wenn sie in unserer Runde war, war sie die Mitte, das war absolut. Sie besaß eine stärkere Frequenz, eine Intensität und Aus- strahlung, die das Umfeld aller ande- ren verblassen ließ. Von Anfang an erschien sie mir als eine Begabung auf Sein oder Nichtsein. Etwas in ihr verbrannte sich, und das war einein- halb Jahrzehnte später tatsächlich ihr Ende. Als Intelligenz und in ihrer Poesie hatte sie etwas Geniales Sie

war mein Jahrgang, 1926, und sie war mir so rettungslos überlegen, daß ich erwog, nie mehr zu schreiben. Ich deutete das einem Schweizer Lyriker an, mit dem ich nach einem solchen Abend ein Stück des Heimwegs ging.

„Bist zu verrückt?" rief er und er- klärte für sich: „Wenn ich nicht glaubte, daß ich mindestens so be- gabt bin wie die Bachmann, könnte ich mich gleich begraben lassen!"

Seine Rettung war in diesem Augen- blick das Verdrängen. Ich habe lange gebraucht, bis ich erkannte, was ich nicht bin und nicht kann. Es war die Wahrheit, und die war schmerzlich.

Am Ende hat sie mir geholfen her- auszufinden, was ich konnte. Die ei- gene Grenze einzusehen kann hei- ßen, sie zu erweitern.

Wohl jeder Mensch weiß Bei- spiele für eine Wahrheit, die ihn fast ans Ende brachte: zum totalen Ver- lust des Zutrauens zu sich selbst. Ei- ne weltliche Erfahrung vorletzter Dinge. Viele wissen aber auch Rat- schläge für sich und andere, die in die eigene Ratlosigkeit eingraviert bleiben und schließlich doch ermuti- gen können. Das klingt nur paradox.

Aus solchen Grenzsituationen lassen sich Menschen analysieren — ebenso aus Feststellungen über sich, die sich ihnen für immer eingeprägt haben, weil sie ihnen bis auf den Grund gin- gen. Eigene Beispiele erwähne ich nur stellvertretend. Weil ich sie am besten kenne und weil ich glaube, daß sie sich in anderen Lebensläufen und Tätig- keiten entsprechend ereignen.

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ls ich mit Anfang dreißig ein paar Wochen auf der Insel Ischia herumstolperte und dachte, ich könnte auf der Höhe Neapels eine ziemlich norddeutsche Geschichte zu Papier bringen, war der Maler Werner Gil- les für mich ein Lehrmeister. Nach einigen Tagen sagte er mir: „Du rennst herum, als wüßtest du, wohin es geht. Aber ich sehe, du kennst das Ziel nicht. Wie willst du etwas be- schreiben, wenn du dir nicht die Zeit nimmst? Du schaust gar nicht hin, wie etwas gewachsen ist. Pflanzen und Menschen!" Er legte mir Blei in die Füße, das tat not.

Wahrheit als Korrektur. Träfe sie einen nur so, wäre das ziemlich A-740 (24) Dt. Ärztebl. 87, Heft 10, 8. März 1990

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Hans Jürgen Sdiultz (Hrsg.) Kreuz Verlag

leicht. Unter einander freundlich ge- sonnenen Menschen hält sie auch manche Belastung aus. Aber wie oft sprengt sie den Rahmen nicht nur der Konvention, sondern auch des Sagbaren: Wie die Wahrheit sich zur Wahrscheinlichkeit verhält, so ver- hält sich der Schmerz, den sie verur- sachen kann, zur Unannehmlichkeit.

Wenn Wahrheit zählt, zählt vieles Vordergründige nicht mehr. Es gibt ein Wissen, das im Innersten zutrifft - Wissen über Menschen und Dinge.

Aber wann darf einer davon Ge- brauch machen? Wann darf ein nicht direkt Beteiligter in einer Grenzsi- tuation gegenüber einem Betroffe- nen Distanz und Rücksicht fallenlas- sen: Wo verlaufen die Grenzen zwi- schen begreiflicher Scheu, sich ein- zumischen, humaner Pflicht zur Wahrheit und Selbstgerechtigkeit?

