DIE TA^ZIYA, DAS SCHIITISCHE PASSIONSSPIEL IM LIBANON *)
Von Ibrahim al-Haidari, Berlin
Die ta"ziya - das Wort bedeutet "Tröstung" oder "Beileidsbezeugung" im allgemeinen, dann "Passionsspiel" und "Gedenkfeier" bei den Schiiten im be¬
sonderen - stellt eine wichtige und auffallende religiöse und soziale Erschei¬
nung in der Welt des Islam dar. Das Wort ta"ziya fehlt im Koran, kommt aber
bei allen Rechtsschulen in der Haditliteratur vor, und zwar in dem Abschnitt
bzw. dem selbständigen "kitäb al-ganä'iz", dem Buch über die Bestattung, wo
rin zur Beileidsbezeugung für die Hinterbliebenen ermahnt wird (l).
Für die.Schiiten bedeutet ta"ziya vor allem: Trauerfeiern und Klagen um die
Märtyrer-Imame, welche an deren Gräbern und Moscheen wie auch in den Hau
sern der sehiitischen Familien stattfinden, besonders aber die Trauerfeier zu
Ehren Husains, des Märtyrers von Karbalä' .
Weiter bedeutet ta"ziya die Passionsspiele, die in den zwei Trauermonaten
Muharram und Safar aufgeführt werden, besonders in der ersten Dekade des
Monats Muharram, am "Asürä'-Tag, dem 10. Muharram, und am vierzigsten
Tag naeh der Ermordung Husains. Diese Trauerfeiern haben eine spezielle Be¬
deutung und spielen eine wichtige Rolle für die Schiiten bis auf den heutigen
Tag (2). Der Gegenstand dieser Trauerfeier ist das Gedenken an den schmerz¬
lichsten Tag in der Geschichte der Schi"a: die Schlacht bei Karbalä' , die am
10. Muharram des Jahres 61 der Higra, dem 10. Oktober 680 n. Chr., statt¬
fand.
Nach dem Tode des ersten umayyadischen Kalifen Mu"äwiya (regierte 661-
680) folgte ihm sein Sohn Yazid (680-683), der keine Unterstützung von sel¬
ten der meisten Muslime fand. Besonders die Kufier und die Mekkaner wand¬
ten sich gegen seine Einsetzung. Die Kufier ernannten Husain zum Kalifen und
schickten ihm Briefe, um ihm als Kalifen zu huldigen. Darauf beschloß Hu¬
sain, nach Kufa zu ziehen, um die Wünsche der Kufier zu erfüllen.
Am 1. Mul^arram des Jahres 61 (681) erreichte Husain mit seiner Fami¬
lie eine Ebene in der Nähe des Euphrat. Nach der Legende fragte Husain nach
dem Namen dieser Ebene und erhielt als Antwort: dätu karbin wa balä' , d.h.
"das ist der Ort der Trauer und der Prüfung". Darauf soll er seinen Leuten
befohlen haben, dort zu lagern. Nach zwei Tagen schickte der Gouverneur von
*) Dieser Vortrag ist das Ergebnis meiner dreimonatigen Forschungsreise
in den Libanon, die ich von Anfeing Januar bis Ende März 1975 durchgeführt
habe. Während dieser Zeit erlebte ich die Trauerfeier der Schiiten, die
ta°ziya um Husain, welche alljährlich in allen sehiitischen Städten und Dör¬
fern des Libanon stattfindet. Zugleich hatte ich Gelegenheit, umfangreiches
Material zu sammeln (ta"ziya-Texte, "Äsürä-Text, Dias, Fotos und 6 Ton-
band-Cassetten von ta"ziya-Rezitationen und gesungenen Elegien aus Naba¬
tiya und Beirut).
