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Archiv "Schweden: Wiedersehen nach drei Jahren" (16.01.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Noch einmal zurück zur Allgemein- praxis: Man findet geradezu Para- doxes. Im Süden und in Mittel- schweden, gerade in Stockholm, ist die freie Arztwahl so gut wie aufgehoben. Der Bürger ist durch die Verwaltung einem Kranken- hausambulatorium zugewiesen, wo er auf den jeweils diensthabenden Arzt trifft, wenn er es nicht vor- zieht, zum Privatarzt zu gehen (Stockholm: 60 Prozent der ambu- lanten Behandlungen werden nach amtlichen Unterlagen von Privat- ärzten ausgeführt). Im Norden sind natürlich schon theoretisch die Möglichkeiten der Arztwahl gerin- ger, da es wenig Ärzte gibt. Wenn aber schon drei Ärzte miteinander in einem Haus arbeiten, dann un- terwerfen sie sich selbstverständ- lich dem Auswahlwunsch ihrer Pa- tienten, halten im Lauf eines Be- handlungsverfahrens nach Mög- lichkeit die Kontinuität des Arzt-Pa- tienten-Verhältnisses ein, akzeptie- ren aber ebenso den bisweilen vor- kommenden Patientenwunsch, in- nerhalb dieser Dreierpraxis den Arzt zu wechseln. So haben die Pa- tienten im fernen Norden aus ärztli- cher Initiative heraus mehr Rechte als ihre Landsleute in der Haupt- stadt.

Die drei Allgemeinärzte führen eine Bestellpraxis, die von der Sekretä- rin an der Pforte des Arzthauses organisiert wird. Ein Drittel der täg- lich empfangenen Patienten sind allerdings — und die Bestellorgani- sation muß die Zeit dafür frei lassen

— Akutfälle, die sofort versorgt werden. Ansonsten ergeben sich Wartezeiten für nicht akute Be-

handlungen in der Größenordnung mehrerer Wochen.

Prävention aus ärztlicher Initiative Zu den Dienstaufgaben des Distrikt- arztes gehören auch Säuglings-, Kinder- und Schuluntersuchungen, zu denen er auch in die Umgebung hinausfährt. Die gynäkologischen Krebsvorsorgeuntersuchungen ko- steten die Patienten bisher 35 Kro- nen, ab 1. Januar 1975 sind sie ko- stenfrei. Aber die Allgemeinärzte haben schon bisher bei jeder gynä- kologischen Untersuchung, ohne dazu verpflichtet zu sein, die Por- tioinspektion und den Abstrich ge- macht, bei der „Pillenuntersu- chung" vor der Verschreibung von Ovulationshemmern auch den Le- berstatus. Für die „Pille" zahlt die Frau in Schweden übrigens ab An- fang 1975 lediglich die Rezeptbe- teiligung von 15 Kronen wie bei je- der anderen Verschreibung.

Noch zur Vorsorge: Es gibt in Nordschweden seit jeher Tuberku- lose-Dispensaires. Reihenuntersu- chungen sind jedoch trotz der kli- matisch bedingten Gefährdung nie gemacht worden; man hat immer gezielten Untersuchungsserien für gefährdete Gruppen den Vorzug gegeben.

Auch hier zeigt sich also wieder, was die Tendenz zur Förderung der Allgemeinmedizin auch inner- halb eines staatlich organisierten Systems für Vorteile hat — nun im Vergleich mit dem staatlichen Sy- stem Großbritanniens: Der briti-

sche Allgemeinarzt, der eher als

„Zulieferer" für die fachärztliche Diagnose und gegebenenfalls The- rapie betrachtet wird, ist beispiels- weise für gynäkologische Untersu- chungen gar nicht eingerichtet, die Ambulanzen in den Krankenhäu- sern hingegen können Krebsvor- sorgeuntersuchungen organisato- risch überhaupt nicht bewältigen, also unterbleiben sie. Die schwedi- sche Allgemeinpraxis hingegen kann sie ohne weiteres überneh- men.