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ft kreist noch der Schmerz eines endgültigen Ab- schieds in Wahrheit nur um das eigene Ich. Ärzte, Pfarrer, Krankenschwestern und Pfleger wüßten über die Flucht vor der Wahrheit mehr zu sagen, als mit- teilbar ist. Die Abkehr vom Lebens- ende eines nahen Angehörigen er- faßt nicht selten ganze Familien.

Nicht nur die Wahrheit einer töd- lichen Krankheit wollen viele vom Nächsten und von sich selber nicht wissen. Wenn der Egoismus der Überlebenden das Sterben engster Verwandter aus dem persönlichen Umkreis verbannt, gilt das als ihre Privatsache. Keine Amtsperson, kein beruflicher Zeuge kann sich ein- schalten, ohne die Grenze zu über- schreiten, die vor Verantwortung und Freiheit anderer gesetzt ist.

Eine Nachtschwester, die im Bus nach Mutlangen nach einer durch- wachten Nacht neben mir saß, be- richtete auf meine Frage über die hinter ihr liegenden Stunden dies:

Sie hatte die meiste Zeit am Sterbe- bett eines alten Mannes verbracht und immer wieder nach ihm gese- hen. Als sie seinen Sohn anrief, um ihn herbeizuholen, sagte er etwas für

sie Unbegreifliches: „Rufen Sie mich

wieder an, wenn es vorbei ist." Er wollte nicht rechtzeitig kommen und wollte auch keine Einzelheiten hö- ren. „Ähnliches erlebe ich immer

wieder", sagte sie. „Etwas stimmt nicht mehr mit den Menschen. Sie halten im Anblick des Todes die ei- gene Zukunft nicht aus." Und nach dieser Nachtwache fuhr sie mit einer ökumenischen Gruppe aus München an den Stationierungsort von Mas- senvernichtungswaffen, um für die Wahrheit zu demonstrieren, daß die- se Waffen im Ernstfall niemanden verteidigen, sondern nur Völker- mord verursachen können. Eine Wahrheit, die das öffentliche Be- wußtsein wie eine Kettenreaktion spaltet.

Die Wahrheit ist schmerzlich, wenn wir Enttäuschungen durchma-

chen, die uns Menschen, denen wir vertrauten, oder wir selbst uns berei- ten. In einer menschlich entschei- denden Situation versagt zu haben und die Einsicht, daß dies wahr ist, lange nicht zu ertragen, das kann ei- nen das Leben lang beschweren.

Marguerite Duras hat ein immens persönliches Buch mit dem Titel

„Der Schmerz" geschrieben. Die französische Schriftstellerin schil- dert, wie sie auf den Mann wartete, der ihr einmal alles bedeutet hat. Er war Widerstandskämpfer und über- lebte das Konzentrationslager Bu- chenwald. Als er zurückkehrte, war die innere Verbindung zu ihm geris- sen, sie konnte ihn in der geschunde- nen Gestalt nicht wiederentdecken und trennte sich von ihm mit unheil- bar schlechtem Gewissen. So ret- tungslos, so zugespitzt können uns manche Konstellationen treffen, zwi- schen Mutter und Tochter, Vater und Sohn, dem einen wichtigsten Menschen gegenüber.

Ein Kind großgebracht und nach eigener Meinung alles versucht zu ha- ben, was das Werden und das Eigene in diesem jungen Menschen beför- dern sollte, und dann zu erfahren, daß sich gerade dieser Erwachsene, der immer das eigene Kind bleibt, voll- kommen anders entwickelt und nicht nur dem Anschein nach, sondern nachweislich versagt - eine solche Wahrheit, wenn sie denn zutrifft, läßt sich nicht „aufarbeiten" Immer bleibt die beiderseitige Abhängigkeit. Nie enden die Fragen nach eigenen Ver- säumnissen, nach Schuld aus Unver- ständnis und Unwissenheit. Aber die- ser Schmerz ist auch nicht zu trennen von der Hoffnung, daß die Wende ein- tritt und alles sich klärt, zum Guten - oder was man dafür hält. Welche Frau, welcher Mann wollte endgültig sicher sein, einen Menschen verurtei- len, der ohne sie oder ihn nicht da wä- re und so wäre? Für mich wirft das auch die kaum zu beantwortende Fra- ge auf: Ist Zeugen nicht am Ende auch Töten - auf siebzigjährige Distanz?