Kufa, Ibn Ziyäd, den "Umar b.Sa"d als Heerführer ins Feld, um Husain zu
zwingen, YazTd zu huldigen oder sich zum Kampf zu stellen. Husain verwei¬
gerte die Huldigung, sammelte seine Leute und befahl ihnen, sich zum Kampf
zu rüsten. Nach schiitischer Überlieferung sollen sich die Ereignisse in fol¬
gender Weise abgespielt haben: Obwohl Husain sah, daß seine Leute nicht
mehr als 72 Mann und die Feinde mehr als 30 000 stark waren, wählte er lie¬
ber den Tod anstelle eines Lebens unter der Herrschaft Yazids. In diesem Zu¬
sammenhang sagte er:
"Wenn die Religion Muhammads nur durch mein Martyrium auf den rechen
Weg kommen kann, so empfangt mich denn, ihr Schwerter." (3)
(In käna dinu Muhammadin lam yastaqim illä bi-qatlT, yä suyüfu, Jiudlnl)
Seine Söhne, Brüder und alle Männer seiner Gefolgschaft blieben bei ihm,
taten sich nacheinander als Helden hervor und wurden getötet. Schließlich
blieb Husain allein auf dem Kampfplatz und wurde von den Feinden umringt.
Simr schnitt ihm den Kopf ab. Die Soldaten zerstampften den Körper Husa¬
ins, andere plünderten die Zelte seiner Familie.
Die Toten ließ man unbeerdigt liegen. 72 Köpfe - davon 18 von Mitglie¬
dern der heiligen Familie - wurden auf Lanzen gesteckt und nach Damas -
kus in die Residenz des umayyadischen Kalifen YazTd geschickt.
Die Schlacht bei Karbalä' sollte für die Schiiten zum Anlaß werden, Pas¬
sionsspiele aufzuführen, die die Leidensgeschichte Husains, seiner Fami¬
lie und seiner Anhänger zum Inhalt hatten. Diese finden noch bis zum heu¬
tigen Tag in allen sehiitischen Städten statt.
Entstehung, Entwicklung und Verbreitung der sehiitischen ta^ziya sind
mit der Geschichte und der Entwicklung der sehiitischen Opposition sehr eng
verbunden. Die Verehrung und die Erinnerungsfeierlichkeiten für Husain
reichen bis in die Zeit nach dem Tode Husains in Karbalä' zurück.
Die ersten Hinweise auf derartige Gedenkfeiern führen uns zur tawwäbün-
Bewegung (Bewegung der Büßer) im 7. Jahrhundert zurück, die den an Hu¬
sain begangenen Verrat sühnen und rächen wollte. Die Anhänger dieser Be¬
wegung bildeten den Kern der Trauerversammlung, die in den Häusern der
Schiiten in Kufa und am Grab Husains in Karbalä' stattgefunden haben sol¬
len. Der Führer der tawwäbün-Bewegung, al-Muhtär, soll eine Trauerfei¬
er für Husain in Kufa abgehalten haben, bei der er Klageweiber in die Stras¬
sen schickte (4).
Im 9. Jahrhundert wurde das Grab Husains zum Zentrum der Schiiten.
Aus diesem Grunde zerstörte der Kalif al-Mutawakkil (regierte 847-861)
das Heiligtum, und der Besuch des Grabes Husains wurde unter Androhung
schwerer Strafen untersagt. Erst unter den Büyiden, einer Dynastie, die
sich zur Sehi"a bekannte, erlebten die Trauerfeiern im 10. Jahrhundert ei¬
nen großen Aufschwung (5).
Der Buyide Mu"izz ad-Daula (936-967) ließ die Trauerfeiern für Husain
auf den Straßen von Bagdad durchführen. Man schloß die Bazare, und Klage¬
weiber liefen in den Straßen der Stadt mit aufgelöstem Haar, geschwärzten
Gesichtern und zerrissener Kleidung umher, sieh das Gesieht schlagend und
um HusEiin klagend. Die Schiiten sollen schwarze Kleidung getragen haben
und auch nach Karbalä' gepilgert sein (6).
Als die $afawiden Anfang des 16. Jahrhunderts in Persien an die Macht
kamen, verbreiteten sieh die Trauerfeierlichkeiten für Husain mit der Ver¬
breitung des sehiitischen Glaubens in ganz Persien und erhielten einen star-
ken politischen Bezug, dergestalt, daß sie auch als Propagandamittel gegen
die Osmanen benutzt wurden (7).
Im Irak reicht die Gestaltung der heute üblichen Ta"ziyafeierlichkeiten bis
in die Mitte des 19. Jahrhundert zurück. Während der osmanischen Herr¬
schaft wurden mehrere Male ta"ziyas im Irak verboten, wodurch sich die
Schiiten gezwungen sahen, die ta"ziyas heimlich zu veranstalten. Als "Ali
Ridä 1831 Eds osmanischer Wäli nach Bagdad kam, - er war Mitglied der
BektaSi-Sekte - besuchte er selbst eine öffentliche ta"ziya. Damit war die
Möglichkeit zur weiteren Verbreitung der ta"ziya in allen sehiitischen Städ¬
ten im Iraq gegeben. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die ta"ziya im Iraq
aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen ihren Höhepunkt er¬
reicht (8).
