• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Kinder des 20. Jahrhunderts: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung" (17.07.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Kinder des 20. Jahrhunderts: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung" (17.07.2000)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

osehr man das beginnende 20. Jahrhundert eupho- risch als „Das Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key) be- grüßt hatte, so sehr beklagte man an seinem Ende „Das Verschwinden der Kindheit“

(Neil Postman). Ein scheinbar deprimierendes Fazit, das an- gesichts der Erfolge der Medi- zin in den vergangenen hun- dert Jahren, die eine drastische Senkung der Kindersterblichkeit, ei- ne breite Gesundheits- vorsorge und eine um- fassende Jugendschutz- gesetzgebung mit sich brachten, doch fast un- verständlich erscheint. Diese Feststellung überrascht vor al- lem insofern, als besonders im vorigen Jahrhundert bedeu- tende Pädagogen, Kinderärz- te, Psychologen und Soziolo- gen die verschiedenen Phasen des heranwachsenden Kindes wie nie zuvor analysiert haben und dadurch seine Situation in der westlichen Welt ganz ent- scheidend verbessern konn- ten.

Diese widersprüchliche Ein- schätzung im Hinblick auf das Kind zwischen Hoffnung und Ernüchterung im Verlaufe von drei Generationen lässt sich kaum anschaulicher überprü- fen als im Spiegel der Kunst des 20. Jahrhunderts, die par- allel zu den Wissenschaften das Kind in all seinen Wesens- zügen und Befindlichkeiten zu erfassen suchte. Die künstleri- schen Darstellungen der Kin- der im Laufe des 20. Jahrhun- derts einmal im Rahmen einer Ausstellung zu dokumentie- ren, wie es im Frühjahr in Aschaffenburg und ab Mitte Juni in Koblenz geschieht,

muss deshalb ein ebenso reiz- volles wie auch anspruchsvol- les Unternehmen sein.

Am Anfang des Begriffes

„Kindheit“ steht im Zeitalter der Aufklärung der mahnende Ausruf von Jean Jacques Rousseau, dem ersten großen Vorkämpfer für die Kinder:

„Die Natur will, dass die Kin- der Kinder sind, ehe sie zu ver-

nünftigen Wesen heranrei- fen.“ Doch er stieß letzten En- des erst im vorigen Jahrhun- dert auf breite Resonanz. Ob- wohl nach ihm zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausragen- de Pädagogen wie Heinrich Pestalozzi und Friedrich Frö- bel nachhaltig auf die beson- deren Bedürfnisse, Gesetz- mäßigkeiten und Bildungs- möglichkeiten des Kindes hin- gewiesen haben.

Für die west- liche Zivilisati- on bekam das Kindsein aber im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts erneut eine existen- zielle Bedeu- tung vor dem Hintergrund ei- ner sich zu Klein- gruppen und Single- strukturen wandeln- den Gesellschaft. Zu- nächst geprägt von der industriellen und schließlich von der

elektronischen Revolution, auf der einen Seite geschun- den durch zwei Weltkriege, auf der anderen Seite unter der Obhut von Ärzten und Pädagogen gut betreut, kann man den Umgang mit dem Kind und seine Darstellung auch als Gradmesser für den sozialen und ethischen Wan- del im vorigen Jahrhundert

ansehen.

Nicht wenige Künst- ler des 20. Jahrhun- derts, allen voran Pablo Picasso und Paula Mo- dersohn-Becker, haben dem leibseelischen We- sen des Kindes eine ho- he optische Präsenz und emo- tionale Eindringlichkeit gege- ben, die bis heute ihre geheim- nisvolle Aura, aber auch ihren Wahrheitsanspruch nicht ver- loren haben.

Dieses oft nicht leichte Her- anwachsen des Kindes zwi- schen Erbe und Umwelt, Behütet- und Verlassensein in einer sich seit der Industriali- sierung ständig wandelnden Erwachsenenwelt in Stadt und Land haben die Künstler seit dem An- bruch der Mo- derne schon früh erkannt.

Das Wechsel- spiel der kind- lichen Erfah- rungen haben in der Vor- und Nachkriegszeit zahlreiche bedeuten- de Maler in Bildern und Skulpturen fest- zuhalten versucht. Die Exponate dieser the- matischen Ausstel- lung präsentieren in

eindrucksvoller Vielfalt Kin- derbildnisse aller Altersstufen und aller Bevölkerungsschich- ten aus dem vorigen Jahrhun- dert. Sie zeigen das von Ma- lern und Bildhauern als Mo- dell sehr ernst genommene Kind in wechselnden Situatio- nen, im häuslichen Umfeld oder in der Schule, in der Frei- zeit oder in der Fabrikhalle, in unbefangener Nacktheit oder in verschmutzten Arbeitsan- zügen.