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ie quälend kann der

Schmerz sein, eine Krise durchzumachen und keinen Ausweg zu se- hen. Wieviel verdränge ich, um den Schmerz zu vermindern: Manche versuchen, sich in Lebenslügen zu retten, und gestehen sich, konse- quent in der Flucht vor der Wahr- heit, nicht einmal ein, wie rettungs- los das ist. Ist nicht jede Aufklärung über die eigene Unzulänglichkeit schmerzlich? Als ich noch abhängig arbeitete, als Verlagsangestellter, habe ich mich manchmal für die Feigheit verachtet, dem Vorgesetz- ten nicht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, weil ich gerade erst die Stel- lung gewechselt hatte und nicht schon wieder den Konflikt des Schwächeren durchstehen konnte, der als junger Mann eine Familie er- nährte. Ich verschob meinen Mut bis auf später, bis ich mit einer Alterna- tive gewappnet war. Endlich hieß sie

„freier Beruf", ich war selbständig und erlebte andere Tücken der Auf- traggeber, in

nur scheinbar milderen

Formen von Erpreßbarkeit.

Der Wahrheit konnte ich nicht entkommen, daß ich mich immer noch fügen mußte, auch in das öko- Der Heraus-

geber, Hans Jürgen Schultz Gehr- gang 1928), ist Chefredak- teur Kultur beim Süd- deutschen Rundfunk in Stuttgart

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nomisch-gesellschaftliche System, das ich nicht zu ändern vermochte, nicht einmal zu einem kleinen Teil — diese Einsicht verursachte. Zorn und Widerspruch, sie führte in das un- mittelbar politische Engagement.

Wer sich darauf einläßt, erfährt un- weigerlich den Verlust der Idee des Grundgesetzes in den Einbahnstra- ßen und Sackgassen der real existie- renden Demokratie. Die Reibungs- wirklichkeit zwischen Individuum und Allgemeinheit kann den Mäan- derlauf schmerzlicher Wahrheit ver- vielfachen und vergröbern. Der Schmerz, verloren zu haben, ist nicht nur dem einzelnen, viel mehr gerade dem Kollektiv kaum erträglich. So setzt in aller Geschichte nach Nie- derlagen bei denen, die kapitulier- ten, die Verdrängung der wahren Ursachen und Wirkungen ein. Le- genden erscheinen realer als die Realität. Alte Feindbilder werden wieder errichtet und auch geglaubt.

I

n der Bundesrepublik kehrte bald die eine Hälfte des Bildes vom Weltfeind Nummer eins wieder, durch das man uns in un- serer Jugend unter der Diktatur zu fanatisieren versucht hatte, und zu einem Großteil war das auch gelun- gen. Die Ideologie des doppelten Feindbildes bestand aus dem Juden- tum und dem Kommunismus. Ge- genüber den überlebenden Juden hat unsere Republik gutzumachen versucht, was materiell überhaupt wiedergutgemacht werden konnte.

Die andere Hälfte, das Feindbild Kommunismus, wurde gleich unter Adenauer restauriert. Millionen Vertriebene wollten nicht wahr- haben, daß Hitlers Wahnsinnsbefehl zum Krieg und der falsche Gehor- sam der Mehrheit sie vertrieben hat- ten. Die Schuld wurde nach Osten, auf „die Russen" projiziert. Plötzlich wollte auch nur noch eine Minder- heit zur Kenntnis nehmen, daß die Antihitlerkoalition, nämlich Chur- chill, Roosevelt und Stalin, die Um- siedlung, also Vertreibung von mehr als zehn Millionen Deutschen nach der bedingungslosen Kapitulation beschlossen hatte. Waren nicht zwanzig Millionen Menschen in der Sowjetunion durch unseren Angriffs- krieg zu Tode gekommen? Wenn

Hitler der größte Verbrecher deut- scher Geschichte war, konnte der Gehorsam unter ihm nicht gut gewe- sen sein. Diese Wahrheit ertrugen die meisten nicht. Im Rückblick wur- den Befehl und Gehorsam getrennt.