Die ersten uns bekannten Hinweise auf die ta"ziya im Libanon führen uns
zum AnfEing dieses Jahrhunderts zurück. Einige sehiitische Familien aus
Persien, die nach dem Libanon bzw. Südlibanon emigriert waren, sollen die
ersten ta"ziyas in Nabatiya und Bint-äubail veranstaltet haben. Am 10. Mu¬
harram 1921 führte zum ersten Mal eine Gruppe das "Äsürä'-Passionsspiel
in Nabatiya durch (9). Ein vollständiger Text wurde erst 1927 aus dem Per¬
sischen übersetzt. Es handelt sich hier um das Ereignis der Schlacht bei
Karbalä' ; zwei Truppen, die des Husains und die der Umayyaden, wurden
in den Straßen von Nabatiya zur Schau gestellt und von kriegerischer Musik
begleitet. Die Darstellung beschränkte sich auf Zweikämpfe, zumeist auf
Pferden und Kamelen. (Die Rolle Husains hat "AbduUäh Kahil gespielt. Nach
seinem Tode spielte diese Rolle sein Sohn Hasan Kahil, und zwar bis zum
heutigen Tage. Die Rolle des Simr, des Mörders von Husain, spielte Häg
Yüsuf. Beide stammen aus Nabatiya. ) (lO). Bis 1971 wurden die Passions¬
spiele auf dem großen Platz (al-Baidar) in Nabatiya vor "an-nädl al-husaini"
aufgeführt. Seitdem finden sie auf einer Bühne gegenüber von an-nädi al-
husainT statt.
Nach meinen bisherigen Informationen wird die ta"ziya im Libanon folgen¬
dermaßen aufgeführt:
Vom 1. - 10. Muharram versammeln sich die Schiiten im Hof einer Moschee
oder in den Häusern der Schiiten, In einer zehntägigen Versammlung trägt
ein wä"iz oder hatib (Prediger, Rezitator) die Leidensgeschichte der Imame,
besonders die Husains, vor. In der Regel rezitiert der Prediger an Jedem
Tag die Geschichte, die sich auf die Geschehnisse des entsprechenden Tages
des Monats Muharram bezieht, d.h. vom 1. - 5. Muharram wird Eillgemein
die Leidensgeschichte von Karbalä', am 6. Muharram die des Muslim, am
7. die des "Abbäs, am 8. die des Qäsim, am 9. die des "Ali Akbar und am
10. Muharram, dem "Äsürä'-Tag, die Leidensgeschichte Husains erzählt.
Die erwähnten Namen sind die der Hauptbeteiligten der Tragödie von Kar¬
balä' .
Das Thema und der Stoff der ta"ziya sind vielfältig und reich; sie werden
vor allem der maqätil-Literatur (ll) entnommen. Das zentrale Thema ist
aber die Tragödie von Karbalä' und das Gedenken an das Schicksal der Fa¬
milie des Propheten Muhammad, das in verschiedenen Geschichten, Mythen,
Legenden und Epen behandelt wird. Der Prediger versetzt die Teilnehmer
durch Geschichten voller Trauer und Leiden in Erregung, um sie zum Wei¬
nen und Klagen zu bringen. Zusammen mit Parolen gegen die Umayyaden,
insbesondere gegen YazTd und Simr, hört man Flüche. Manche fühlen Mit-
leid mit Husain, und seine Anhänger sagen: "Husain, Gott erbarme sich
Deiner", (raljamaka Alläh, yä Husain). Eine ta"ziya dauert je nachdem eine
halbe bis eine Stunde. Manchmal werden Tee, Zigaretten und Wasser ver¬
teilt (12).
