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Archiv "Offene Briefe „Pro familia“ / Vilmar" (02.08.1979)

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„Pro familia" und der § 218

Offene Briefe „Pro familia" / Vilmar

gestellt und der Eingriff vorge- nommen wird) prophetische Ga- ben besitzen müssen, um solche Perspektiven beurteilen zu können

— mit dem § 218 StGB, so wie er existiert, haben solche Kriterien überhaupt nichts zu tun. Dieser stellt immer noch auf eine Notlage der Frau (die zudem einen medizi- nischen Bezug haben muß) ab. Im übrigen: Solche Berater und Indi- kationssteller, die nach selbstge- fundenen Maßstäben über „er- wünscht" oder „unerwünscht"

entscheiden, geraten in bedenkli- che Nähe zu jenen, die über Wert und Unwert menschlichen Lebens hierzulande einmal entschieden haben. Die Bremer hören diesen Vorwurf nicht gern wie der nach- stehend dokumentierte Brief- wechsel zwischen „Pro familia"

und Vilmar ausweist —; sie werden ihn sich gefallen lassen müssen.

Und die „Pro familia" im Bundes- gebiet wird sich fragen lassen müssen, inwieweit sie sich mit Bremer Vorstellungen identifiziert und ob sie wirklich bundesweit und endgültig in den Geruch gera- ten will, eine Organisation zu sein, in der das Abtreiben besonders reibungslos klappt. Das medizini- sche Komitee der „Pro familia"

argwöhnt ohnehin: „Zum Teil wird die Pro familia mißbraucht, Schwangerschaftsabbrüchen ei- nen legalen Charakter zu verlei- hen." Die „Pro familia" gerät um so mehr in einen solchen Ver- dacht, als sie sich von ihrer ur- sprünglichen Aufgabe, der Bera- tung über Empfängnisverhütung abwendet, und den Schwanger- schaftsabbruch professionell be- treibt.

Die Bremer freilich sehen das an- ders: „Als Beratungsinstanz ver- hält sich Pro familia konsequent, wenn sie in Fällen fehlgeschlage- ner Empfängnisverhütung Frauen durch einen technisch-medizi- nisch einwandfreien Schwanger- schaftsabbruch und eine humane Behandlung hilft", heißt es in einer Stellungnahme. Diese Auffassung ist nicht nur contra familiam, son- dern auch contra legem. NJ

Pro familia:

Hilfeleistung bei unerwünschten Schwangerschaften

In einem Interview mit Radio Bre- men am 20. und 23. Juni 1979 äu- ßerten Sie Ihr Befremden darüber, daß drei Jahre nach Inkrafttreten des novellierten § 218 StGB 67 Prozent aller legalen Schwanger- schaftsabbrüche aufgrund einer sozialen Notlagenindikation ge- schehen. Sie stellen die Frage, wo denn unser Wohlstand sei, und ob es denn tatsächlich so viel Elend gebe, daß so viele soziale Not- lagenindikationen gerechtfertigt seien.

Daß aus der Sicht des höchsten Funktionärs der Ärzteschaft die sinnliche Anschauung von Not und Elend eingeschränkt ist, dafür gibt es viele Erklärungen.

Daß Patienten im Durchschnitt nicht mehr als fünf Minuten in den Praxen der niedergelassenen Ärz- te verweilen, dürfte das ärztliche Verständnis für die sozialen und psychischen Probleme kranker Menschen und ihrer Leiden nicht gerade fördern. Daß ländliche Re- gionen und Industriegebiete wie das Ruhrgebiet fachärztlich unter- versorgt sind, weil nur wenige Ärz- te dort arbeiten wollen, trägt si- cher ebenfalls zum Unverständnis über die klassenmäßige Verteilung des gesellschaftlich produzierten Wohlstands bei.

Die Lebenswelt, aus der Ärzte ihre Wagen vorzugsweise in eine zen- tral gelegene städtische Praxis lenken, hat nur wenig Ähnlichkeit mit den Industrielandschaften und Siedlungen, in denen die Mehrheit der kranken Versicherten lebt.