Der eine galt als Verbrecher, der an- dere wurde freigesprochen. Die Or- den aus diesem Krieg wurden ohne Hakenkreuz, das Symbol ihrer Stif- tung, sogar wieder getragen!

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och heute glauben manche alt gewordenen Kriegsteil- nehmer nur deswegen an die ihnen vorgegaukelte

„Überlegenheit" des Warschauer Pakts, weil sie dann eher die bedin- gungslose Kapitulation verwinden können, wenn sie das Gefühl haben, damals schwächer gewesen und heute auf der richtigen Seite zu sein. Ich spreche hier nicht theoretisch, son- dern als einer, der als Soldat im Krieg gehorcht und damit, ohne es zu wol- len, Verbrechen verlängert hat. Die Wahrheit nur zu ahnen oder sie bruch- stückhaft zu kennen, das schließt Mit- verantwortung nicht aus. Das Dritte Reich war ein offenes Unrechtssystem und kein Geheimvorgang.

Der Schmerz der Wahrheit, daß ich meinen falschen Gehorsam nicht ungeschehen machen konnte, erfor- dert in der Gegenwart meine Konse- quenz. Eine Feindbild-Ideologie in meinem Leben war eine zuviel. Eine zweite soll mir nicht unterkommen Daß die Wirtschaftssysteme von West und Ost einander befeindet ha- ben und das zum Teil auch heute noch tun, ist nicht meine Feind- schaft. Hätte ich im Zweiten Welt- krieg die Bergpredigt wörtlich ge- nommen, wäre der Soldat auf der an- deren Seite mein Nächster gewesen.

Das ist mein Fazit, und ich kenne viele, die es teilen. Schuld ist nicht erblich. Aber ich persönlich glaube, daß die „Gnade der späten Geburt"

— ein Begriff von Günter Gaus, den ein Kanzler vom Jahrgang 1930 für sich in Anspruch nahem — nur für diejenigen gilt, die das Erbe der Zeitzeugen als Jüngere nicht aus ih- rer eigenen Geschichte vertreiben, sondern die Konsequenz heute auf sich nehmen.

Der politischen Wahrheit kol- lektiv zu entfliehen, das bringt keine

Lösung in deutscher Sache. Persön- licher Schmerz und politisches Machtkalkül treffen für mich in der Forderung nach einer neuen Identi- tät, die dazu national gedacht ist, ex- emplarisch aufeinander. Das gilt um so mehr in einer Gegenwart, in der ein „Historiker-Streit" weltanschau- lich geführt wird. Nicht wenige am- tierende Politiker machen auf mich immer mehr den Eindruck, als woll- ten sie am liebsten im Bundestag be- schließen lassen, wie unsere Ge- schichte angeblich wär und daß wir Grund hätten, „endlich aus dem Schatten dieser Geschichte heraus- zutreten". So lautete eine Standard- forderung von Franz Josef Strauß als Ministerpräsident des südlichsten Bundeslandes, und er stand damit keineswegs allein. Das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", das in der längst nicht mehr provisorischen Hauptstadt am Rhein gebaut wird, ist ein Regie- rungsauftrag, und seine Gremien sind nach Parteiinteressen besetzt wie die des Deutschlandfunks

Was soll dabei nach vierzig Jah- ren des westdeutschen Staats heraus- kommen? Zu seinen Geburtsfehlern gehörte: Er war immer ein Teil und nie ein Ganzes. Dieser Teil beanspruchte Alleinvertretung und berief sich auf die Nachfolge des Deutschen Reichs, die ohne das Dritte Reich nicht denk- bar war. Soll nun das Geschichtshaus in Bonn ein Museum für den Abschied von der Vergangenenheit werden?

Hat es den Auftrag, nationale Schmerzverminderung zu leisten?

