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Archiv "Freiheit und Verantwortung in „Pro familia“" (11.09.1980)

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Freiheit und Verantwortung in "Pro familia"

Peter Petersen und lngeborg Retzlaff

Innerhalb der "pro familia - Deutsche Gesellschaft für Sexualbera- tung und Familienplanung" gibt es - öffentlich kaum bemerkt - Auseinandersetzungen über den Kurs der Organisation hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs. Mit dem Artikel: ,.Schwangerschafts- abbruch 1979- der ideologische Kern der Auseinandersetzung" (Heft 18/1980) hat die Redaktion Dr. phil. Jürgen Heinrichs, den Präsidenten der ,.Pro-familia"-Bundesorganisation, der auch als Vertreter der der- zeit "herrschenden Richtung" angesehen werden kann, zu Wort kom- men lassen. Der folgende Beitrag begründet eine Gegenposition. Die Verfasser, seit 15 Jahren Mitglieder der ,.pro familia" und seit 1977 in deren Kuratorium, sind kürzlich aus Protest aus dem Kuratorium ausgetreten. ln einem "offenen Brief" an den Präsidenten von ,.pro

familia" haben sie diesen Schritt begründet. Der Präsident hat die

Publikation dieses Briefes in den ,.Pro familia-lnformationen" abge-

lehnt, obwohl die beiden Autoren nach wie vor Mitglieder der "pro

familia" in deren Landesverbänden sind und obwohl dieser Brief für

"pro familia" von grundsätzlicher Bedeutung ist. Ihr Artikel beruht zu

wesentlichen Teilen auf diesem Brief.

Als wir 1977 unser Amt im Kurato- rium des Bundesverbandes der "pro familia" übernahmen, glaubten wir,

~ daß im Präsidium der "pro fami- lia" eine Gesinnung gepflegt würde, die sich kennzeichnen läßt mit den drei Grundsätzen: Freiheit, Selbst- bestimmung und Verantwortung für sich selbst und den anderen im Hin- blick auf verantwortliche Eltern- schaft, Familienplanung und Ge- schlechtserziehung,

~ daß im Bundesverband "pro fa- milia" in der heißumkämpften Frage von Schwangerschaftskonflikt und Schwangerschaftsabbruch eine li- berale und freiheitliche Haltung ein- genommen werde, die nicht durch Verkrustungen und festgefahrene Weltanschauungen geprägt ist. ln den letzten Jahren hat sich im Präsi- dium jedoch eine Tendenz durchge- setzt, die diese Prinzipien echter Li- beralität über Bord wirft. Insbeson- dere bei der Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch kommt diese Tendenz zum Aus- druck. Dogmatisierung, ldeologisie-

rung und Isolationismus im Hinblick auf die Grundlagen von "pro fami- lia" nehmen überhand. Weil Verlo- genheit, Verschleierungen und Ta- bus in unserer Gesellschaft entlarvt werden sollten - auch deshalb wa- ren wir Mitglied des Kuratoriums.

Jetzt aber sind wir Zeuge davon, wie Verschleierungen und Tabus mit neuem Vorzeichen eingeführt werden.

Indem Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftskonflikt - im weiteren auch das Prinzip verant- wortlicher Elternschaft - ideologi- siert werden und neue Tabus aufge- richtet werden, läßt das Präsidium vor allem die Berater im Stich. Die Berater, die dem ständigen Druck in der vordersten Linie ausgesetzt sind, müssen im Bewußtsein echter Freiheit und Offenheit beraten und handeln können; diese Freiheit und Offenheit zu erhalten ist nur mög- lich, indem das Konfliktbewußtsein für eine -wenn auch unerträgliche Situation bei unerwünschter Schwangerschaft immer wieder ge- schärft wird. Um Mißverständnissen

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dagegen, daß "pro familia" sich dem Problem des Schwangerschaftsab- bruches stellt, wir begrüßen es viel- mehr, wenn die Beratungsstellen von "pro familia" sich bewußt auf dieses Problem einlassen, statt die Frauen wegzuschicken und ihrem Schicksal zu überlassen- so daß sie nach Holland fahren müssen oder bei einem Abtreibungspfuscher lan- den.