In der sehiitischen Lehranstalt "al-KuUIya al-"ÄmTliya" (l3) in Beirut
werden jährlich zehntägige ta"ziyas veranstaltet. Scheich Muhammad Na|Ib
Zahr ad-DIn rezitiert täglich um 20 Uhr eine halbstündige ta"ziya. Es folgt
ein hatIb (Prediger), der eine Rede über Husain oder "All vorträgt. Am Mon¬
tag, dem 20.1. 1975, hielt der Imäm Müsä as-Sadr, das Oberhaupt der liba¬
nesischen Schiiten, eine Rede über Husain, in welcher er den Kampf im Süd¬
libanon mit dem Kampf des Husain in Karbalä' verglich. Der Imäm ist im¬
mer mehr zum politischen Sprecher der "harakat al-Mahrümln", der Bewe¬
gung der Unterpriviligierten, geworden. Die Ziele dieser Bewegung können
kurz anhand von Reden und Erklärungen des Imäms zusammengefaßt werden:
erstens, man glaubt an Gott und die Sache der Unterpriviligierten; der Glau¬
be an Gott verpflichtet uns, mit allen Mitteln und aller Kraft der Unterdrük-
kung der Unterpriviligierten zu begegnen, egal, was für einer Gruppe oder
Sekte sie angehören. Zweitens, man glaubt an die Heimat und die Notwendig¬
keit, sie zu schützen und an die Notwendigkeit, die sozialen Unterschiede in
der Bevölkerung auszugleichen und man glaubt drittens an den Menschen und
die Notwendigkeit der Sicherung des passenden Lebensklimas, um die Leistungs¬
fähigkeit und die Begabung der Menschen zu entfalten.
Die Bewegung der Unterpriviligierten setzt sich für alle Interessen der Un¬
terpriviligierten ein, besonders der Schiiten im Libanon, die die Mehrheit
der Unterpriviligierten ausmachen und die Kraft und den Antrieb der Bewe¬
gung bilden. Die israelischen Angriffe auf Dörfern im Süd-Libanon, beson¬
ders Kafr-Schoba, die Mitte Januar 1975 fünf Nächte lang hintereinander heim¬
gesucht wurden, veranlaßte den Imäm sogar, die Bewaffnung der Bevölkerung
zu fordern, damit diese ihre Verteidigung selbst übernehmen könne. Der Imäm
sagte in einer Rede: "Wenn Husain bei uns leben würde, was hätte er gegen
die Zustände im Inneren und außerhalb des Landes, gegen die israelischen Ag¬
grassionen und gegen diejenigen, die uns im Stich gelassen haben, unternom¬
men ? Wenn Husain da wäre, hätte er sein Schwert erhoben und sich gegen
die Angreifer und die Lebensmiß stände gewendet. Das Verhalten Husains ver¬
pflichtet uns, unser Land zu verteidigen und unsere Aufgabe dem Volk gegen¬
über zu tragen." Der Imäm sprach damit die Regierung des Libanon an, die
sich geweigert hatte, jegliche Hilfe und Unterstützung zu leisten.
Am Dienstag, dem 21.1. 1975, hielt der griechisch-katholische Bischof von
Gabal Lubnän, öürg Hidr, eine Rede, in der auch er den Kampf im Süden mit
dem Kampf in Karbalä' verglich. Er nannte das Ereignis in Kafr Schoba das
zweite Karbalä' (l4).
In Nabatiya werden neben dieser Form von ta"ziya auch Passionsspiele und
Prozessionszüge abgehalten. Letztere werden von drei verschiedenen Grup¬
pen, den Brustschlägern, den Kettengeißlern und den Säbelgeißler, durch¬
geführt. Die Brustschläger und Kettengeißler treten täglich nachmittags in
an-nädi-al-husaini in Nabatiya nacheinander auf. Dort bilden die Teilnehmer
einen Kreis und formieren sich zu mehreren Reihen. Die Brustschläger ent¬
blößen ihren Oberkörper und stehen rund um einen Schemel, während der
nä'ih, der Vorsänger, der auf dem Schemel steht, ein Klagelied über Husain
singt, und die Versammelten ihre nackten Oberkörper mit beiden Händen im
Rhythmus des Klageliedes heftig schlagen.
Die Kettengeißler schlagen sich mit Eisenketten auf den Rücken. Zu die¬
sem Zweck sind ihre Hemden hinten offen. Allmählich steigert sich ihre Er¬
regung. Sie schlagen sich den Rücken immer heftiger, bis zur Ekstase, wo¬
bei immer wieder der Ruf "Husain, Husain" ertönt.
