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Archiv "Zwangsernährung von Häftlingen: I. Reglementierung des ärztlichen Berufsethos" (17.07.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FORUM

I. Reglementierung

des ärztlichen Berufsethos

Ein Kollege, der viele Jahre lang in einem Zuchthaus tätig war, hat mir von den Schwierigkeiten erzählt, denen der Arzt bei seiner Berufs- ausübung innerhalb der Zucht- hausmauern ausgesetzt ist. Das weitaus Schwierigste — so meinte er — sei das Widersprüchliche, in welches das ärztliche Handeln des- wegen immer wieder gerate, weil es disziplinar in juristische Denk- normen eingebaut sei.

So war zum Beispiel einmal ein vermutlich organisierter Hun- gerstreik ausgebrochen, dessen Bewältigung praktisch den in der Anstalt tätigen Ärzten zugeschoben wurde; der Ge- fängnisdirektor, ein Jurist, habe den Ärzten folgendes erklärt: „Sie sind mir dafür verantwortlich, daß keiner stirbt." So einfach ist das.

Im Grunde handelt es sich dabei um Auswirkungen einer Denkwei- se, die Verantwortungen auf eine Ebene verlagert, in welcher eine Mischung aus emotionell gefärbten Vorstellungen von Rechtsstaatlich- keit und Ethik in ein Zwangskorsett pseudoethischer Bezüge gepreßt wird, das den Arzt in jedem Fall am Ende zum Hauptverantwortlichen macht. Der Anstaltsarzt aber ist dem Gefängnisdirektor disziplina- risch unterstellt und muß dessen Anweisungen auch dann gerecht werden, wenn sie im Gegensatz zu den Prinzipien des Helfens ohne Gewaltanwendung stehen. Der Arzt wird auf diesem Weg zum Angel- punkt einer widersprüchlichen An- wendung von Rechtstiteln; gegen ihn und seine Angehörigen richten sich deshalb die unverhüllten Dro- hungen der Sympathisanten hun- gernder Häftlinge.

Man verpflichtet den Arzt zum Han- deln, aber sein Tun steht im Ge- gensatz zu jenem für alle Ärzte ver- bindlichen Gesetz, wonach Eingrif- fe in die persönliche Unversehrt- heit nur mit Einwilligung des Be- troffenen möglich sind. Operation oder verletzende Hilfe ohne Zu- stimmung des willensfreien Betrof- fenen stehen unter Strafe. Zwangs- ernährung aber ist eine solche Hil- fe, eine Hilfe gegen den Willen des Zwangsernährten, eine Hilfe, die in vielen Fällen mit Verletzung der Unversehrtheit der Person verbun- den ist. Außerdem handelt es sich praktisch auch schon um einen Teil des Vollzugsvorganges bei Strafgefangenen, also um einen Teil exekutiver Maßnahmen, deren Gewaltcharakter allein schon durch die Inhaftierung bestimmt ist und das ärztliche Berufsethos re- glementiert.

Manche Argumente vertreten den Standpunkt, daß der Arzt, der sich einer solchen Anstaltstätigkeit ver- pflichtet, ja vor Diensteintritt ge- wußt habe, daß er bei seiner Be- rufsausübung indirekt auch mit zum Vollzugsbeamten werden wür- de, es zwinge ihn niemand, hier tä- tig zu sein. Solche Überlegungen ge- hen m. E. am Wesentlichen vorbei, nämlich an der primären Bindung der ärztlichen Tätigkeit an den ethischen Bereich des Helfens ohne Gewaltanwendung. Dieser Bereich aber ist nicht administrier- bar, und man kann nicht sagen: Als Arzt sind Sie in jedem Fall zum Helfen verpflichtet, und zwar auch dann, wenn ich kraft meines Amtes entscheide, daß bei Hungerstrei- kenden mit Gewaltanwendung zu helfen ist. Die Gesetzeslage aller- dings räumt der Administration praktisch das Recht ein, die er- wähnten ethischen Grundlagen

ärztlichen Handelns zu Lasten des Arztes in das Gegenteil zu verkeh- ren.