Und wie wird der zweite deutsche Staat, die Deutsche Demokratische Republik, in ihm gesehen — nur mit westlichem Blick oder von seinen ganz anderen Voraussetzungen her? Ob- jektivität ist rar.

D

ie nachprüfbare Wahrheit der Geschichte deutscher Menschen in diesem Jahr- hundert ist mehr als schmerzlich. Es geht nicht an, daß weiter gelten sollte, was Napoleon einmal gesagt hat: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat." Das gilt für die Geschichtsauf- fassung von Machthabern und sollte in einem demokratisch verfaßten Staat der Vergangenheit angehören.

A-744 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 10, 8. März 1990

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Aber gerade heute heißen bei uns in der Politik wieder so viele Dinge an- ders, als sie sind. Die gute Sache der

„res publica", die öffentliche Sache selbst ist in Verruf gekommen Re- publikaner, das waren Schriftsteller wie Ossietzky und Tucholsky mit ih- rer Wochenschrift „Die Weltbühne"

und viele Verteidiger der Weimarer Republik gegen den heraufziehen- den Staat aus Stahl und Eisen und die Diktatur. Republikaner nannten sich in Spanien diejenigen, die für die Freiheit der Republik kämpften und gegen den Gehorsamkeits-Staat des Generalissimus Franco. Die die- sen Namen in der Gegenwart der Bundesrepublik verfälschen, wollen damit auch die historische Wahrheit vertreiben. So haben nach dem Er- sten Weltkrieg die Erfinder der

„Dolchstoßlegende" neuen nationa- listischen Wahn geschürt und den Sturz der Demokratie beschworen.

Dagegen reicht es nicht aus zu sagen:

Wehret den Anfängen. Gebraucht wird dagegen das millionenfache Handeln nach dem Vorsatz: Wehret den Fortsetzungen und der ewig ge- strigen Flut in zu vielen Köpfen!

„Ich habe die Wahl zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit", so be- gann Klaus Bednarz kürzlich seine Dankrede, als ihm für seine Modera- tion des ARD-Magazins „Monitor"

die Ossietzky Medaille, die Aus- zeichnung der Liga für Menschen- rechte, übergeben wurde. Er bat um Verständnis, daß er sich für letztes entschied, also für die Wahrheit, die schmerzt. Denn: „Dieses Land", sag- te Bednarz, „scheint seine Vergan- genheit immer noch nicht begriffen zu haben, nicht begreifen zu wollen."

Er erinnerte auf seine Art daran, daß jede Zukunft sich auf Vergan- genheit gründet und wie leicht An- schauungen zusammenstürzen, die das ignorieren. Dem Unausweich- lichen ausweichen zuwollen, dieses Bestreben kann tatsächlich zur kol- lektiven Neurose führen und bedarf deswegen der politischen Analyse in der Tiefe, in der Schmerz zu Hause ist.

Die Einsicht in die Wahrheit, der das Wissen, das zu Gewissen wird, sich nicht entziehen kann, er- fordert Umkehr, wenn das Überle- ben vieler einzelner oder der Allge-

meinheit gefährdet ist. An unzähli- gen Punkten sträubt sich dagegen das Nichtwissenwollen der Mehrheit, die am Gewohnten und am materiel- len Vorteil festhalten will. Aufklä- rung über eine unbequeme, die Ver- fechter des bestehenden Zustands beeinträchtigende Wahrheit kann den Zorn und die Auflehnung star- ker Gruppen in der Gesellschaft her- vorrufen. Den Lauf der Tatsachen aufhalten kann Verweigerung der Einsicht nicht. Was sollen etwa die Hundertausende denken, deren An- gehörige bei Verkehrsunfällen zu Tode kamen oder verstümmelt wur- den? Wie sollen sie ihren Schmerz um die Opfer in ein lebbares Ver- hältnis zur Realität setzen, wenn die noch unbetroffene Mehrheit weiter- rast und weiter unverantwortliche einzelne, die zu vielen werden, ihren Freiheitsraum mit Spielraum für Ag- gressionen verwechseln? Oder: Je- der weiß, daß ein laufender Motor in geschlossener Garage rasch den Tod herbeiführen kann. Und da sollen siebenunddreißig Millionen laufende Motoren in einem so kleinen Land wie der Bundesrepublik und auch zigtausend Düsenflugzeuge die Um- welt unter freiem Himmel nicht ge- fährden! Woher rührt dieser Aber- glaube bei so viel technischer Aufge- klärtheit?