Am "Äsürä-Tag, etwa um 9 Uhr morgens, beginnt eine erste Gruppe von
Säbelgeißlern im nädl al-HusainT, sich zu geißeln. Diese Gruppe besteht zu¬
meist aus Kindern und Jugendlichen. Sie tragen Säbel oder Dolche, um sich
am Kopf leichte Wunden beizubringen.
Um 10 Uhr findet eine maglis-ta"ziya (maglis = Sitzung) im nädi al-hu=
saini statt. Scheich öa"far as-Sädiq (15) rezitiert die Leidensgeschichte von
Karbalä' .
Um 11 Uhr beginnt die Aufführung der eigentlichen Passionsspiele. Auf dem
großen Platz in Nabatiya, gegenüber von an-nädT al-husainT, befindet sich ei¬
ne große Bühne, 45 m lang und Ilm breit. Sie besteht aus einem flachen Holz¬
podium und ist mit Teppichen bedeckt. Die Bühne ist offen und hat keine Vor¬
hänge. Hier und da sind einige Palmenbäume aufgestellt. Hinter der Bühne
sind zwei Kulissen, die die Lager der beiden Parteien, das des Husain und
das der Umayyaden, darstellen. Auf die hintere Wand ist neben das Lager
Husains ein Fluß gemalt, der den Euphrat darstellen soll.
Das Passionsspiel beginnt mit dem Auftreten Husains und seiner Anhänger
auf der Bühne. Neben dem Zelt Husains sitzt eine Frau; sie stellt Zainab -
die Schwester Husains - dar. Husain sammelt seine Leute und hält eine Re¬
de, worin er seine Entschlossenheit, gegen Yazids Truppen zu kämpfen, be¬
kräftigt. Von der anderen Seite der Bühne treten die Truppen der Umayyaden
an. "Umar b. Sa"d, der Heerführer der Umayyaden, schickt einen Boten zu
Husain, der diesen auffordert YazTd zu huldigen oder sich zum Kampf zu stel¬
len. Husain verweigert die Huldigung, sammelt seine Leute und befiehlt ih¬
nen, sich zum Kampf zu rüsten. Alle seine Anhänger tun sich nacheinsinder
als Helden hervor und werden getötet.
Die Aufführung verläuft in Form von Zweikämpfen; jeder zieht sein Schwert
und hält eine Rede, worin er seine Entschlossenheit, für Husain sein Leben
zu lassen, zum Ausdruck bringt. Er greift seine Feinde an und tötet einige von
ihnen. Die Feinde greifen alle zusammen an; wird ein Kämpfer Husains sym¬
bolisch erstochen, so läuft er gebeugt davon, einer oder mehrere Feinde ver¬
folgen ihn und töten ihn. Auf diese Weise fallen Qäsim,"AIT Akbar und die an¬
deren Anhänger Husains im Kampf.
Husain klagt über den Durst seiner Kinder. Es beginnt ein Dialog zwischen
ihm und "Abbäs, seinem Fahnenträger. Letzterer geht zum Euphrat, um Trink¬
wasser zu holen. Nach schwerem Kampf verliert "Abbäs seine rechte Hand,
er nimmt das Schwert in die linke Hand und kämpft weiter, bis mehrere Fein¬
de ihn töten. Husain bleibt schließlich allein auf der Bühne; er sitzt gebeugt
neben den Leichen von "aiT Akbar und "Abbäs und weint, während Zainab ein
Klagelied singt.
Schließlich nimmt Husain sein Schwert und stürzt sich in den Kampf gegen
die Umayyaden. Nachdem Husain mehrere Feinde getötet hat, stürzen alle
Feinde auf ihn, und Simr schneidet ihm den Kopf ab.
Während der zuletzt beschriebenen Szene strömt eine zweite Gruppe von
Säbelgeißlern durch die Menge der Zuschauer. Hunderte von Männern, mit
weißen Totenhemden bekleidet, ziehen in langen Reihen durch die Straßen von
Nabatiya, wobei sie sich mit Schwertern auf die Köpfe schlagen. Die Stim-
mung steigert sich mit dem Ruf "Haidar, Gaidar", womit "All gemeint ist.