Solche und ähnliche Überlegungen sind seit dem Tod eines absichtlich hungernden Häftlings Gegenstand vieler Gespräche gewesen. Einig scheint man sich in der Erkenntnis zu sein, daß die bisherige gesetzli- che Regelung es dem Strafvollzug erlaubt, sich begrifflich der eige- nen Verantwortlichkeit zu entzie- hen. Über ärztlich Ethisches läßt sich vielleicht im Bereich von Randsituationen, wie zum Beispiel in der Frage der Pflicht zur Durch- führung einer gesetzlich erlaubten

Schwangerschaftsunterbrechung streiten, nicht aber läßt sich dar- über rechten, daß der Zwang zur gewaltsamen Durchführung einer künstlichen Ernährung auf Anwei- sung des Strafvollzuges einen Ein- griff in den ärztlichen Pflichtenbe- reich darstellt.

Die aktuell gewordene Frage, ob Zwang zur künstlichen Ernährung etwa durch die geringe Wahr- scheinlichkeit sich ergeben könnte, daß der Inhaftierte nicht mehr in der Lage sei, die Tragweite seines Handelns zu überschauen, oder weil Hungerstreik per primum als Auswirkung einer Haftpsychose zu gelten habe, hat bei keinem der Hungerstreiks bisher zur Diskus- sion gestanden. Zwangsernährung wurde sicherlich jeweils auf dem Boden der bisher geltenden Rechts- auslegung angeordnet, ihre Durch- führung durch den Arzt ist aber trotzdem keine Selbstverständlich- keit, auch wenn sie durch die Ge- horsamspflicht des Beamten ge- genüber seinem Dienstherrn moti- viert erscheint. Die Grenzen des Möglichen sind ohnedies deutlich sichtbar, wenn man an die Wahr- scheinlichkeit denkt, daß Hunderte von Häftlingen sich einem solchen Hungerstreik anschließen und die vorhandenen Ärzte zur Durchfüh- rung solcher Zwangsmaßnahmen nicht mehr ausreichen, so daß grö- ßere Krankenhausabteilungen in Anspruch genommen werden müs- sen, was schließlich die dort ver- fügbaren Ärzte vor die Frage stellt,

Zwangsernährung von Häftlingen

Zu der Entschließung des Präsidiums des Deutschen Ärztetages, veröffentlicht in Heft 51/1974, Seite 3660 f.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 29 vom 17. Juli 1975 2123

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Zwangsernährung von Häftlingen

ob der absichtlich Hungernde oder auch die anderen akut Erkrankten Anspruch auf Soforthilfe haben.

Alle in der vorliegenden Thematik offenen Fragen und Widersprüche lassen sich klarstellen durch eine gesetzliche Anerkennung der einfa- chen Tatsache, daß Hungerstreik eine Demonstration des freien Wil- lens ist. Die Grundlage ärztlichen Handelns räumt der Gesetzesexe- kutive nicht das Recht ein, den An- staltsarzt zum Mittel der Gewaltan- wendung zu machen.

Einschlägige Anweisungen von An- staltsleitungen an ihre Anstaltsärz- te legen die Annahme nahe, daß unklare Rechtsverhältnisse hinter dem ärztlichen Berufsethos ver- steckt werden sollen, indem man den Hauptanteil negativer Vorgän- ge, in ein scheinbar ethisches Pa- ket verschnürt, den Ärzten aufpackt.

An sich muß es genügen, wenn dem absichtlich hungernden Häft- ling die Folgen seines Verhaltens klargelegt werden. Jenseits seiner dann folgenden Willensbekundung gibt es keine Verantwortlichkeit zu Lasten Dritter. Der Gesetzgeber möge dieses bedenken, und er möge auch erkennen, daß alle noch so ethisch formulierten Bezüge nichts ändern können an der Tat- sache, daß bei Zwangsernährung absichtlich hungernder Häftlinge nicht der hungernde Häftling selbst, sondern der unter Zwang und mit Zwang künstlich ernähren- de Arzt der eigentliche Vergewal- tigte ist.

In England hat man derlei Wider- sprüchlichkeiten am 17. Juli 1974 ausgeräumt und damit weitere Hungerstreiks uninteressant ge- macht. Der bundesdeutsche Ge- setzgeber möge ebenfalls dafür sorgen, daß eine solche Anwei- sung, wie sie eingangs dieser Zei- len zitiert wurde, nicht mehr mög- lich ist.