Entscheidend ist für uns, mit wel- chem Bewußtsein vor und beim Schwangerschaftsabbruch beraten und gehandelt wird. Die Bewußtheit ist in diesem Fall entscheidend, erst sekundär die Handlung. ln der Be- wußtheit tritt das Konzept vom Le- ben und das Konzept vom Men- schen hervor. Durch Ideologiebil- dung wird diese Bewußtheit unmög- lich gemacht. Was ist mit neuem Ta- bu, Ideologisierung und Dogmatisie- rung gemeint?

Das Dogma vom Wunschkind Der Satz "Jedes Kind hat ein Recht, erwünscht zu sein" (Heinrichs 1979) (8) ist unbestreitbar richtig. Wer wür- de sich nicht freuen, wenn alle Kin- der von ihren Eitern tatsächlich be- wußt .gewollt und in diesem Sinne erwünscht wären? Der Teufelsfuß verbirgt sich erst in Ihrer Interpreta- tion dieses Satzes: (nur) "erwünsch- te Kinder sind glückliche Kinder"

(Heinrichs 1979) (8), womit Sie der Ideologie Vorschub leisten, uner- wünschte Kinder seien unglückliche Kinder.

Das Wunschkinderdogma hat bald danach schwerwiegende Früchte getragen; so behauptet Amendt (1979) (1) in irreführender Weise fol- gendes: "es gibt zahlreiche - be- zeichnenderweise ausländische - Untersuchungen über die psychi- schen und sozialen Beeinträchti- gungen, denen unerwünschte Kin- der ausgesetzt sind: diese Kinder haben es in der Regel schwerer, sie sind öfter krank als gewünschte Kin- der; nicht wenige sind in ihrer psy- chischen Entwicklung beeinträch- tigt, viele wurden in die Kriminalität

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getrieben oder in anderer Form so- zial auffällig und gerieten damit in die Heimerziehung. Wissenschaftli- che Untersuchungen lassen (angeb- lich!) auch keinen Zweifel daran, daß die erzwungene Austragung von Schwangerschaft sowohl für die un- erwünscht zur Weit gebrachten Kin- der wie ihre Eitern und letztlich auch für die Gesellschaft nachteilig" sei. Amendt macht sich damit zum Spre- cher von "pro familia": vom Präsi- dium der Gesellschaft wurde ihm bisher inhaltlich in keiner Weise wi- dersprochen (15). Das Präsidium er- weckt damit den Eindruck, Amendts Argumente würden dem Konzept des Präsidiums von "pro familia"

entsprechen. So hat sich das Präsi- dium vor Amendts Position gestellt.

Wir sind seinerzeit Amendts extremi- stischer Position entgegengetreten

(12), das Präsidium jedoch hat unse-

re Kritik verurteilt.

Auf den ersten Blick könnte die Argumentation Amendts, die der Wunschkinderideologie entspricht, tatsächlich wahr sein. Analysiert man jedoch die Aussagen Amendts genauer, so entpuppt sich fol- gendes:

a) Unter dem Deckmantel wissen- schaftlicher Untersuchungen ver- breitet Amendt Halbwahrheiten. Be- kanntlich sind Halbwahrheiten ge- fährlicher als offensichtliche Lügen -Halbwahrheiten erwecken den An- schein von Realität. Die halbe Wahr- heit besteht in der Isolation des Fak- tors "Unerwünschtheit". Über die volle Wahrheit dagegen besteht un- ter den - ausländischen und deut- schen - Forschern Einigkeit: eine menschliche Biographie, ein Men- schenleben ist zu komplex und viel- schichtig, als daß sich aufgrund des Faktors "Unerwünschtheit während der Schwangerschaft" Aussagen machen ließen über das weitere Schicksal dieses Menschen. Hier versagt die statistische Methode.