Der Arzt ist kein Chauffeur

Die hier geschilderte Art der ärztli- chen Versorgung durch angestellte Distriktärzte in einer Arztzentrale hat sich allmählich aus dem Zu- sammenwachsen verschiedener anderer Organisationsformen ent- wickelt. Im ärztearmen Norden wa- ren ohnehin seit jeher der ange- stellte Krankenhausarzt und - der angestellte Distriktarzt das Rück- grat der Versorgung. Vor der „Sie- ben-Kronen-Reform" umfaßte der Anstellungsvertrag nur einen Teil der Arbeitszeit, standen sie zeit- weise auch als Sozialversiche- rungsärzte im Kostenerstattungs- system zur Verfügung; ein Teil der ambulanten Behandlung erfolgte also auch auf eigene Rechnung des Arztes in der Distriktstation und im Krankenhaus. Das hatte den Vorteil des „materiellen An- reizes", eines Anreizes, der aller- dings auch zur Folge hatte, daß der Arzt viel auf Besuchsfahrt un- terwegs war.

Dies ist nunmehr, wo es für die an- gestellten Ärzte einerseits eine festgesetzte Vollarbeitszeit und an- dererseits keine besondere Vergü- tung durch den Patienten mehr gibt, weitgehend entfallen: Der Ar- beitgeber ist, wie übrigens auch die Ärzte selbst, der Meinung, daß der Arzt als Arzt ausgebildet ist, nicht aber als Chauffeur — und bei den großen Entfernungen verlangt ein Hausbesuch dort ja sehr viel Chauffeurzeit. Andererseits vermis- sen die Ärzte das „sozialmedizini- sche Element" in ihren Kenntnis-

Schweden:

Wiedersehen nach drei Jahren

Walter Burkart

Fortsetzung und Schluß

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Schwedisches Gesundheitswesen

sen über ihre Patienten, das ihnen früher der Hausbesuch vermittelte.

Deshalb werden diejenigen Ver- pflichtungen, die den Distriktarzt in seinen Distrikt hinausbringen, zum Zweck des Kennenlernens der Umwelt des Patienten gern wahr- genommen: Die Schul- oder Säug- lingsuntersuchungen, vor allem aber auch die gelegentliche, nicht unbedingt gesetzlich vorgeschrie- bene, aber doch zweckmäßige Überwachung der Hauspflegefälle.

Die Schwester — Helferin des Arztes

Dies ist eine schwedische Beson- derheit, die es seit einigen Jahren gibt: Für die Pflege chronisch Kranker, also für Pflege- und Sie- chenfälle, können Familienangehö- rige eine Vergütung vom Staat er- halten (das ist noch immer billiger als die Aufnahme ins Pflegeheim oder Krankenhaus). Die Anleitung erfolgt durch die Distriktschwester, der Arzt kommt gelegentlich.

Die Distriktschwestern gehören zu den Arztstationen, und sie sind es, die die Hausbesuche statt des Arz- tes machen. Ohne diese Schwe- stern, deren Ausbildung auf der höchsten Stufe der Schwestern- hierarchie steht, wäre eine Allge- meinpraxis, die sich auf die Sprechstundenräume beschränkt, nicht zu führen. Zum Teil führen die Schwestern auch Aufgaben in der Arztstation aus, zum Beispiel die Schwangeren- und Säuglings- fürsorge (der Arzt kann jederzeit herbeigezogen werden, wenn es erforderlich ist), und im übrigen fahren die Schwestern zu dem pfle- gebedürftigen Patienten ins Haus.

Eigenartigerweise müssen sie das für ein bescheidenes Kilometergeld mit ihrem eigenen Auto tun, für des- sen Beschaffung ihnen allerdings günstige Kredite gewährt werden.

Die kapitalistische Erfahrung, daß eigene Hilfsmittel besser gehalten werden und so für den Dienstherrn sogar billiger sind als beispielswei- se Dienstautos, hat sich auch unter Schwedens Sozialdemokraten er- halten.

Einige Distriktschwestern sind auch in abgelegenen Ortsteilen in einer eigenen, jedoch der Arztsta- tion unterstehenden Sozialstation eingesetzt. Nun: Wir haben schon 1971 in Schweden, aber auch spä- ter in Großbritannien festgestellt, daß die Tätigkeit von den Ärzten zugeteilten, von ihnen beaufsichtig- ten und ihnen zuarbeitenden Di- striktschwestern überaus nützlich sein kann, und die Überlegungen, die heute in der Bundesrepublik hinsichtlich der Einrichtung von

„Sozialstationen" angestellt wer- den, können von diesen Erfahrun- gen in mancherlei Hinsicht be- fruchtet werden. Immerhin stellt beides — die „District Nurse" so wie die „Sozialstation" — eine mo- derne Wiedererweckung der früher von den Kirchengemeinden unter- haltenen Gemeindeschwester dar.