Dr. med. Rudolf Lodes Arzt für Orthopädie 8 München 40 Bauerstraße 31

Widerspruch

Der Beschluß des Präsidiums des Deutschen Ärztetages über die Zwangsernährung von Häftlingen, daß kein Arzt zu einer derartigen Zwangsbehandlung verpflichtet werden dürfe, widerspricht der so oft gerade von dieser Stelle ange- sprochenen ärztlichen Ethik. Ich halte es da lieber mit dem Frauen- arzt Kollegen Dr. Poettgen, Düren, der (im selben Heft des DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATTES, in dem die Erklärung zur Zwangsernäh- rung erschien. Die Red.) schreibt:

„Der Arzt kann unmöglich auf der Seite derer stehen, die so genau wissen, was Recht und Unrecht ist, die die Welt so eilfertig in weiße und schwarze Schafe einzuteilen vermögen. Ich jedenfalls vermag als Arzt nur auf der Seite derer zu stehen, die — sei es schuldig oder unschuldig — in Not geraten sind."

Dr. med. F. Hangen Nervenarzt

85 Nürnberg

Oskar-von-Miller-Straße 44

III. Unter Pflegschaft stellen

Das, was die Untersuchungshäftlin- ge unternehmen, ist doch wohl das, was man

in

anderer Situatio-h als Selbstmordversuch bezeichnen kann und muß. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Arzt einem Selbstmörder seine Hilfe versagen wird. Auch dann nicht, wenn der Selbstmörder mit seiner Selbst- mordabsicht einen freien Entschluß verwirklichen will. Kann man einen solchen Selbstmordkandidaten nicht unter Pflegschaft stellen las- sen und einen Pfleger für diesen Teilbereich seiner Persönlichkeits- äußerung bestellen lassen? Das ist eine Verfahrensweise, die unter an- deren Umständen mit Erfolg ange- wendet werden kann. Ich denke dabei an Angehörige gewisser Sekten, die ihre Kinder nicht ope- rieren oder die ihnen keine Blut- übertragung zukommen lassen wollen. Mit Hilfe des Vormund- schaftsgerichts ist es in verschie- denen Fällen gelungen, die not-

wendigen Behandlungsmaßnahmen auch gegen den erklärten Willen durchzuführen. Und ich möchte den Arzt sehen, der sich in solchen Fällen weigern würde. Ist die Situa- tion bei einem Hungerstreikenden in einer gewissen Phase nicht ebenso zu beurteilen?

Dr.

med. Joachim Simon Medizinaldirektor 45 Osnabrück Hegertorwall 18

Briefe an die Redaktion

LAUSIGE ZEITEN

Gedanken zum Merkblatt 51 des Bun- desgesundheitsamtes:

Das einzig probate Mittel

Es ist kaum glaublich, aber amt- lich, mit welchem strategischen und taktischen Aufwand das der- zeitige Bundesgesundheitsministe- rium auf „Merkblatt 51 für Ärzte" ir dem derzeitigen Kopfläusekrieg zu Felde zu ziehen rät! Die da als Kampfmittel gegen die nun bereits en- oder epidemische Läuseplage angegebenen Verfahren sind samt und sonders unnötig und überflüs- sig, weil auf die Dauer unwirksam, denn solange es die zur Zeit gras- sierende Langhaarmode gibt und geben wird, werden die dazu gehö- renden Läuse nicht aussterben.

Das einzige probate Mittel dazu und dagegen ist die Schere, also der Kurzschnitt der Haare, und re- gelmäßige Kopfwäsche mit Seifen- spiritus ...

Dr. med. Helmut Robert 3053 Steinhude Schlesierweg 51

INTERPRETATION

Zu der jüngsten „Spiegel"-Serie (siehe auch Seite 2040 f.):

Warum tut der „Spiegel" so was?

Der „Spiegel" hält den Ärzten wie- der einmal — zum wievielten Mal?

— einen Spiegel ihrer Schandtaten

2124 Heft 29

vom 17. Juli 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

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