Die soziale Notlage im Sinne des

§ 218 allein auf zu geringes Ein- kommen zu reduzieren ist selbst wieder realitäts- und problem- blind. Als soziale Notlage muß al-

les gelten, was gegen die Bedürf- nisse und Lebensperspektive der Frauen gerichtet ist und sie ge- fährdet. Dieser Freiraum wurde durch die Neufassung des § 218 StGB ausdrücklich geschaffen. Als soziale Notlage muß weiterhin al- les gelten, was einer gesicherten Zukunft und emotional schützen- den Erziehung von Kindern entge- gensteht.

Das Abtreibungsverbot kann Frau- en in Einzelfällen zur Austragung der unerwünschten Schwanger- schaften zwingen, aber nie zu- gleich zu einer emotional schüt- zenden Kindererziehung.

Diese Überlegungen zeigen, daß das kleinunternehmerische Pro- blembewußtsein der Ärzte, wie vor allem auch ihr bislang vorherr- schendes naturwissenschaftlich- medikamentöses Krankheitsver- ständnis ihnen jedes Recht nimmt, über Austragung oder Abbruch ei- ner Schwangerschaft zu entschei- den — wenn es überhaupt eine Rechtfertigung dafür gibt, über Lebensperspektiven und Schick- sal fremder Menschen durch Fest- legung ihrer Kinderzahl zu ver- fügen.

Daß die Zahl der Schwanger- schaftsabbrüche aufgrund sozia- ler Notlagen seit dem Inkrafttreten des geänderten Gesetzes ständig steigt, ist ein sichtbares Zeichen dafür, daß ein wachsender Teil der Ärzteschaft im Umgang mit dem staatlich zugewiesenen Entschei- dungsmonopol über die Lebens- perspektiven fremder Menschen immer vorsichtiger umgeht. Sie entscheiden nicht nach den ab- strakten Interessen am Bevölke- rungswachstum, sondern an den konkreten Bedürfnissen und Le- benssituationen der Frauen und ihrer Partner. Dieses Verhalten be- wegt sich im Rahmen der gesetzli- chen Möglichkeiten für die Indika- tionsstellung, und es ist verfas- sungswidrig und nur als politi- scher Einschüchterungsversuch zu verstehen, wenn Sie diesen Ärz-

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ten Töten von Leben vorwerfen.

Gerade auch vor dem Hintergrund einer von faschistischen Interes- sen und Politiken geführten Stan- despolitik und Medikamentenfor- schung im Dritten Reich ist es be- ruhigend zu wissen, daß der Teil der Ärzteschaft wächst, der in sehr weitgehender Form auch die Ver- antwortung für die sozialen Kon- sequenzen ärztlichen Handeins akzeptiert.

Pro familia arbeitet mit Ärzten zu- sammen, die Frauen in der Notla- ge einer unerwünschten Schwan- gerschaft helfen. Diese Ärzte han- deln im Bewußtsein der Voraus- setzungen, unter denen eine gelin- gende Kindererziehung möglich ist.

Es gibt zahlreiche - bezeichnen- derweise ausländische - Untersu- chungen über die psychischen und sozialen Beeinträchtigungen, denen unerwünschte Kinder aus- gesetzt sind: Diese Kinder haben es in der Regel nicht nur schwerer, sie sind öfter krank als gewünsch- te Kinder; nicht wenige sind in ih- rer psychischen Entwicklung be- einträchtigt, viele werden in die Kriminalität getrieben oder in an- derer Form sozial auffällig und ge- raten damit in die Heimerziehung. Wissenschaftliche Untersuchun- gen lassen auch keinen Zweifel daran, daß die erzwungene Aus- tragung von Schwangerschaften sowohl für die unerwünscht zur Weit gebrachten Kinder wie ihre Eitern und letztlich auch für die Gesellschaft nachteilig ist.