Und beides kann ganz erheblich dazu beitragen, die Krankenhäuser zu entlasten.

Krankenhäuser entlasten

In Schweden, das auf seine hervor- ragend ausgestatteten und lei- stungsfähigen und modernen Kran- kenhäuser mit Recht stolz ist, er- weckt es beim Besucher einiges Erstaunen, wenn er gerade oben im Norden immer wieder davon hört, daß diese Krankenhäuser ent- lastet werden müssen. Tatsächlich:

Es ist in Norrbotten .die erklärte und von allen Beteiligten gemeinsam getragene Politik, soviel an Aufga- ben wie möglich aus den Kranken- häusern heraus und zu den Allge- meinärzten zu verlagern. Die Kran- kenhausambulanzen sind, wie schon betont, reine Fachambulan- zen, die man zwar formal ohne Überweisung aufsuchen könnte, praktisch kommt das jedoch kaum vor. Die relativ wenigen Ärzte eines Krankenhausdistrikts kennen sich untereinander recht gut; die Fach- ärzte kennen die Fähigkeiten und Vorlieben ihrer allgemeinmedizini- schen Kollegen — und umgekehrt.

Manche fachärztliche Konsultation kann durch ein telefonisches Kon- silium zwischen Allgemein- und Facharzt ersetzt werden.

Basiskrankenhaus als Verwaltungszentrum

Der Krankenhausdistrikt ist die Verwaltungseinheit für die gesamte ärztliche Versorgung. In unserem Beispiel: Von der norwegischen Grenze hinunter an den Bottni- schen Meerbusen fließt der Piteälv, an dem vier Großgemeinden aufge- reiht sind: Arjeplog, Arvidsjaur, Älvsbyn und an der Mündung die Hafen- und Industriestadt Piteä. In dieser befindet sich das allgemeine Krankenhaus (Basiskrankenhaus), das in Größe und Ausstattung ei- nem deutschen Kreiskrankenhaus entspricht. Ein größeres, fachlich tiefer gegliedertes Krankenhaus, ein Zentralkrankenhaus, befindet sich 60 km entfernt in Boden, und für ganz besonders spezielle Din- ge, zum Beispiel neurochirurgische oder radiotherapeutische Behand- lungen, muß man einige hundert Kilometer weiter nach Süden in das Universitätskrankenhaus von Umeä überweisen. Das ist ein ganz ratio- nal geplantes Stufennetz, das über- all in Schweden existiert.

Das Basiskrankenhaus ist nun gleichzeitig Dienstherr der in sei- nem Bezirk ambulant tätigen Ärzte.

Es ist zuständig auch für deren bauliche und instrumentelle Ein- richtung und für ihr Personal.

Pflegeheime

Zu dieser Organisationsstruktur gehören auch in den anderen Ge- meinden sogenannte „Värdcentra- len", was man am besten als Pfle- geheim bezeichnet. In einer der Gemeinden ist es das tatsächlich:

eine Bettenstation für chronisch Kranke, Sieche, Pflegefälle, meist alte Leute; sie werden ärztlich von den Allgemeinärzten im Ärztehaus daneben mitbetreut.

In einer anderen, entfernteren Ge- meinde war es ursprünglich ein kleines Krankenhaus. Äußerlich sieht es sogar auch heute noch ganz wie ein allgemeines Kranken- haus mit Ambulanzbetrieb aus. Der Chefarzt ist eigentlich Pädiater.

160 Heft 3 vom 16. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Schwedisches Gesundheitswesen

Aber: Auch dieses Haus hat sich zur Arztstation, der Pädiater zum Allgemeinarzt entwickelt, und die meisten der stationären Patienten sind Pflegefälle. Akute Kranken- hausbehandlung wird dort nur im Notfall betrieben; meist werden die Patienten ins Basiskrankenhaus nach Piteä geschickt.