Aufgrund umfangreicher sozialpsy- chologischer und psychiatrischer Nachuntersuchungen in Skandina- vien, der Schweiz und den angel- sächsischen Ländern ist hingegen erwiesen (13), daß Frauen, die den Schwangerschaftsabbruch wü n-

sehen, in jedem Fall zu einem be- stimmten Prozentsatz ein unglückli- ches Schicksal hatten: ob sie die Schwangerschaft austrugen oder abbrechen ließen. Es ist also ein Irr- tum zu glauben, man könnte eine Frau vor einer seelischen Störung durch den Schwangerschaftsab- bruch bewahren. Dieser Irrtum wird durch Amendts Argumente als Wahrheit verbreitet!

Wir haben Frau Knieper (1) münd- lich und schriftlich gebeten, die von ihr und Amendt behaupteten wis- senschaftlichen Untersuchungen bekanntzugeben, um den Beweis für ihre Behauptungen anzutreten. Amendt und Mitarbeiter sind bisher diesen Beweis schuldig geblieben. b) Wie mit einem Taschenspieler- trick setzt Amendt unerwünschte Schwangerschaft .mit "erzwunge- nem Austragen von Schwanger- schaft'' gleich, so als ob hier der Zwang von einem anderen Men- schen oder einer anonymen Institu- tion (der Gesellschaft, dem Strafge- setz, der Ärzteschaft oder ähnli- chem) ausgeübt werde. Niemand hat eine unerwünschte Schwanger- schaft aufgezwungen. Niemand zwingt zum Austragen der Schwan- gerschaft.

c) Amendt vertritt eine sozialdarwi- nistische Position. Diese lautet: "un- erwünschte Kinder sind für die Ge- sellschaft nachteilig". Wir Deut- schen sind auf diesem Ohr sensibili- siert. So wurden um 1920 durch bio- logistisch-sozialdarwinistisch argu- mentierende Wissenschaftler, wie den Psychiater Hoche, Thesen über lebensunwertes Leben verbreitet; und später wurden solche Ideolo- gien in verderblicher Weise benutzt.

Das Dogma

von der Planbarkeit des Lebens Die allgemein anerkannte Tatsache, daß vernünftigerweise menschliches Leben im Rahmen kalkulierbarer Ri- siken geplant werden möge, daß je- doch Spontaneität dabei im ausge- wogenen Verhältnis zum planenden Kalkül stehen muß, wird umgedeutet in das Dogma von der Planbarkeit des Lebens schlechthin.

Was heißt das?

Empfängnis, Zeugung und Schwan- gerschaft sind Prozesse, die in er- ster Linie spontan und kreativ vor sich gehen. Jeder Berater aus der Sterilitätssprechstunde weiß, daß noch so sehr erwünschte und ge- plante Schwangerschaften sich nicht auf Wunsch einstellen. Vor- sätzlich und kalkuliert kann lediglich ein Schwangerschaft durch Kontra- zeption verhindert werden - hier ist der Plan berechtigt. Ebensowenig wie Spontaneität des Lebens in der Empfängnis vorsätzlich planbar ist, ebensowenig ist es die Lebensper- spektive der Frau, die ungeplant ein Kind empfängt.

Das aber ist die Behauptung des Dogmas "was gegen die Bedürfnis- se und Lebensperspektiven der Frau gerichtet ist" (1 ), ist wider den Le- bens-Plan. Weil es wider den Le- bens-Plan der Frau zur Zeit der Emp- fängnis gerichtet ist, deshalb wird es

als "soziale Notlage" deklariert und

fällt der Abtreibung anheim. Natür- lich ist es vollkommen richtig: die einzige Person, die über die Wertig- keit ihrer Lebensperspektive wirk- lich entscheiden kann, ist die Frau allein (Heinrichs 1978) (7). Dabei mu- tet es aber wie eine Spitzfindigkeit

an, ob man dann noch zwischen "ei-

ner Notlage und der ausreichenden Schwere einer Notlage" unterschei- det (Heinrichs 1980) (9).