Allein eine berufspolitische Per- spektive, welche die Horizonte ärztlicher Berufsausübung auf ih- re Konsequenzen hin überprüft, macht die Forderung nach dem Schutz des ungeborenen Lebens gleichzeitig auch zur Forderung einer gesicherten Erziehungs- und Lebensperspektive für die gebore- nen Kinder. Wer den Schutz des werdenden Lebens ohne die Zu- kunft des geborenen Lebens pro- pagiert, setzt sich dem historisch begründeten Verdacht aus, nicht

Schwangerschaftsabbruch auch ohne Vorliegen einer Indi- kation straffrei ist, werden von Ärzten oder Schwangerschafts- abbruchkliniken Schreiben an deutsche Ärzte gerichtet, in de- nen indirekt für die Vermitt- lung von Schwangeren, die ei- nen Schwangerschaftsabbruch durchführen wollen, geworben wird. Dabei geht aus sol- chen Schreiben hervor, daß der Schwangerschaftsabbruch auch dann durchgeführt wird, wenn er nach deutschem Recht nicht zulässig wäre.

Eine Staatsanwaltschaft hat die Bundesärztekammer darauf aufmerksam gemacht, daß ein Arzt, der auf Grund solcher Werbeschreiben Schwangere, bei denen die Voraussetzungen für einen legalen Schwanger- schaftsabbruch nach deut- schem Recht nicht vorliegen, an solche Stellen vermittelt, sich der strafbaren Beihilfe zur Fremdabtreibung nach § 218 Absatz 1 in Verbindung mit§ 27

am Leben des einzelnen interes- siert zu sein, sondern allein am Wachsen der Bevölkerungszahlen.

Diese Moral ohne soziale Verbind-· lichkeit ging in der Vergangenheit auch immer zu Lasten der Arbei- terklasse und sozialer Rand- gruppen.

ln Ihrem Interview demonstrieren Sie beispielhaft eine Form ärztli- cher Berufsbornierung, die den Blick nicht über den Rezeptblock streifen läßt, die zur Vernachlässi- gung sozialer und psychischer Ur- sachen bei der Entstehung von Krankheiten führt, die die Bereit- schaft zur Vorsorge untergräbt, das Arzt-Patient-Verhältnis autori- tär strukturiert, veraltete Krank- heitsbegriffe zementiert und letzt- lich das mit den Mitteln der Versi- cherten finanzierte gesundheitli- che Versorgungssystem ineffizient und inhuman macht.

Wir halten es deshalb auch nicht für einen Zufall, daß Sie der Jour- nalistin von Radio Bremen auf die

ren belegt werden kann. Nach § 5 Absatz 9 StGB gilt das deutsche Strafrecht unabhän- gig vom Recht des Tatortes auch für einen im Ausland durchgeführten Schwanger- schaftsabbruch, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat. Täter ist in diesem Falle die Schwangere.

Vermittelt ein Arzt in einem sol- chen Falle eine geeignete Adresse im Ausland, so liegt ei- ne Beihilfe zur Straftat der Schwangeren nach § 27 Ab- satz 1 StGB vor.

.... Den Ärzten muß daher drin- gend abgeraten werden, Wer- beschreiben ausländischer Ärz- te oder ausländischer Schwan- gerschaftsabbruchkliniken zum Anlaß zu nehmen, die angege- benen Adressen an Schwange- re, bei denen die Voraussetzun- gen eines legalen Schwanger- schaftsabbruchs nach deut- schem Strafrecht nicht vorlie- gen, weiterzuvermitteln. RH

Frage nach der Verwendung von Prostaglandinen für den Schwan- gerschaftsabbruch keine Antwort geben konnten. Prostaglandine werden zur Zeit in der Bundesre- publik in Forschungsserien der Pharmaindustrie getestet. Wäh- rend sie im Ausland nur in weni- gen Fällen bei fortgeschrittenen Schwangerschaften nach der 14.

Woche verwendet werden, sollen sie in der Bundesrepublik die be- währte chirurgische Absaugme- thode für den Schwangerschafts- abbruch ersetzen. Wir haben für die Pro familia in der Öffentlichkeit bereits vor längerer Zeit darauf hingewiesen, daß der Schwanger- schaftsabbruch nicht als rein me- dizinisches Problem gesehen wer- den darf, sondern als ein Vorgang, der die Frauen als Menschen und nicht als Krankenscheine respek- tieren muß. Wir lehnen die Pro- staglandinabtreibung wie auch andere ausländische Fachverbän- de der Familienplanung ab, weil wir es für inhuman und unverant- wortlich halten, wenn der Abbruch

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„Pro familia" und der § 218

von Erbrechen, Schwindelgefüh- len und Übelkeit sowie wehenarti- gen Schmerzen über viele Stun- den begleitet wird. Der Verzicht auf schonende Methoden soll of- fensichtlich die Frauen für ihre Entscheidung bestrafen.