Allmählich geraten sie in Ekstase; viele verwunden sich so schwer, daß sie
bewußtlos werden. Um zu verhindern, daß sich die Säbelgeißler allzu schwer
verletzen, werden sie jeweils von einem Angehörigen begleitet, der neben¬
herläuft und aufpaßt, daß der Kopf von tödlichen Säbelhieben verschont bleibt.
Kopf und Leichenhemd der Säbelgeißler sind von Blut überströmt.
Nach Beendigung dieser Zeremonien kehren die Geißler zu nädi al-ljusaini
zurück, wo sie ihre Wunden behandeln lassen.
Auffallend ist, daiJ in den letzten Jahren auch einige Mädchen, die außer¬
halb des Zuges marschieren, kleine Wunden auf dem Kopf haben.
Eines der wesentlichen Motive der ta"ziya ist der Zusammenhang von Lei¬
den und Erlösung in der Figur Husains. Die Erlösungsidee wurde erst durch
die Schiiten in Verbingung mit dem Motiv der Passion in den Islam eingebracht.
Die Träger des Heils sind die Imame, die Träger göttlicher Substanz sind. Im
Bild der Ereignisse von Karbalä' und des Scheiterns der politischen Bestre¬
bungen der Schiiten ist in den Islam die ihm ursprünglich fremde Idee der lei¬
denden Epiphanie eingedrungen und Husain zum "leidenden Erlöser" gewor¬
den. Das Passionsmotiv erhält aus dem Symbol des freiwilligen Martyriums
Husains in Karbalä' seine Wirksamkeit.
Auf dem Weg nach Karbalä' besuchte Husain in Medina das Grabmal des
Propheten Muhammad. Dort soll er gesagt haben: "Wie könnte ich meine Schi¬
iten beim Jüngsten Gericht vergessen, da ich mich doch freiwillig für sie ge¬
opfert habe."
Husain hat sich freiwillig zum Heil des Glaubens und der Gemeinde geop¬
fert, indem er den Tod anstelle eines Lebens unter der Herrschaft des Umay-
yadenkalifen Yazid vorzog. Er sagte: "Wenn die Religion Muhammads nur
durch mein Martyrium auf den rechten Weg kommen kann, so empfangt mich
denn, ihr Schwerter." (16).
Das Weinen um Husain spielt eine große Rolle in der Schi"a. Nach schiiti¬
scher Lehre gehört das Weinen zu den Bedingungen der Erlangung des Heils.
Jeder gläubige Schiit fühlt sich verpflichtet, im Laufe seines Lebens wenig¬
stens eine Träne für Husain zu vergießen und glaubt, daß jede für Husain ver¬
gossene Träne ihn dem Paradies näherbringt. Die Erlösungschance wird noch
größer, wenn man einen Tropfen Blut für Husain opfert. Man sagt, daß ein
besonderer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts diesen Tropfen auf das Feu¬
er der Hölle gießen wird, um es auszulöschen (l7).
Die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage der Schiiten im Süd-Libanon
fand und findet noch heute in der ta"ziya ihren lebhaften Ausdruck. Die Schi¬
iten nutzen die ta"ziya dazu, die Sozialpolitik der Regierung zu kritisieren.
Die Tyrannei und Unterdrückung der Umajryaden, für die Yazid als Vorbild
steht, werden mit der Tyrannei und Unterdrückung durch die Regierung gleich¬
gesetzt, wohingegen Husain das Vorbild des Aufstandes und der Befreiung ist.
Die ta"ziya ist also unter anderem ein Ausdruck des Widerstandes gegen die
Herrschenden. Während der Gedenkfeier beklagt der Prediger die Mißstände
im Süden des Libanon und bringt des öfteren Schmähungen gegen die Regie¬
rung vor. In diesen Fällen wird die ta"ziya also als Waffe gegen die Regierung
eingesetzt.
Die Schiiten weinen, klagen und geißeln sich selbst. Dadurch wenden sie
sich Ein Husain und bitten ihn um die Erfüllung ihrer Wünsche; man sucht das
Heil im Himmel, wenn man kein irdisches finden kann. Andererseits stellt
die ta°ziya eine Verbindung zwischen der religiösen und der sozialpolitischen
Ebene - der realen Welt - heraus. Die Prediger preisen die "Husain-Re-
volution", die gegen Unterdrückung und Tyrannei gerichtet war, wie es auch
die palästinensische Revolution ist. Denn Karbalä' ist für die Schiiten das,
was die besetzten Gebiete Palästinas für die Araber sind. Husains Kinder und
die gefangenen Frauen in Karbalä' werden den Kindern und Frauen, die aus
Kafr-Schoba flüchteten, gleichgesetzt.