Noch weiter herauf zur Grenze in der letzten, der 300-km-Gemeinde ist es ähnlich: Auch hier schickt man, so es irgend möglich ist, Krankenhauspatienten nach Piteä

— und das ist schon eine erhebli- che Entfernung. Die im Haus tätige Schwester erzählt das nicht ohne Bedauern: Viele der Schwestern — auch sie selbst — sind ausgebilde- te und geprüfte Hebammen, was für die Schwangeren- und Säug- lingsfürsorge ja sehr bedeutsam ist. Nur: Bei Entbindungen hat die Schwester schon lange nicht mehr geholfen, die erfolgen ausnahmslos

„unten" im Basiskrankenhaus.

Übrigens: Das System ist bei die- sen Entfernungen ziemlich teuer — allein die Transportkosten für ei- nen Krankenhausfall von dieser letzten Gemeinde zum Basislaza- rett liegen um 600 Kronen. Nur wenn einmal ein sehr eiliger Fall bei hellichtem Tage transportiert werden muß, dann kann es billiger werden: Die Mitglieder des örtli- chen Luftsportvereins stellen sich und ihre Wasserflugzeuge gern zur Verfügung (und füllen damit das zur Erhaltung des Pilotenscheins notwendige Flugstundensoll auf).

Aber im langen Polarwinter bleibt es meist beim Krankenwagen auf eisiger Straße.

Persönliche Voraussetzungen Eine solche Organisation mit zen- traler Verantwortlichkeit und Voll- macht eines Verwaltungsbeamten über die ambulante und stationär- ärztliche Versorgung, nämlich des Oberdirektors des Krankenhauses, kann man sich durchaus alptraum- haft vorstellen. Es liegt auf der Hand, daß ihr Funktionieren sehr stark von den Persönlichkeiten ab-

hängt, die in ihr wirken — das ist sogar der entscheidende Faktor.

Tatsächlich hört man gesprächs- weise, daß es hier besser, da schlechter funktioniere. Aber die schwierige Umwelt prägt den Zwang zur kollegialen Zusammen- arbeit sehr stark aus; im übrigen gehören ohnehin gewisse, dafür günstige Charakterzüge dazu, dort überhaupt hinzugehen oder dort zu bleiben. Schließlich sind die finan- ziellen Voraussetzungen glücklich:

Da neben dem Schulwesen das Gesundheitswesen die Hauptaufga- be der mit eigener Steuerhoheit ausgestatteten Provinzialverwal- tung ist, bedarf es nicht schwieri- ger politischer oder persönlicher Kämpfe, um Geld für das Gesund- heitswesen zu bekommen — für das vorhandene Geld gibt es nur eine beschränkte Gruppe von Be- werbern.

Bereitschaftszentrale im Krankenhaus

Wenn Allgemeinärzte, Kranken- hausärzte und der Krankenhausdi- rektor sich so gut untereinander verstehen, dann läßt sich auch vie- les in eigener Initiative organisie- ren. Als Beispiel sei hier der Be- reitschaftsdienst der Allgemeinärz- te während der sprechstundenfrei- en Zeit genannt. Daß sie einen ha- ben müssen, steht fest; wie sie es machen, ist ihre Sache. Nach vie- lerlei verschiedenen Versuchen hat man in diesem Bezirk jetzt das Verfahren gefunden (und es scheint sich zu bewähren), die Be- reitschaft der Allgemeinärzte in die Akutstation des Krankenhauses zu verlegen. Der diensthabende Allge- meinarzt hat dort seinen Arbeits- und Aufenthaltsraum, kann Patien- ten empfangen und behandeln, der Apparat des Krankenhauses steht, wenn auch nächtlich oder feiertäg- lich reduziert, zur Verfügung, und mancherlei läßt sich auch auf grö- ßere Entfernung sogar telefonisch erledigen. Auch hier gilt der Grundsatz, daß der Arzt nicht Chauffeur sein soll; während sei- nes Bereitschaftsdienstes bleibt er im Krankenhaus.

Idealfigur: der Einzelarzt

Am erstaunlichsten für den Besu- cher, auch für den aus südliche- ren schwedischen Gefilden, aber ist die Tatsache, daß man in diesem Gebiet sogar den Allgemeinarzt als Einzelarzt finden kann. Hier han- delt es sich um einen Vorort — wir würden sagen: Stadtrandgebiet — von Piteä, einen Bezirk mit 3000 bis 4000 Einwohnern. Jeglicher Ideolo- gie zum Trotz hat die lokale Ge- sundheitsorganisation es für am zweckmäßigsten gehalten, den Arzt, der auch schon vor der Re- form hier praktizierte, unverändert weiterarbeiten zu lassen, und wenn man fragt, erhält man sogar die Auskunft, daß die Frage, ob Allge- meinärzte eher einzeln oder in Gruppen praktizieren sollten, rein pragmatisch beantwortet werden müsse, daß aber das politisch Er- strebenswerte der Einzelarzt sei!