Die Bilder aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahr- hunderts geben noch direkt oder indirekt die Gefährdung der Kinder wieder, indem sie auf Hunger, Kinderarbeit, Un- terdrückung, mangelnde Schul- bildung und unvollständige medizinische Betreuung ver- weisen. Erst dann führte der lange Weg zum Schutz und zur Emanzipation des Kindes zu greifbaren Erfolgen.

Die Diskussion von Ärzten, Pädagogen und Bildungspoli- tikern darüber, was für die Er- ziehung, Gesundheit und Aus- bildung der Kinder förderlich und durchsetzbar sei, sollte jedoch in der Öffentlichkeit im ganzen 20. Jahrhundert kein Ende finden. So ist es nicht verwunderlich, dass mahnende, anklagende Gemäl- de, Skulpturen und Fotografi- en lebenszugewandten, fröhli- chen Kinderbildnissen ge- genüberstehen.

Nach dem Zweiten Welt- krieg entfaltete sich die vom Journalismus herkommende V A R I A

A

A1988 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 28–29½½½½17. Juli 2000

S

Die Natur will,

dass die Kinder Kinder sind, ehe sie zu vernünftigen

Wesen heranreifen.

Jean Jacques Rousseau

Z

Zw wiisscch he en n H Ho offffn nu un ng g

u

un nd d E Errn nü ücch htte erru un ng g

Paula Modersohn- Becker:

„Mädchenbild- nis“, Öl auf Pap- pe, 61 x 55,5 cm, Von der Heydt-

Museum Wuppertal

K i n d e r d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s

Feuilleton

(2)

Dokumentarfotografie zu ei- nem wesentlichen Bestandteil der Kunst und lieferte zusätz- lich zur Malerei und Plastik Kinderdarstellungen von ho- her menschlicher Intensität. In der Ausstellung werden bei- spielsweise Fotos vor Augen geführt, die Geschichte ge- macht haben, wie die aus dem Aufstand des Warschauer Gettos von 1944 oder das des vietnamesischen Fotografen Huynh Cong Ut aus dem Jahr 1972 mit den vor dem Napalm- feuer flüchtenden, entsetzten Kindern.

Seismographisch erfassen nahezu alle ausgestellten Bil- der, Fotos und Skulpturen die Belastungen, die die Kinder durch die Erwartungshaltung und den Ehrgeiz der über sie entscheidenden Erwachsenen erfahren. Man spürt unter- schwellig in einigen Darstel- lungen seit den 80er-Jahren erneut eine Kritik heraus:

Identitätsverlust, Verlassen- sein, frühe Eigenverantwor- tung, härterer schulischer und beruflicher Wettbewerb, wachsende Gewalttätigkeit.

Was es auch für Gründe sein mögen, am schwersten wiegt wohl, dass eine ungefilterte Bilder- und Informationsflut durch die frei zugänglichen elektronischen Medien die

kindlichen Fantasien zu besei- tigen drohen.

All dies hat am Ende des 20.

Jahrhunderts zu melancholi- schen, manchmal sogar abstru- sen Kinderbildnissen geführt, die jede spielerische Heiter- keit und vor allem das vertrau- ensvolle Miteinander vermis- sen lassen. Das von Kulturkri- tikern wie Neil Postman und anderen befürchtete Ver- schwinden der Grenze zwi- schen Erwachsenen- und Kin- derwelt, das Fehlen von Leitbildfunktionen finden in zahlreichen Beispielen ihre künstlerische Dokumentation.

Doch jeglicher pessimistischen Haltung zum Trotz, die man mehrheitlich angesichts einer Vielzahl von Kinderporträts zu spüren scheint, sind gerade im vergangenen Jahrzehnt sehr optimistische Kinderdar- stellungen von Künstlern aus unterschiedlichen Generatio- nen ausformuliert worden.

Eindrucksvoll gibt diese Ausstellung die Gelegen- heit, Vergleiche zwischen den ausgemergelten Ar- beiterkindern der Künst- lerin und Arztfrau Käthe Kollwitz, dem einsa- men Waisenkind von Conrad Felixmül- ler zu den ernsten metaphorischen Porträts von Marle- ne Dumas, Kiki La- mers, Yoshitoma Nara zu ziehen. Reizvoll ist auch, die Entfaltung der bildhauerischen Werke vom Expressionismus bis zur Postmoderne zu verfol- gen, von Margarethe Moll und Käthe Kollwitz bis zu den futuristischen Plasti- ken der Brüder Jake und Dinos Chapman.

Zieht man eine erste Bi- lanz, so reflektiert die Kunst als Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht nur die Fra- gen und Antworten, wie man mit Kindern umgegangen ist

und umgehen sollte, sondern es gesellt sich auch die nicht zu unterschätzende Frage hinzu, wie die Kinder seit der Nach- kriegszeit die Erwachsenenge- sellschaft mitgeprägt haben.