Entscheidend ist vielmehr folgen- des: das Dogma von der Planbarkeit des Lebens schlägt in dem Argu- ment von der Lebensperspektive der Frau durch. ln den Argumentationen der Dogmatiker (1, 7, 9) hat dann auch das zukünftige Kind keinen Platz: dem Prinzip Hoffnung ist das Lebenslicht ausgeblasen (13). ln dieser Dogmatik haben elementa- re Tatsachen des Lebens keinen Raum mehr; die Grundlagen unserer humanen Weit werden wie Bagatel- len verharmlost, zugedeckt und ver- schleiert. Solche Grundlagen sind: ..,.. vom Augenblick der Befruchtung an (nicht erst ab der achten oder zwölften Schwangerschaftswoche)

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ist der Mensch als Mensch anzu- sprechen. Die moderne Embryologie spricht deshalb nicht mehr davon, daß aus Ei und Embryo ein Mensch wird, sondern die menschliche Indi- vidualität ist bereits am Anfang exi- stent. Das ist das Ergebnis von For- schungen im submikroskopischen Bereich in der Frühschwangerschaft im Hinblick auf Prozesse, die in den Chromosomen, im Stoffwechsel und in der Formgestaltung ablaufen (3).

II> Für die Väter einer Liberalisie- rung und Humanisierung des Abtrei- bungsparagraphen in der Bundesre- publik Anfang der siebziger Jahre (2) war die Schutzbedürftigkeit des un- geborenen Kindes respektive wer- denden Lebens eine Selbstverständ- lichkeit. Darüber, daß ungeborenes Leben immer schützenswert ist, gab es nie eine Diskussion — die Frage war nur: wie ist es am wirkungsvoll- sten zu schützen?

Die Thesen von Amendt (1) und Heinrichs (7, 3) jedoch geben die Schutzbedürftigkeit des werdenden Lebens offensichtlich zugunsten des Lebens-Planes der Frau preis.

So stellt ein auf dem Gebiet der Fa- milienplanung führender deutscher Strafrechtler, Prof. Albin Eser/Tübin- gen, fest: durch die Entscheidung der Schwangeren zum Schwanger- schaftsabbruch wird auch über das Schicksal des Kindes entschieden, es handelt sich nicht mehr um reine Selbstbestimmung, sondern auch um Fremdbestimmung; gibt uns die sogenannte „Unerwünschtheit" des Kindes das Recht, eine Prognose darüber zu treffen, ob es dem „uner- wünschten" Kind lieber wäre, gar nicht zur Welt zu kommen als ein vielleicht schlechtes Leben zu füh- ren (4)?

Diesen Überlegungen Esers fügt sich zwanglos der Grundsatz ein:

echte Freiheit und Selbstverwirkli- chung wird sich niemals durch Ver- nichtung fremden Lebens vollziehen lassen. Wäre Freiheit und Selbstver- wirklichung nur auf Kosten der Exi- stenz des anderen möglich, so schlägt Freiheit in diesem Fall in Willkür um, so daß die Verwirkli- chung des Lebens-Planes kein frei-

heitlicher, sondern ein selbstherrli- cher und willkürlicher Akt ist, womit schließlich nur noch das sogenann- te Recht des Stärkeren gilt. Damit öffnet aber diese Ideologie Tür und Tor für Brutalität und Rücksichtslo- sigkeit gegen das Leben schlecht- hin. Das ist die Konsequenz der Dog- matik, wie sie von Amendt und Hein- richs vertreten wird. Infolge der von Eser gekennzeichneten Fremdbe- stimmung verstößt der Schwanger- schaftsabbruch immer auch gegen die Würde und die Freiheit des Men- schen (Grundgesetz Artikel 1 und 2).

Es ist beängstigend, daß das gegen- über einem kompetenten Fachmann wie Ihnen betont werden muß.

Derartige Verstöße gegen die Men- schenwürde veranlaßten uns zur grundsätzlichen Anfrage an den Prä- sidenten der „pro familia" (August 1979) (11): „Wie stellt sich das Präsi- dium zum Lebensrecht des ungebo- renen Kindes?" Auf diese Anfrage haben wir bis jetzt (Mai 1980) keine Antwort bekommen — es sei denn, die Bestätigung der wahrheitswidri- gen, sozialdarwinistischen und he- donistischen These Amendts (1) durch das Präsidium der „pro fami- lia" wäre diese Antwort gewesen.