• Der erwähnte Vorortarzt stellt also sogar den Idealfall dar, nicht etwa ein Relikt der Vergangenheit.

Hier spielt es eine Rolle, daß das Krankenhaus und die Stadt nur et- was mehr als zehn Kilometer ent- fernt sind; in den abgelegeneren Gemeinden ist es schon aus ver- kehrstechnischen, aber natürlich auch aus mancherlei anderen Gründen zweckmäßiger, die vor- handenen Ärzte mit gemeinsamer Gebäude-, Apparate- und Personal- ausstattung in das jeweilige Zen- trum zu setzen.

Nachwuchs-Probleme

Im übrigen besteht für die Zu- kunft der Einzelpraxis, auch wenn sie der politische Idealfall ist, eine große Sorge: Wird man für den jet- zigen Praxisinhaber einen Nachfol- ger finden? Auch in Schweden be- obachtet man, daß die Universitäts- ausbildung nicht gerade geeignet ist, zu der für den Einzelarzt not- wendigen Alleinverantwortung zu erziehen; auch in Schweden ver- kriechen sich die Jungmediziner gern in die Kollektivverantwortlich- keit des Teams. Nur: Dort hat man

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Aufsätze • Notizen

Schwedisches Gesundheitswesen

auch etwas unternommen. Die Ver- pflichtung zur turnusärztlichen "Tä- tigkeit in der Allgemeinpraxis kann dazu beitragen, das Fehlende zu lehren, und man will versuchen, diese Turnusärzte nicht nur auf Stellen in Arztgruppen zu setzen, sondern sie auch als Assistenten und Vertreter zu Einzelärzten zu schicken.

Pflichtzeit in der Allgemeinmedizin

Der neue Turnusarzt ist ohne- hin ein „Mehrzweckunternehmen":

Auch die Nachwuchswerbung für den harten Norden setzt bei diesen Jungärzten an. Die Turnuszeit von 21 Monaten ist an die Stelle einer früheren Krankenhausinternatszeit getreten; das Studium wurde um ein Jahr gekürzt. Die Weiterbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin er- fordert nach der Turnuszeit weitere drei Jahre; eine Weiterbildung in den anderen Fächern von vier bis fünf Jahren kann erst nach Ablei- stung des Turnusdienstes aufge- nommen werden.

Insgesamt: Die ärztliche Versor- gung in einem solchen nördlichen Bezirk funktioniert unabhängig vom politischen System, weil bei günstigen materiellen Vorausset- zungen hervorragende menschli- che Qualitäten freigesetzt werden und gefordert sind. Mit einem an- deren anekdotenhaften Hinweis mag diese Erörterung abgeschlos- sen werden: In dieser fernen Ge- gend hält man nichts von Anony- mität. Das Landsting, also die Pro- vinzialverwaltung, publiziert in ge- wissen Abständen eine Zeitschrift, in der über die Aktivitäten der ver- schiedenen Verwaltungszweige be- richtet wird. Das Wichtigste in die- sen Zeitschriften und auch in ande- ren Publikationen des Landsting ist die Darstellung von Personen.

Jeder Arzt, jede Schwester, jeder Sozialarbeiter kommen in diesen Publikationen mit Bild und vollem Namen vor — man muß sich eben kennen, wenn man dort überleben will.