Hat nicht längst die Kinderkul- tur, beginnend mit den postmo- dernen Märchen eines Michael Ende über die Computerspiele bis zur Freizeitkleidung, auf die Welt des Erwachsenen im großen Maßstab abgefärbt?

Die Erfahrung hat gezeigt, dass immer jüngere Kinder und Ju- gendliche Popstars werden, Firmen gründen, Romane schreiben, und immer früher sind die Erwachsenen bereit, sich von Verantwortung und Beruf zurückzuziehen, um ei- nem ungestörten Hedonismus zu frönen.

Wo die Kindheit in der Drit- ten Welt von Hunger, Seuchen

und Tod geprägt wird, da er- fährt sie in einer in Freiheit und im Nahrungsüberfluss lebenden westlichen Welt ei- nen derartigen gesellschaftli- chen Wandel, dass sie ganz neu überdacht werden muss. Zwei- fellos hat das Kindsein am Übergang vom 20. zum 21.

Jahrhundert in einer schnellle- bigen, global vernetzten Zeit nicht mehr die gleiche Bedeu- tung und die gleichen Qualitä- ten wie noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Sie ist da- durch nicht unbedingt schlech- ter, aber sie ist eben anders ge- worden.

Überprüft man auch dar- aufhin die Kinderbildnisse des 20. Jahrhunderts, so fällt eine gewisse Verschiebung in der Darstellung des Kindes mit seinen Attributen wohl am meisten auf. Je mehr das Jahr- hundert fortschreitet, desto weniger begegnet man dem Kind mit der Mutter, mit dem Vater, mit Geschwistern oder im lebhaften Miteinander mit Spielkameraden. Selbst die früher im Kinderbildnis anzu- treffende, fast unabdingbare, innige Symbiose mit Spiel- zeug, mit der Natur oder mit Tieren wird man mit dem Ab- lauf des 20. Jahrhunderts in zunehmendem Maße vermis- sen. Deshalb sollte die Aus- stellung über ihren reichhalti- gen kunsthistorischen Fundus hinaus für den Betrachter auch Anlass sein, die Einstel- lung zum Kind als dem schutz- bedürftigsten und bildungs- fähigsten Mitglied der Gesell- schaft anhand der Kinderbild- nisse kritisch zu überprüfen.

Prof. Dr. med. Axel Hinrich Murken V A R I A

Im Wienand Verlag, Köln, ist ein als Monographie angeleg- ter Katalog erschienen. Er ent- hält 200 Seiten und über 150 Abbildungen (Preis: 38 DM;

im Buchhandel: 78 DM). Die Ausstellung „Kinder des 20.

Jahrhunderts“ ist nach Aschaf- fenburg bis 27. August im Mit- telrhein-Museum, Florinsmarkt 15–17, 56068 Koblenz zu se- hen. Informationen: Telefon:

02 61 / 12 95 01 Huynh Cong (Nick) Ut:

„Vietnam-Kinder auf der Flucht (8. Juni 1972)“, Fotografie, Associated Press

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 28–29½½½½17. Juli 2000 AA1989

Fotos: Katalog

Jake und Dinos Chapman: „Piggy Back“, 1997/98, Fiberglas/Harz, Lack, Kunst- harz und Schuhe, 150 x 65 x 55 cm, Courtesy Torch Gallery/Sammlung I.

Witzenhausen, Amsterdam

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Auch ich staune, vermutlich geht es Ihnen ebenso, dass der unheimliche Ak- tiencrash aus dem Jahr 1987 schon dermaßen in die Jahre gekom- men ist, gar 20 Jahre auf dem Buckel

Er ist allein, oft bar jeder Zu- wendung, er kann nicht aus sich heraus, es kann niemand zu ihm vordringen, und mag er auch die Sehnsucht haben, dass dies geschieht.. Obwohl also

Vor zehn Jahren waren noch 53 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass eine umfassende staatliche soziale Absicherung auch ohne hohe Steuern und Abgaben möglich ist, eine Fiktion,

halte, denke ich als erstes „Ah, die Deutsche Post“. Übrigens auch der erste Vorschlag von Google, wenn man dort DP eingibt. Natürlich müssen sich Dinge ändern, und es liegt in

In- dem so die Graphiken bildli- che und verbale Äußerungen auf einem Blatt miteinander vereinen, bieten sie eine Do- kumentation, die nicht nur vom zahnärztlichen und

aufgebaut, daß ein ein¬ facher Aufruf mit den drei Parametern Y, ST, M genügt, um beispielsweise bei den klimatologischen Daten die 366 Zahlenwerte umfassende Folge

Sie soll dem Gericht helfen zu entscheiden, ob der jugendliche Täter schon die erforderliche Reife besitzt, um das Un- recht seines Handelns zu erkennen, also überhaupt

Damit war die Evaluation der Leitli- nien-Implementation in die Diabetes- vereinbarungen jedoch ein Beitrag, die verbreitete einseitige Sichtweise auf die „Results“ der