Daß auch das Bundesjustizministe- rium die These von der „Lebensper- spektive der Frau" bei der Interpre- tation der sozialen Notlage ange- sichts des Schwangerschaftsab- bruchs für nicht verfassungskon- form hält, eröffnete der parlamenta- rische Staatssekretär Hans de With in der Fragestunde des deutschen Bundestages (17).

Dem Dogma von der Planbarkeit des Lebens entspricht es auch, wenn dem Leser der „Pro familia-Informa- tionen" bei der Ideologisierung des Schwangerschaftsabbruchs der Rücken gestärkt wird durch irrefüh- rende Informationen über Men- schenrechte. So wird von maßgebli- cher Position aus (6) in geschickter Weise ein Sondervotum der Europä- ischen Menschenrechtskommission zitiert, wonach einem „ungeborenen Kind, das noch nicht allein lebensfä- hig ist, keine Freiheiten und Rechte nach der Konvention" zuzuerken- nen seien. Wir meinen damit keines-

wegs, daß einem derartigen Sonder- votum kein Körnchen Wahrheitsge- halt zuzusprechen wäre — vielmehr liegt auch hier wieder eine Halb- wahrheit vor. Entscheidend ist, daß das Präsidium von „pro familia" der- artige Halbwahrheiten verbreitet — die andere Hälfte der Realität jedoch unterdrückt. Auf der gleichen Linie—

nämlich der Verleugnung des Le- bensrechtes des Ungeborenen — liegt es, wenn Vorschläge zur Ver- besserung der Adoptionspraxis in der Bundesrepublik vom Präsidium in keiner ernsthaften Weise aufge- griffen werden, obwohl „pro fami- lia" damit dauernd konfrontiert ist.

(Symp. „p. f." 12. Dezember 1979 in Frankfurt). Denn hier liegt ein funda- mentales Dilemma der modernen Medizin auf der Hand (wozu „pro familia" in diesem Fall verantwort- lich zu zählen ist): Hunderttausen- den von Abtreibungen (potentiell ge- sunder Kinder) stehen Zehntausen- de adoptionswilliger Eltern gegen- über und Zigtausende schwerkran- ker Menschen, die unter zum Teil fragwürdigen Bedingungen mit Hilfe unserer Hochtechnologie künstlich am Leben erhalten werden.

Wir fassen zusammen:

11> durch das Dogma von der Plan- barkeit des Lebens („Lebensper- spektive der Frau") werden elemen- tare Tatsachen der Humanmedizin und die unter den allgemeinen Men- schenrechten zum Ausdruck kom- menden Grundwerte verleugnet.

Das Leben wie auch die Freiheit des Menschen werden damit zerstört.

Die Suspendierung (Auflösung) des Prinzips Verantwortung Das jüngst durch Hans Jonas in sei- nem „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation" (10) für unsere modernen Probleme be- schriebene Prinzip Verantwortung wird durch Aktionen und Verlautba-

rungen des Präsidiums von „pro fa- milia" in entscheidenden Punkten untergraben. Verantwortung läßt sich verkürzt so beschreiben: der einzelne (als Berater, Therapeut oder Arzt) ist für seine Handlungen unmittelbar seiner Beziehungsper-

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son und dem zur Rede stehenden Thema die Antwort schuldig, in der Ver-Antwortung. Aus dieser Ver-Ant- wortung und Verpflichtung einer- seits gegenüber dem individuellen Schicksal seines Klienten oder Pa- tienten und andererseits gegenüber dem Thema (Sexualität, Kontrazep- tion, Schwangerschaft und ungebo- renes Leben) kann er durch keine Dogmen, Vorschriften, Gesetze ge- löst werden. Heute ergibt sich aus dieser doppelten Verantwortung für den Berater nicht selten ein tiefgrei- fender Konflikt, speziell wenn es um die 218-Beratung und die Indika- tionsstellung geht. Dabei kommen überpersönliche Grundwerte des Menschen ins Spiel, die im Kampf mit der individuellen Situation des Klienten stehen.