Experimente in der Psychohygiene

Eine negative Seite schwedischer Menschlichkeit kann jedoch nicht unerwähnt bleiben. Und es mag Zufall sein, daß diese Erwähnung nun ausgerechnet im Zusammen- hang mit der psychiatrischen Ver- sorgung erfolgt — dem Bericht- erstatter begegnete diese Erschei- nung jedoch gerade dort. In einer der größeren Städte, in Boden, be- findet sich ein zentrales psychiatri- sches Großkrankenhaus für die ganze Provinz. Wie überall, so ver- sucht man auch in Schweden heu- te, die Rehabilitationschancen psy- chisch Kranker durch Differenzie- rung und Dezentralisierung der Be- handlung zu erhöhen. Und so wur- den mehrere Einrichtungen aus dem zentralen Krankenhaus her- aus verlagert. So gibt es in Älvsbyn eine kleine offene Siedlung, in der geeignete Kranke wohnen; sie ar- beiten in einer beschützenden Werkstatt in der Nähe, und man versucht, sie möglichst selbständig werden zu lassen: Sie müssen selbst ihre Wäsche versorgen, ihre Zimmer in Ordnung halten, sogar kochen; man versucht, ihnen den Umgang mit ihrem Geld wieder beizubringen. Es ist die Rede von einer Erfolgsquote von 20 Prozent, einer Ziffer, die noch nicht viel be- sagt, da natürlich eine Selektion vorausgeht und weil die Beobach- tungszeit noch recht kurz ist. Eini- ge Patienten konnten jedoch schon in die freie Wirtschaft vermittelt werden — der Staat allerdings er- stattet dem Arbeitgeber den halben Lohn.

An einer anderen Stelle hat man einfach eine Außenstelle der psychiatrischen Klinik eingerichtet, also die Klinik im kleinen wieder- holt, aber ohne Ärzte. Auch hier wird von Psychologen, Pflegern, Sozialarbeitern, Beschäftigungs- therapeuten intensiver, als es im Großkrankenhaus möglich ist, und individueller der Versuch der Re- habilitation durch allmähliche Ver- selbständigung betrieben — ein- schließlich land- und forstwirt- schaftlicher Arbeit. Günstig, wirkte

sich dabei das Vorhandensein ehe- maliger Personalwohnungen in un- mittelbarer Nähe der Einrichtung aus, was entlassenen Patienten das Wohnen zwar in Freiheit, aber in beruhigender Nähe des Kran- kenhauses ermöglicht.

Eine dritte Initiative: eine Rehabili- tationseinrichtung für Jugendliche, Alkohol- und Drogenabhängige — ohne Ärzte, ohne Psychologen, von jungen Sozialarbeitern geleitet mit dem Prinzip: Nicht den Alkoholis- mus als Krankheit besprechen, sondern ihn als eine Einstellung zu einem Problem begreifen und dann dieses Problem bewältigen.

Soziales Engagement:

Nicht vorhanden

Solche Einrichtungen werden in Schweden voll und ganz vom Staat finanziert. Die in diesen Einrichtun- gen tätigen Mitarbeiter zeigten durchaus einen gewissen Stolz darüber, was dieser Staat zu lei- sten imstande ist (und dies durch- aus unpolitisch). Sie ließen sich vom Besucher gern ihre Vermu- tung bestätigen, daß der Staat in Deutschland dergleichen nicht lei- ste. Und sie waren überaus er- staunt, wenn sie dann erfuhren, daß es solches alles doch gibt — aus privater Initiative begründet und finanziert. Eine Initiative, wie es in der Bundesrepublik beispiels- weise die „Aktion Sorgenkind"

oder „Stiftung behindertes Kind"

ist, mit Millionenbeträgen aus Fern- sehlotterien und vielerlei anderen privaten Hilfsquellen getragen, ist in Schweden undenkbar: In einem Staat, dessen Spitzensteuersatz bei 83 Prozent liegt, und wo schon ein Durchschnittseinkommen zur Hälf- te von Steuer und Sozialbeiträgen konsumiert wird, stirbt die Bereit- schaft zum darüber hinausgehen- den Engagement. Die einzige pri- vate Initiative im Gesundheitswe- sen ist vorhin schon erwähnt wor- den: der Krankentransport durch Flugsportler. Aber selbst dies ist schon — so verdienstvoll es sein mag — nicht ganz uneigennützig

— wegen der Pilotenlizenz.

164 Heft 3 vom 16. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Neben dem wissenschaftlichen Er- fahrungsaustausch mit allen westli- chen und östlichen Ländern und den Ländern der „Dritten Welt"

sollte ein besonders intensiver Er- fahrungsaustausch auf den Gebie- ten der Gesundheitspolitik sowie der Organisation der ambulanten und stationären ärztlichen Versor- gung gepflegt werden.