Pro familia Bremen vertritt die Auffassung, daß die Konkurrenz der Pharmaindustrie um den

„Schwangerschaftsabbruch- markt" im Interesse der Frauen durch eine noch zu schaffende ärztliche Befähigung zur kompe- tenten Anwendung der Absaug- methode ausgeschaltet werden muß. Daß der Präsident der Ärzte- schaft zu dieser für viele Frauen wichtigen gesundheitspolitischen Frage nichts zu sagen hat, weil das in seinem Arbeitsbereich der Un- fallchirurgie nicht zur Diskussion steht, halten wir für den Ausdruck einer unvertretbaren Ausgrenzung menschlicher Belange aus der Hu- manmedizin.

Daß Sie andererseits humane Me- diziner diskriminieren, die in Zu- sammenarbeit mit Familienpla- nungseinrichtungen Empfängnis- verhütung betreiben und bei un- erwünschten Schwangerschaften Hilfe leisten, werten wir als Ver- such, die bewährte gemeinsame Arbeit verschiedener Berufe in den Beratungsstellen der Pro familia aufzubrechen. Wir sehen hierin die Einleitung einer Kampagne, mit der die Beschlüsse der Bun- desarbeitstagung der Pro familia zu den Perspektiven des Verban- des hintertrieben werden sollen.

Mit diesen Beschlüssen wurde fast einstimmig das Bremer Konzept der integrierten Familienplanung und Sexualpädagogik angenom- men, das ausdrücklich den Schwangerschaftsabbruch als Be- standteil der Beratungskonzeption versteht. Alle Landesverbände wurden durch Beschluß aufgefor- dert zu prüfen, ob diese Konzep- tion bundesweit zu verwirklichen ist.

Die Beschlüsse des Ärztetages stehen im Widerspruch zu den Perspektiven der Pro familia. Daß

der Arztetag auch hier sich gegen international erprobte Tendenzen der Familienplanung stellt, sei nur am Rande vermerkt.

Ein weiterer Punkt Ihrer Argumen- tation erscheint uns mehr als er- staunlich. Sie rücken die Arbeit der Pro familia in die Nähe faschi- stischer Denkweise und Tradition.

Nun könnten wir Ihnen zugute hal- ten, daß ein Präsident der Bundes- ärzteschaft, der die wichtige und öffentlich geführte Diskussion über Prostaglandine nicht kennt, auch die jüngste Geschichte und Vergangenheit nicht kennt und begreift, gewissermaßen durch Unkenntnis entschuldigt ist.

Vielleicht ist es aber auch Ihre Hoffnung, daß ein ganzes Volk — trotz Holocaust — seine Geschichte vergißt und der jeweilige Gegner deshalb um so besser beliebig in die Nähe des Faschismus gerückt werden kann, um ihn endgültig — wenigstens verbal — zu liquidieren.

Auseinandersetzung mit faschistischer Denkweise Die Arbeit der Pro familia steht, um das allgemein Bekannte für Sie noch einmal richtigzustellen, in der Tradition der Weimarer Repu- blik der ersten deutschen Demo- kratie. In diese Zeit, die auch die verfassungsmäßige Gleichberech- tigung der Frau herzustellen be- ginnt, fallen die systematischen Versuche, eine umfassende Se- xualaufklärung auch für die Arbei- ter durchzusetzen. In dieser Zeit beginnen die von der Pro familia wiederaufgenommenen Versuche zur Verbreitung von Verhütungs- wissen. Die Weimarer Republik er- lebte die Gründung von Verbän- den für Geburtenkontrolle, die Verhütungsmittel endlich den Un- terprivilegierten zugänglich mach- ten. In den großen Städten wurden Abbruchkliniken eröffnet, wäh- rend mobile Ambulatorien weniger besiedelte Gebiete versorgten.

