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Archiv "Schmerz und Schmerztherapie" (12.11.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Schmerz und Schmerztherapie

Die Denkansätze sind nicht neu

Bericht über den 5. Weltkongreß der

Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes in Hamburg, 1987

ie Gesellschaft hielt unter dem scheiden- den Präsidenten Prof.

Dr. R. Melzack, Ka- Ndinteggir-- nada, und dem neu- gewählten M. J. Cousins, Austra- lien, ihren 5. Weltkongreß ab; die lokale Betreuung des Kongresses lag in Händen des Physiologen der Hamburger Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. B.

Bromm, und seiner Mitarbeiter.

Wenn es auch nicht möglich ist, über alle Einzelheiten des fünftägi- gen Kongresses zu berichten, der nicht nur Plenarsitzungen und the- menbezogene Sitzungen über spe- zielle Forschungsgebiete, sondern auch Posterdemonstrationen und freie Dia-Vorträge sowie die leider in der Bundesrepublik noch nicht sehr akzeptierten Lunchtime-Ses- sions enthielt: Es war nicht nur der volle Mund, der hierzulande poten- tielle Diskutanten im wahrsten Wortsinne „sprachlos" machte. In diesem Zusammenhang darf dann auch gleich eine Kritik an der schlechten Administration des herr- lichen Congreß Center in Hamburg angebracht werden: Der Lunch war schlecht und so teuer, daß man für den gleichen Preis in meiner nähe- ren Heimat eine reine Völlerei dar- aus hätte machen können. Ich habe außerdem erlebt, daß einer der an- gelsächsischen Sitzungspräsidenten seinen Platz aus schierer Hilflosig- keit verlassen mußte: Der Dia-Vor- führer des Plenarsaales hat seine Tä- tigkeiten eingestellt, und es gab kei- ne Möglichkeit für unseren engli- schen Kollegen, mit den technisch Verantwortlichen im Saal auch nur einen Kontakt aufzunehmen. Der internationale Standard auf diesem Gebiet sieht ganz anders aus als das, was Hamburg bot.

Aus der theoretischen Schmerz- forschung ist über die eindrucksvolle Entwicklung des Konzepts der Mo- dulation der Schmerzleitung durch zentralnervöse absteigende Bahnen aus dem Hirnstamm zu berichten.

Mittlerweile sind hier nicht nur die Angriffspunkte für Opiate, die meist als sogenannte Kappa-Rezeptoren in der Literatur bezeichnet werden, gesichert; eine Reihe körpereigener endogener Opioide aus der Gruppe der Endorphine und Enkephaline sind als physiologische Überträger- stoffe identifiziert worden. Darüber hinaus gibt es eigentlich keinen Transmitter aus der Gruppe der choli- nergen und/oder noradrenergen Er- regungsübertragung, Serotonin und Dopamin mit eingeschlossen, die nicht auch an dieser durchaus thera- peutisch interessanten Stelle der Schmerzleitung involviert wären.

Tröstlich zu hören, daß schon 1904 ein deutscher Forscher über analge- tische Wirkung von Adrenalin bei intraspinaler Applikation berichtet hat. Er war offensichtlich seiner Zeit weit voraus, denn diese Arbeit, die ein angelsächsischer Kollege ausge- graben hat, fand keinen Eingang in die „deutschsprachigen Klassiker der Schmerzforschung", wo sie dereinst durchaus ihren Platz haben wird.

Diesem Themenkreis galt auch die J. J. Bonica-Lecture, die der englische Anatom P. D. Wall, Lon- don, hielt. Sie hatte die anatomi- schen und funktionellen Rückkopp- lungsmechanismen der spinalen Schmerzleitung zum Gegenstand.

Ähnlich wie bei Sehen und Hören besteht offensichtlich auch im Be- reich der Nozizeption so etwas wie eine Basisempfindung, die durch zentralnervöse Rückkopplung fo- kussiert, das heißt hinsichtlich der Perzeption intensiviert werden

kann. Der Referent hält es nicht für ausgeschlossen, daß die Kenntnis dieser Zusammenhänge auch erheb- liche Rückwirkungen auf alte Kon- ventionen im Bereich der Schmerz- physiologie haben wird. Die seit der Jahrhundertwende akzeptierte, aber nie voll belegte Spezifitätstheorie muß nämlich überdacht werden. Es bedeutet nicht unbedingt einen Rückfall auf die Alternative der In- tensitätstheorie; es ist aber durchaus möglich, daß die verschiedenen Qualitäten des Sensoriums im nozi- zeptiven System wechselseitigen Be- einflussungen hinsichtlich der Per- zeptionsareale, der Leitungsge- schwindigkeit und sicherlich auch der Attenz, mit der sich der betrof- fene Organismus den einzelnen Qualitäten zuwendet, unterliegen.