E

k eispiele über Beispiele. Wir

r

leben in prophetischen Zei-

h

ten. Alle Voraussagen sind

erfolgt. Es gibt alle Warnun- gen, alles Wissen. Es gibt alle Infor- mationen. Berechnungen, das ma- thematisch vorausbestimmte Ergeb- nis all dessen, was Menschen sich und anderen heute an Unverant- wortlichem leisten und einander an- tun können. Die Mittel der Vernich- tung sind in unserem Alltag statio- niert, und es handelt sich nicht nur um Waffen. Unerschöpflich argu- mentiert kritische Intelligenz aus Ost und West gegen den Nihilismus der

„Sicherheits"-Fanatiker an. Aber Si- cherheit ist nur ein anderes Wort für deren unermeßliche Angst. Angst vor allem auch vor dem Schmerz des Verlustes eigener Macht und angeb- licher Herrlichkeit! Bücher über Bü- cher beschreiben die Grenzen vor dem Ende menschlicher Zeit. Ist je-

Über den Verfasser Dieter Lattmann (geboren 1926 in Potsdam) ist gelernter Verlagsbuchhändler und lebt als freier Schriftsteller in Mün- chen. Sein erstes Buch war 1957 „Die gelenkige Genera- tion". 1962/63, nach der Veröf- fentlichung seines ersten Ro- mans „Ein Mann mit Familie", unternahm er eine Weltreise und schrieb darüber 1964 das Buch „Mit einem deutschen Paß". 1968 erhielt er für den Roman „Schachpartie" den Münchner Literatur-Förder- preis. Er wurde Mitglied des P.E.N. und Präsident der Bun- desvereinigung deutscher Schriftstellerverbände, aus der 1969 unter seinem Vorsitz der Verband deutscher Schriftstel- ler hervorging, heute VS in der IG Medien. Weitere Veröffent- lichungen: „Die lieblose Re- publik, Aufzeichnungen aus Bonn am Rhein". 1981: „Die Brüder", Roman, 1985, DDR 1986; „Die Erben der Zeitzeu- gen. Wider die Vertreibung der Geschichte", 1988.

de Prophetie vergeblich? Nirgends zeigt sich so deutlich wie angesichts der „Grenzen des Wachstums", daß das Politische immer auch das Per- sönliche mitbestimmt.

Meine Sorge um die Erkenntnis der Gefahr, meine schmerzliche Wahrheit schließt das alles ein. Ich bin weder mächtig noch total ohn- mächtig im einzelnen. Ich will nicht aufhören zu glauben, daß mein Um- gang mit der Wahrheit, soviel mein Bemühen darunter begreift, Anteil am Umgang mit einer allgemein gül- tigen Wahrheit hat. ❑

Hans Jürgen Schultz (Hrsg.): Schmerz;

Mediziner, Therapeuten und Kulturkritiker in einer Sendereihe des Süddeutschen Rund- funks. Kreuz Verlag, Stuttgart, 1990; ca. 280 Seiten, 20 Autorenfotos; Format 12,5 x 20,5 cm, kartoniert, 29,80 DM (ISBN 3 7831 1009 2). Mit Beiträgen von Dorothee Sölle, Horst Petri, Peter Schellenbaum, Wolf- gang Keeser, Sven Olaf Hoffmann, Manfred Zimmermann, Dieter Soyka, Ingrid M. Bowd-

ler, Jean Siegfried, Bernhard Geue, Walter Bongartz, Heini Hediger, Theodor Seifert, Alfred Drees, Hans-Albert Walter, Thea Bauriedl, Dieter Lattmann, Judith Le Soldat, Johannes Schlemmer.

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