Der Berater muß heute die Last und Bürde dieses Konfliktes aushalten. Dem Berater in dieser Situation der vordersten Linie läßt sich u. a. da- durch helfen, daß er möglichst viele Trainingsmöglichkeiten und Sachin- formationen über die realen Grund- lagen dieses Konfliktes erhält. Durch Schulung der Berater im Hinblick auf vertiefte Kommunikation (tiefen- psychologisch, verhaltenstherapeu- tisch) wird hierzu Hilfe gegeben.

~ Hingegen wird die Schulung im Hinblick auf die vorgeburtliche (prä- natale) Existenz des Menschen und die damit zusammenhängenden psychologischen, ethischen, em- bryologischen, juristischen und an- thropologischen Probleme durch das Präsidium der "pro familia" ver- schleiert oder einseitig behandelt. in bezugauf die pränatale Existenz des Menschen wird das Prinzip Verant- wortung nach unseren Beobachtun- gen suspendiert:

~ durch Wertneutralismus

~ durch Hedonismus

~ durch Juridisierung (Legalis- mus).

Wertneutralismus drückt sich etwa in der Meinung aus, der Berater und Arzt übernehme von sich aus bei der 218-Praxis keinerlei Verantwortung, weder für die schwangere Frau und ihr Schicksal noch für ihr Kind. Die

Verantwortung trage allein die Frau, und einziges Ziel der Beratung (ggf.

des Schwangerschaftsabbruchs) sei es, der Frau zu einer von ihr voll bewußt zu verantwortenden Ent- scheidung zu verhelfen. Irgendwel- che überpersönlichen Werte (Leben des Kindes, Entfaltungsmöglichkeit der Frau) sind für den Berater als solche belanglos; sie werden nur dann belangvoll, wenn die Frau be- wußter Träger dieser Werte ist, wenn sie ihre entsprechenden Wünsche und Bedürfnisse anmeldet (zum Bei- spiel die Schwangerschaft auszutra- gen oder den Wunsch, ihren Beruf zu vervollkommnen). Abgesehen da-

von, daß das Prinzip Verantwortung

hier durch Wertneutralismus ratio- nalisiert und abgeschoben wird, ver- kennt diese Haltung die Drucksitua- tion der schwangeren Frau: in ihrem gegenwärtigen Engpaß kann die Frau nur nach einem einzigen Wert, nämlich nach dem Wert ihres per- sönlichen Lebens sehen; dagegen ist ihr der Blick auf den Wert des zukünftigen Lebens, ihres ungebo- renen Kindes, verbaut, obwohl es objektiv als Wert vorhanden ist. Al- lein schon aus diesem Grunde ist der Berater in der Ver-Antwortung gegenüber dem Wert des ungebore- nen Lebens.

Hedonismus (hedene = griechisch die Lust) als Prinzip wird deutlich, wenn das glückliche Leben der Frau (1) als einziger Wert anerkannt wird.

Oder wenn Sexualität allein als kör- perliches, seelisches und soziales Glück in der Partnerschaft definiert wird (14 a), wobei noch ein positivi- stischer Ansatz die Grundlage her- gibt. Der Hedonismus verleugnet die andere Seite des Lebens: auch beim Kinderkriegen, in der Kindererzie- hung und in der Geschlechterbe- gegnung gehören Leid, Not und Schmerz als Lebensqualität mit zum menschlichen Dasein. Der Hedonis- mus möchte Schmerz und Leiden ausmerzen, ausradieren, abtöten und abtreiben -, aber nicht durch Überwinden und Aushalten zu ei- nem vertieften Lebensgefühl stei- gern. Erich Fromm hat den irreal- utopistischen Charakter des Hedo- nismus in seinen Büchern (5, 5 a) demaskiert.

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Juridisierung und Legalismus ver- deckt reale Konflikte durch Ver- rechtlichung, juristische Bürokrati- sierung und spitzfindige Definitio-

nen. Statt die wirklichen Grundwerte

beim Namen zu nennen, die beim Abtreibungsproblem zur Frage ste-

hen, werden formale Gedankenspie-

la um die Definition von Selbstbe- stimmung und Notlagenindikation getrieben (Heinrichs) (7, 9}, obwohl jedermann weiß, daß die Indikatio- nen inzwischen eine reine Farce sind: sie werden als Deckmantel und Vorwand für eine ganz anders be- gründete und motivierte Entschei- dung gebraucht. Der Eiertanz um die Indikation beim § 218 ist eine bequeme und sichere Methode, den wirklichen Problemen aus dem We- ge zu gehen. An zwei Beispielen möchten wir zeigen, wie das Präsi- dium der "pro familia" in den letzten Jahren das Prinzip Verantwortung ausgehöhlt hat.