Der Deutsche Ärztetag ist .der Auf- fassung, daß Reformvorstellungen und -vorschläge für das Gesund- heitswesen in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich ihrer Wirksamkeit soweit wie möglich an praktischen Erfahrungswerten an- derer Länder gemessen werden müssen. Dabei sollte allerdings be- rücksichtigt werden, daß jedes Sy- stem medizinischer Versorgung ihm eigene geographische und de- mographische, wirtschaftliche und gesellschaftliche sowie verfas- sungspolitische Grundlagen und Voraussetzungen hat.

I. Das Berufsbild des Arztes in der Europäischen Gemeinschaft Nach dem Vertrag über die Errich- tung der Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft soll Ärzten — nach gegenseitiger Anerkennung der Di- plome und Koordinierung der Be- dingungen für die Berufsausübung

— die Freizügigkeit ermöglicht werden. Bei der Koordinierung der verschiedenen Bestimmungen in den EG-Richtlinien zur Verwirkli- chung dieser Bestrebungen muß die Einheit des Arztberufes erhal- ten bleiben. Die Weiterbildung auf bestimmte ärztliche Tätigkeiten muß sich immer auf die Kenntnis

DAS BLAUE PAPIER

des ganzen Menschen stützen kön- nen, wenn dem Bedürfnis des Pa- tienten nach umfassender Behand- lung und Heilung psychischer und physischer Leiden entsprochen werden soll.

II. Die medizinischen Assistenzberufe

in der Europäischen Gemeinschaft Wenn Ärzten die freie Niederlas- sung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft er- möglicht wird und auch angestellte Ärzte die freie Wahl ihres Arbeits- platzes in diesen Ländern erhalten, dann muß auch die Freizügigkeit der Berufsausübung der Angehöri- gen ,der medizinischen Assistenz- berufe gewährleistet werden.

Eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen medizinischen und para- medizinischen Berufen wird nur er- reicht, wenn möglichst vergleich- bare Berufsbilder im Gesundheits- wesen aller Mitgliedstaaten der Eu- ropäischen Gemeinschaft geschaf- fen werden.

III. Regionale Arztverzeichnisse in der Europäischen Gemeinschaft Um nach der angestrebten Freizü- gigkeit das ärztliche Leistungsan- gebot auch regional transparent zu machen und damit möglichst ein Überangebot von Ärzten in attrakti- ven Städten oder Landbezirken so- wie eine Verdünnung der Arztdich-

*) Die vorausgehenden Abschnitte des Blauen Papiers wurden in den Hef- ten 25, 28, 31, 32, 33, 36, 37, 38, 40, 41, 43, 44, 47, 48 sowie in Heft 50/1974 veröffentlicht.

Schwedens Gesundheitswesen

Die Lappen sterben aus

Insoweit unterscheidet sich der Norden nicht vom übrigen Schwe- den, auch nicht hinsichtlich der ganz bewußt zur Schau getragenen Rationalität: Daß man sich bei- spielsweise darum bemühen könn- te, eine Minderheit im Lande unter Einsatz gewisser Mühen und Mittel zu schützen und zu bewahren, nämlich die Lappen, hält ein Schwede für überflüssig und unge- rechtfertigt: Schwedens Lappen werden in der nächsten Generation weitgehend in das schwedische Volkstum integriert sein und nur noch in Museen vorkommen. Und man schüttelt über die Norweger, die sich da ganz anders verhalten, ein wenig den Kopf. Die Frage, ob die ärztliche Versorgung der Lap- pen irgendwelche besonderen Pro- bleme stelle, wurde deshalb mit ei- nem Wort verneint.

Die „Nordkalotte"

Trotz dieser Gemeinsamkeiten mit dem Süden und dieser Abweichung von den Nachbarn: Es ist interes- sant zu sehen, wie sich im Norden über die norwegische und finni- sche Grenze hinweg Gemeinsam- keiten bilden. Es wächst ein Zu- sammengehörigkeitsgefühl dieser

„Nordkalotte", das zur Zusammen- arbeit ebenso führt wie zu gemein- samer Distanzierung von Helsinki, Stockholm und Oslo. Die Selbstän- digkeit in der Gestaltung des Ge- sundheitswesens und der ärztli- chen Versorgung, die wir in Nord- schweden beobachten konnten, findet hier zusätzliche Stütze und Stärkung.

Anschrift des Verfassers:

Walter Burkart Redaktion,

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 5023 Lövenich/Köln,

Postfach 14 30

Internationale

Gesundheitspolitik

Das Blaue Papier:

Abschnitt D 8 der „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft"")

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