Zusammenfassend können wir sagen: Die ta"ziya stellt eine religiöse und
soziale Erscheinung in der Welt des Islam dar. Sie zeigt den Charakter der
religiösen Verhaltensweisen der Schiiten und ihre Zusammenhänge mit den
sozialpolitischen Verhältnissen.
Sozialpsychologisch verknüpft die ta"ziya das Leiden Husains mit den Lei¬
den der Schiiten und ermöglicht auf diese Weise, daß sich die Gefühle der
Schiiten, die in schlechten sozialen Verhältnissen leben, artikulieren kön¬
nen. Menschen, die sich benachteiligt, unterdrückt und unterworfen fühlen,
finden in der ta"ziya die Möglichkeit der Identifikation und der Kompensation ihrer Leiden.
Anmerkungen
1. Strothmann, R.; Ta"ziya, E.I., S. 770, Bd. IV, Leipzig 1934.
2. Vg. , : Haidari, Ibrahim, Zur Soziologie des Sehiitischen Chiliasmus,
Ein Beitrag zur Erforschung des irakischen Passionsspiels, S. 32, Frei¬
burg 1975.
2. Ibid, a.a.O., S. 33ff.
4. Ibn Qutaiba; al-lmäma wal-siyäsa, (Das Imamat und die Politik), S.
130, Bd. II, Kairo 1322 (1904).
5. Ibn al-Atir; al-Kämil (Das Vollkommene). S. 55, Bd. VII, Beirut 1965.
6. Busse, H.; Chalif und Großkönig, S. 422, Beirut 1969; Mez. A.; Die
Renaissance des Islam, S. 65, Heidelberg 1968.
7. Müller, H.; Studien zum persischen Passionsspiel, S. 124, Freiburg
1966.
8. Haidari, a.a.O., S. 21f.
9. Maatouk, Frederic; La Representation de la mort de l'Islam Hussein
a'Nabatieh; S. 44f. Beirut 1974; auch Charara, Waddsih; Transforma¬
tions d'une manifestation religieuse dans un villge di Liban-sud, S. 28,
Beirut 1968.
10. Kahil, Hassan masrah"Äsürä' fi an-Nabatiya, S. 80, in: Ijalaqa dirasTya
haula "Äsürä* , Nr. 5, Beirut 1974.
11. Die maqätil-Literatur, maqtal = Singular von maqätil, d.h. Kampf bis
zum Tod, schildert die Ereignisse der Schlacht bei Karbalä' .
12. Die heutigen Zentren der ta"ziya-Aufführungen sind im Süd-Libanon (Na¬
batiya, Sür und Saida), sowie Beirut und Baalbek.
13. Theologische Schule, gegründet 1937. Der Hauptgründer dieser Schule
war Kämil Murüwa, der Gelder von imigrierten Schiiten in Nordafrika,
sowie von den Schiiten im Süd-Libanon gesammelt hatte. (Siehe: Murüwa,
Dunyä; Kämil Murüwa kamä "ariftuhu S. 10, Beirut 1968).
14. Die größte ta"ziya-Feierlichkeit in Beirut fand am 10. Muharram (22.
Januar 1975) in al-Kulliya al-"Ämniya statt. Die Trauerfeier wurde durch
den Rundfunk übertragen. Auch Staatschef Sä'ib Saläm und Rasld as-Sulh,
sowie mehrere Minister, Abgeordnete, Notablen und religiöse Führer der Schiiten waren anwesend.
15. Sohn des ehemaligen religiösen Führers in Nabatiya, Scheich "Abdul-
Husain as— Sädiq (geb. 1862), der eine große Rolle für die Verbreitung
der Prozessions- und Passionsspiele in Nabatiya gespielt hat, da er diese
Bräuche gegen die Kritiker verteidigt und die Gegner scharf kritisiert
hat. Er nannte die ta"ziya-Zeremonien gute Taten und echte Gebete. Ei¬
ner der damaligen bekannten Kritiker war Sayyid Muhsin al-AmTn (1867-
1952) der die Prozessions- und Passionsspiele als unerlaubte Bräuche
und Erneuerungen betrachtete.