Anonymisierung und Mechanisierung

des Schwangerschaftsabbruches Im Präsidium der "pro familia" be- stehen Pläne, die Letzt-Verantwort- lichkeit des Arztes, der den Schwan- gerschaftsabbruch vornimmt, aufzu- lösen. Man möchte ein Rechtsgut- achten ausarbeiten lassen, in dem festgestellt wird, daß der operieren- de Arzt nicht voll verantwortlich sei für seine Handlung und die in der Indikation liegende Begründung des operativen Eingriffs - er könne die Verantwortung zum guten Teil oder ganz auf den die Indikation stellen- den Arzt delegieren. Sie möchten al- so seine Verantwortlichkeit lediglich auf die technisch korrekte Ausfüh- rung des Abbruchs einschränken.

Nicht nur daß der operierende Arzt damit zu einer Art Erfüllungsgehilfe eines anderen wird, entscheidender

ist: mit diesem Denken wird der Arzt

zur Verantwortungslosigkeit erzo- gen, die persönliche Verantwortlich- keit für seine Handlungen wird zer- stört (Retzlaff) (16).

Verschleierung der 218-Wirklichkeit Das Präsidium weigert sich, in den üblichen Statistiken zum Jahresbe-

(5)

richt aufzuführen, wie häufig in den Beratungsstellen von „pro familia"

eine Indikation zum Schwanger- schaftsabbruch gestellt und wie oft die Indikation abgelehnt wurde. Als Begründung wird angegeben: Man befürchte nachteilige politische Rückwirkungen. Das Präsidium wei- gert sich damit, in der Öffentlichkeit für Handlungen die Verantwortung zu übernehmen, die mit seinem Wis- sen und seiner Billigung innerhalb von „pro familia" ausgeführt wer- den.

Abgesehen von der Verantwortungs- losigkeit, die hier vom Präsidium praktiziert wird, ist es in anderen Ländern (so der Schweiz) üblich, daß die Beratungsstellen in ihrer Jahresstatistik diese Zahlen be-

kanntgeben. Es ist letztlich auch gar nicht einzusehen, welche Nachteile

„pro familia" damit haben sollte.

Daß zu „pro familia" überwiegend solche Frauen kommen, die ohnehin fest zum Abbruch der Schwanger- schaft entschlossen sind, hat sich inzwischen in Deutschland herum- gesprochen. Warum will man das Faktum der Spontanselektion durch die Klientel nicht auch in Zahlen be- kanntgeben? Wenn die Zahlen bei den Beratungsstellen konfessionel- ler Träger anders aussehen als bei

„pro familia", so weiß jeder Vernünf- tige, daß dies ein Produkt des Wech- selspiels von Selektion durch die Klientel einerseits und andererseits der Werthaltung der Berater ist — und keineswegs nur auf die Werthal- tung der Berater zurückzuführen sein muß.

Schlußbemerkung

Schwangerschaftsabbruch zu ideologisieren — so wie Sie und das Präsidium von „pro familia" es tun — verdrängt das Konfliktbewußtsein, das es vielmehr wachzuhalten gilt.

Die Ideologien haben ihre eigenge- setzliche Dynamik — das haben wir Deutsche allzu deutlich erfahren:

wenn es ursprünglich notdürftige Rechtfertigungen und Notlügen wa- ren, so sind es zum Schluß geltende Gesetze und Vorschriften, nach de- nen Menschen umgebracht werden.

Die Dogmatisierung der Familien-

planung — durch die unheilige Al- lianz von Wunschkinderthese, Le- bensplandogma, Hedonismus und Verantwortungslosigkeit — muß not- wendigerweise die politische Recht- fertigung von „pro familia" in Frage stellen. Dann wird aus einem not- wendigen Übel — dem Schwanger- schaftsabbruch —, das immer mit Schuld und Grausamkeit belastet ist, mit Hilfe einer zudeckenden Ideologie eine Lebenslüge.