1932 gab es 15 Organisationen — mit 113 000 Mitgliedern — für die

Geburtenkontrolle, von denen die wichtigsten die „Liga für Mutter- schutz und soziale Familienhygie- ne" mit 27 000 Mitgliedern und der

„Reichsverband für Geburtenre- gelung und Sexualhygiene" mit 20 000 Mitgliedern waren. Die Ge- burtenkontrolle war nach heftigen Auseinandersetzungen ein akzep- tiertes Mittel in der Weimarer Re- publik geworden. Zwar erfuhr der

§ 218 im Jahre 1926 nur eine un- wesentliche Änderung, aber der Abbruch wurde überall geduldet.

Das Nazi-Regime, mit dem Sie uns so beliebig und willkürlich identifi- zieren wollen, brach abrupt mit dieser demokratischen Entwick- lung. Ab 1933 finden wir jene Me- thoden in Vollendung, die Sie wie- derum in Ansätzen empfehlen und in angeblich humaner Absicht dis- kutieren: In der NS-Zeit wurde jede Schwangerschaftsunterbre- chung als schwere kriminelle Ver- fehlung geahndet. Gleichzeitig wurde die kinderlose gebildete Frau als Entartung angeprangert, die Alkohol trank und Zigaretten rauchte. Man beschwor das Leit- bild der sparsamen Hausfrau, der aufopfernden Mutter und stillen Dulderin für Familie und Nation.

„Es ist die größte Idee des Natio- nalsozialismus, daß die Frauen zu- rückgeführt werden sollen zu Heim und Herd, wo sie dem Mann durch ihre Liebe und Sorglichkeit die Basis zum Schaffen bereiten", so Martha Goebbels. Joseph Goebbels ergänzte: „Die Frauen sollen ihrem Land und Volk Kinder schenken, Kinder, die Geschlech- terfolgen fortsetzen und die Un- sterblichkeit der Nation ver- bürgen."

Die faschistische Polizei schloß die Zentren für Geburtenkontrolle.

§ 184 Abs. 3a StGB kam wieder in seiner restriktivsten Auslegung zum Zuge, in der alle Verhütungs- mittel als Pornographie charakte- risiert wurden. Nur noch autori- sierte Ärzte konnten Verhütungs- mittel ausgeben oder einen Ab- bruch vornehmen. Andere Ärzte, die den Frauen halfen, wurden mit schweren Strafen bis hin zur To-

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desstrafe bedroht. Schon die An- kündigung oder die Empfehlung eines Abbruchs wurde mit zwei Jahren Gefängnis bestraft. Jede Fehlgeburt vor der 32. Woche mußte dem Amtsarzt gemeldet und vorgelegt werden. Die Ab- bruchspraxis selbst wurde effektiv strafrechtlich verfolgt. Allein im Jahre 1937 bis 1938 schnellte die Zahl der gerichtlich verurteilten Frauen um mehr als 50 Prozent in die Höhe.

Sogar die Zwangsbegattung wur- de für die Frauen diskutiert, die trotz Strafandrohung in der Verhü- tungspraxis erfolgreich waren. Es entstand das Modell „Lebens- born" als die vollkommene Funk- tionalisierung des weiblichen Kör- pers — die totale Aufhebung indivi- dueller Entscheidung. Das Ergeb- nis dieser brutalen Politik war, daß vor allem das individuelle Leid der Frauen verstärkt wurde. Gleichzei- tig leisteten sie aber Widerstand gegen diese Funktionalisierung ih- rer Körper für Bevölkerungs- wachstum und bestanden darauf, daß der Kinderwunsch einer auto- nomen Entscheidung unterliegt.

Auch der Nationalsozialismus konnte — trotz aller Repressionen — jedoch nur einen kurzfristigen Ge- burtenanstieg erreichen, und selbst dieser Anstieg verliert viel von seinem nationalsozialisti- schen Glanz: er blieb unter der Durchschnittshöhe der Jahre 1922 bis 1926 der Weimarer Zeit.