Migräne

eher Folge einer Ischämie

Fortschritte sind auch in der Migräneforschung erkennbar. Das Syndrom beginnt sich in verschiede- ne, schon an der Symptomatik un- terscheidbare, pathogenetisch von- einander zu trennende Schmerzzu- stände aufzufächern, denen mehr oder weniger die vaskuläre Genese gemeinsam zu sein scheint. In den meisten Fällen der Migräne ohne Aura läßt sich eine deutliche Reduk- tion der intrakraniellen, regionalen Blutflüsse registrieren, die okzipital beginnen und sich nach anterior hin ausbreiten, in die mehr oder weniger alle maßgeblichen arteriellen Strom- bahnen einbezogen sind. Der Zu- stand hält zwei bis vier Stunden an und läßt sich mit der Schmerzphase der Migräne korrelieren.

Eigentlich ist der Hinweis dar- auf überflüssig, daß diese Beobach- tungen nicht gut mit der auch in un- seren Lehrbüchern immer noch ver- breiteten Meinung in Übereinstim- mung zu bringen sind, derzufolge der Migräneschmerz auf die prall ge- füllten dilatierten intrakraniellen Gefäße im Bereich der schmerzemp- findlichen Strukturen zurückzufüh- ren ist. Dagegen gibt es viele Hin- weise darauf, daß der Migräne- schmerz wohl eher als Folge einer Ischämie gedeutet werden kann. Die Dt. Ärztebl. 84, Heft 46, 12. November 1987 (65) A-3131

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Schmerzpunkte, die sich immer im Ausbreitungsgebiet des Trigeminus befinden, lassen auf eine neurogene Entzündung im Bereich der durch diesen Nerven sensorisch versorgten intrakraniellen Gefäße zurückfüh- ren. Dieser Ansatz macht auch die therapeutischen Erfahrungen mit der protektiven Wirkung Beta-blok- kierender Pharmaka oder auch von Kalzium-Antagonisten leichter ver- ständlich, die, in der anfallsfreien Phase eingenommen, bei vielen Pa- tienten Frequenz und Qualität der Schmerzattacken nachdrücklich be- einflussen können. Ein Jahr nach ei- ner derartigen Medikation soll ein Auslaßversuch gemacht werden;

viele Patienten haben eine bleibende Besserung zu verzeichnen, die eine Fortsetzung der Medikation über- flüssig macht.

Bemerkenswert ist, wie wenig Neues auf dem Gebiet der Schmerz- therapie zu verzeichnen ist. Die oft vorgebrachten Klagen über die

„Unterversorgung" der Leidenden, die im wesentlichen durch die falsch verstandenen administrativen Maß- nahmen zur Erschwerung des Zu- gangs zu starkwirksamen Analgetika zurückzuführen sind, die wiederum dem präferentiellen Schutz einer Minderheit von „Mißbrauchern`

soll hier nicht weiter erörtert werden. Der Referent hat sich zu dieser Frage schon wiederholt geäu- ßert. Dieses falsch verstandene Si- cherheitsbedürfnis in unserer sonst gar nicht so zimperlichen Gesell- schaft bringt es möglicherweise noch mit sich, daß auch im Hinblick auf die in diesem Bereich vergleichswei- se verschwindend geringe Zahl von Mißbrauchern die übergroße Zahl der Vernünftigen ans Gängelband genommen wird, wenn es um die Anwendung sogenannter schwach- wirksamer Analgetika geht. Ihre Wirkung ist schon seit über 100 Jah- ren bekannt; die Methoden zur Er- fassung unerwünschter Wirkungen werden immer besser, so daß wir hier allen Grund zum Selbstvertrau- en haben könnten. Der Referent sieht gespannt der Entwicklung des nächsten halben Jahres entgegen,

z. B. Carlsson, Jurna: Neuroscience Letter 77, 339-343 (1987)

das wieder einige grundsätzliche Er- örterungen zu diesem Thema be- scheren dürfte.