(i)

Angesichts dieser Lebenslüge fragen wir das Präsidium nach sei- ner politischen Verantwortung: un- seres Wissens werden pro Jahr eini- ge Millionen Steuergelder von „pro familia" entgegengenommen. Und weiter: ist das Familienministerium gut beraten, dem Bundesverband

„pro familia" Gelder zukommen zu lassen, der durch seine Ideologie die Grundlagen von Familienverantwor- tung überhaupt zerstört?

(1)

Ist „pro familia" mit seinem spe- zialistischen Angebot von Sexualbe- ratung/Sexualpädagogik und Fami- lienplanung heute politisch über- haupt noch notwendig? Ist das kürz- lich aus der Taufe gehobene Modell- projekt über Kontrazeption, wofür von der Bundesregierung rund 20 Millionen DM gefordert werden, überhaupt noch zeitgemäß? Kontra- zeption, Sexualpädagogik und Se- xualmedizin gehört inzwischen zum Routineunterricht an den deutschen Fachhochschulen und Universitä- ten, wie die Lehrpläne an den Hoch- schulen zeigen und wie sich in der einschlägigen Fachliteratur nachle- sen läßt (siehe Lehrbücher für Psychiatrie, Gynäkologie). Die jün- gere Generation von Ärzten, Psycho- logen und Sozialarbeitern ist darin nicht schlechter ausgebildet als in irgendeinem anderen Fach ihres Be- rufes. „pro familia" hat ihre Pionier- arbeit geleistet, und es wäre an der Zeit, sich zu integrieren, zum Bei- spiel integrierte Familienberatungs- stellen einzurichten, statt eine weite- re Spezialisierung hochzuzüchten, wie es das Modellprojekt anzielt.

Durch Spezialisierung wird nur ein Isolationismus gefördert, der dann schließlich auch zur Dogmenbil- dung führen muß, wie es jetzt ja lei- der der Fall ist.

Statt die spezialistische „pro fami- lia" zu fördern, sollten die öffentli- chen Geldgeber lieber integrierte Familienberatungsstellen unterstüt- zen, in denen neben Beratung für Kontrazeption, Schwangerschafts- konflikt und Sexualität alle mögli- chen Beratungen, Seminare, Kurse, Behandlungen und Aktivitäten zur Familienhilfe und Familienbildung laufen, bis hin zur halbstationären oder stationären Betreuung sozial hilfloser Menschen (nicht jedoch psychiatrischer Patienten). Bei die- ser Reorganisation der gesamten Familienplanungsdienste würde kein einziger der gegenwärtigen Mit- arbeiter von „pro familia" arbeitslos

— im Gegenteil, es würden mehr Mit- arbeiter gebraucht.

Das isolationistische Ausscheren von „pro familia" aus einer konzer- tierten Familienpolitik scheint uns der tiefere Grund für die gegenwärti- ge dogmatische Sackgasse von „pro familia" zu sein. Wenn international bekannte Pioniere der deutschen Familienplanung wie Frau Dr. Ilse Brandt/Berlin, Prof. Dr. Kepp/Gießen, Dr. A. Baunach/Frankfurt der Gesell- schaft „pro familia" den Rücken kehren, so wird dadurch der Verlust an integrativer Kraft von „pro fami- lia" nur noch unterstrichen.

Nachsatz: Bezugnehmend auf die jüngsten Ereignisse distanzieren wir uns nachdrücklich von jeder Form von Gewalt und Diffamierung ge- genüber „pro familia"; wir unter- streichen zugleich nochmals, daß unser Brief gegen den Präsidenten und bestimmte Tendenzen in „p. f.", nicht aber gegen „p. f." insgesamt gerichtet ist.

Literatur beim Sonderdruck

Anschriften der Verfasser:

Prof. Dr. med. Peter Petersen Medizinische Hochschule Hannover Pasteurallee 5

3000 Hannover 51

Dr. med. Ingeborg Retzlaff Frauenärztin

Königstraße 77 2400 Lübeck

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