16. Haidari, a.a.O., S. 157ff.
17. Haidari, a.a.O., S. 164if.
DIE ANFÄNGE DER MADRASA
Von Heinz Halm, Tübingen
Die ältesten Untersuchungen, die sich mit Ursprung und Anfängen der Ma¬
drasa beschäftigen, sind seit Ribera y Tarrago (1907) (l) von der Vorstellung
beherrscht, die Madrasa sei von der sunnitischen Orthodoxie als Propaganda¬
instrument gegen die - si"itische oder karrämitische - Häresie geschaffen
worden. Diese Vorstellung, abgeleitet von den Gründungen des Wesirs Nizam¬
almulk in der Mitte des 5./11. Jahrhunderts, bestimmt auch noch die Ar¬
beiten J. Pedersens (2), der, wie schon vor ihm Max vein Berchem (3), im
übrigen den privaten Charakter der frühesten Madrasagründungen hervorhebt.
Während Barthold Reminiszenzen an das buddhistische Kloster ( vihära) wirk¬
sam sieht (4), läßt Pedersen die Madrasa aus dem Lehrbetrieb der Moscheen
hervorgehen, ja er bestreitet jeden prinzipiellen Unterschied zwischen Madra¬
sa und Moschee und handelt folgerichtig in der EI die Entstehung der Madrasa
unter dem Lemma Masdjid ab: "Der uns bekannte Typus der Schule ist als voll¬
ständige Moschee gebaut ... Ein prinzipieller Unterschied zwischen der Ma¬
drasa und anderen Moscheen besteht nicht" (5). Pedersens Anschauungen
haben die meisten späteren Arbeiten entscheidend beeinflußt (6).
Gemeinsam ist den ältesten Untersuchungen die schmale Quellenbasis für
die Zeit vor den Gründungen Nizämalmulks (7); Pedersen stützt sich haupt¬
sächlich auf Wüstenfeld, bei dem sehr häufig ein einfaches 'uqida lahü maglis
zur Gründung einer Akademie aufgewertet wird. Reichhaltiges Material steht
seit R.N. Fryes Faksimileedition der Histories of Nishapur (1965) (8) zur
Verfügung, neuerdings erschlossen durch eine Liste der madäris von Nisäpür
in R. Bulliets Patricians of Nishapur (1972) (9) und teilweise zusammenge¬
stellt in Nägi Ma"rüfs Madäris qabla n-Nigämiya (Baghdad 1973).
Das Material , zu ergänzen durch das der übrigen biographischen Lexika, be¬
steht aus kleinen und kleinsten Nachrichtensplittern über madäris in Nisäpür,
Buhärä, Samarqand, Baihaq, Marw usw., die indes, zusammengenommen,
trotz aller Lückenhaftigkeit ein mosaikartiges Bild der ältesten Madrasa erge¬
ben, das zwar die fehlende archäologische Evidenz nicht ersetzen kann, je¬
doch die wichtigsten Züge der ältesten Madrasa schärfer hervortreten läßt.
Festzustellen ist zunächst, daß das früheste sichere Zeugnis für eine Ma¬
drasa jene Nachricht in NarSahls Tärlh-e Buhärä ist, daß im Jahre 325/937
die Madrasa-ye Färgak bei einer Feuersbrunst in Buhärä abbrannte (lO).
Noch vor der Mitte des 4./10. Jahrhunderts sind in Nisäpür drei madäris
sicher bezeugt: die des Abü 1-WalId Hassän b. Muhammad al-Qurasl (gest.
349/960) bei dessen Haus (ll); die des Abü 1-Hasan "All b. al-Hasan as-
Sibgl (gest. 350/961), der dort nach dem Tode seines Vaters Fatwäs gab (l2),
sowie beim Eingang der Freitagsmoschee die Där as-Sunna eines anderen
Sibgl, Ahmad b. Ishäq b. Ayyüb (gest. 342/953-54) (13). Kurz nach der Jahr¬
hundertmitte ist in Buhärä tadris an der Abü-Hafs-Madrasa bezeugt (14),
und in der zweiten Jahrhunderthälfte rühmt der Geograph Muqaddasi die ma ¬
däris Eränsahrs, d.h. Nisäpürs (l5).