In diesem Zusammenhang zeichnet sich eine bemerkenswerte Ernüchterung hinsichtlich des Wir- kungsmechanismus derartiger Stoffe ab, der immerhin unter dem Mei- nungsdruck eines Nobelpreises for- muliert wurde und gar zu einer Be- zeichnung „peripher wirksame Analgetika" Anlaß gab. Man ist sich heute über die Bedeutung der Hem- mung der Cyclooxygenase im Zu- sammenhang mit diesen Stoffe nicht mehr ganz so sicher. Das ist auch gut so, sprachlos bleibt der Referent nur dann angesichts der Hilflosigkeit so manchen mit diesem Gebiet vertrau- ten Forschers: Paracetamol paßt nun wirklich nicht in diese Schublade und wirkt trotzdem hervorragend analgetisch; wie wohl? Eben nicht peripher 1 ). In diesen Zusammen- hang paßt dann auch der Bericht

„Street workers"

für die Betreuung von Schmerzpatienten?

Es gäbe noch viel zu berichten, auch vom „Weltschmerztag", an dem wohl die Psychologen das Sa- gen hatten. Noch nie hat der Refe- rent so viel Trivialität zu diesem Thema gehört. Als ob man noch nicht gewußt hätte, daß die Umge- bung des von akuten oder chroni- schen Schmerzen Geplagten nicht nur in das Leiden mit einbezogen werden kann, sondern auch wichtige Funktionen zur Stabilisierung für den Betroffenen zu erfüllen hat. Sol- len demnächst auch noch auf diesem Gebiete „street workers" für diese so einfachen zwischenmenschlichen Beziehungen eingesetzt werden? Es gibt Grenzen, die durch den gesunden Menschenverstand gezogen werden.

Die Betreuung von Schmerzpatien- ten gehört zu diesem Bereich, wie so vieles, was in der Medizin heutzutage

„hochstilisiert" wird, um es „befor- schen" zu können.

Berichten ließe sich auch über eine Ausstellung über die Darstel- lung von Schmerzen in der moder- nen Kunst, in der ich nicht mehr als

über eine bemerkenswerte kleine Sitzung zu diesem Thema, auf der über die zentralerregenden Wirkun- gen schwachwirksamer Analgetika, nämlich sowohl der Acetylsalizyl- säure wie von Aminophenazon be- ziehungsweise Metamizol, berichtet wurde. Sie läßt sich eindeutig auf ei- ne Modulation der Schmerzleitung im Rückenmark durch diese Stoffe interpretieren. Sage und schreibe keine einzige Frage zu diesem wich- tigen Aspekt der Pharmakologie ist aus dem Kreis der doch immerhin Sachkundigen auf dieser Sitzung ge- stellt worden; man hat sich aus- schließlich mit der möglichen anal- getischen Wirkung von Benzodiaze- pinen und Antidepressiva beschäf- tigt, die auch von diesem Gremium erörtert wurden. Ich bin schon sehr versucht, mich gelegentlich einmal mit der Soziologie des Wissen- schaftsbetriebes, nicht nur hierzu- lande, etwas intensiver zu befassen.

drei oder vier bemerkenswerte Bil- der entdeckt habe, die sich wirklich mit Schmerz befassen. Der große Rest betrifft, wie immer, Leid und, wie es neuerdings halt so üblich ist, auch die Wandlung des Themas ins Sozialkritische; möglicherweise ist die Nachbarschaft des angelsächsi- schen Wortes „pain" für die Asso- ziation zur Folter verantwortlich.

Auch die Lecture zu diesem Thema hat keineswegs neue Einsich- ten geboten, obgleich sich hier eine reizvolle Vertiefung dahingehend ergäbe, wie die Darstellung von Schmerz und Leid in der Kunst zu separieren sei. Vielleicht muß der Künstler auch Schmerz und Leid er- fahren haben, wenn er beides von- einander trennen will Immerhin hat Dürer mit seinem bekannten Bild zur Lokalisation seines viszeralen Schmerzes, unter dem er litt, ein Emblem für den Hamburger Kon- greß abgegeben.

Professor

Dr. med. Wolfgang Forth Vorstand des Walther Straub- Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Nußbaumstraße 26

8000 München 2 A-3134 (68) Dt. Ärztebl. 84, Heft 46, 12. November 1987

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