In einem Punkt war der National- sozialismus allerdings erfolgreich:

in der vollkommenen Tabuisie- rung der Sexualaufklärung — ein Phänomen, gegen das die Pro fa- milia heute unter gewandelten Be- dingungen abermals kämpft. Die- se Unkenntnis von Verhütungs- wissen wurde in jedem einzelnen tradiert. Sie ist die Voraussetzung, die den Schwangerschaftsab- bruch erst nötig macht. Diese Un- kenntnis ist vor allem auch bei vie- len Ärzten zu finden, die nicht in der Lage sind, umfassende und geeignete Empfängnisverhü- tungsberatung durchzuführen.

Nicht zufällig muß die Bundesre- gierung auf ausländische Exper- ten zurückgreifen, wenn die §-218- Kommission des Bundesministe- riums für Jugend, Familie und Ge- sundheit angemessen beraten sein soll. In New York konnte sie diesen Experten finden. Es ist Dr.

Hans Lehfeldt, ein Arzt, der in der Weimarer Zeit in Berlin eine gynä- kologische Medizin im Interesse der Frauen betrieb. Der National- sozialismus vertrieb ihn, wie viele der fortschrittlichsten Ärzte. Heute sieht er wieder eine Chance, Deutschland zu besuchen. Es ist kein Zufall, daß er die Pro familia berät, die eben an jene demokrati- sche Tradition anknüpft, die er einst in Deutschland mitbegrün- dete.

Ihre Polemik gegen eine konse- quente Familienpolitik, der sich auch Pro familia verpflichtet weiß, könnte ein Klima erzeugen, in dem Ärzte wie Dr. Lehfeldt erneut zur

Emigration gezwungen werden.

Wenn Ihre Bemerkungen in Radio Bremen der Auftakt für eine Kam- pagne zur weiteren Beschränkung des Schwangerschaftsabbruchs von standespolitischer Seite der Ärzteschaft sein sollte, dann wol- len wir bereits jetzt die historische Tatsache in Erinnerung bringen, daß staatliche Unterdrückung von Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbruch lang- fristig ihr bevölkerungspolitisches Ziel nie erreichen konnte. Die menschenverachtende, faschisti- sche und stalinistische Politik hat- te immer nur kurzfristige Erfolge, die so lange anhielten, bis die Menschen sich dagegen zu weh- ren begannen und auf andere Verhütungsmethoden auswichen.

Die strafrechtliche Bearbeitung des Bevölkerungsproblems führt in die Irre totalitärer Überwa- chung.

Deutsche Gesellschaft für Sexual- beratung und Familienplanung — Landesverband Bremen e. V.

Prof. Dr. phil. Gerhard Amendt Dr. phil. Barbara Knieper Dr. med. H. Cramer

Vilmar: Soziale Notlagen lassen sich durch Tötung von Leben nicht beheben

Ihr offener Brief vom 4. Juli 1979 an mich ist am 10. Juli 1979 bei mir eingegangen. Es ist zunächst er- schütternd festzustellen, daß eine

„Gesellschaft", die vorgibt, sich wie Pro familia der Sexualbera- tung und Familienplanung ver- schrieben zu haben, offensichtlich keinerlei Verständnis für Präven- tion hat. Sonst müßte auch für Sie die Tatsache, daß drei Jahre nach Inkrafttreten des novellierten § 218 des Strafgesetzbuches 67 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer „Notlagenindika- tion" erfolgen, zu anderen Überle- gungen führen, als sie aus Ihrem umfangreichen Schreiben für je- den unvoreingenommenen Bürger zu erkennen sind.

Meine Äußerungen in dem Inter- view mit Radio Bremen bewegten sich auf dem Boden der frei- heitlich-demokratischen Grund- ordnung der Bundesrepublik Deutschland, der in ihr geltenden Gesetze und der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes. Da- nach gibt es auch nach der Neu- fassung des § 218 des Strafgesetz- buches kein Recht auf Abtreibung.

Der Schwangerschaftsabbruch ist vielmehr lediglich unter genau de- finierten Kriterien in bestimmten Fällen straffrei geworden, wäh- rend er in allen anderen nicht be- gründeten Fällen weiterhin unter der Strafandrohung des Strafge- setzes steht.

Die Tatsache, daß in unserer Über- fluß-Gesellschaft 67 Prozent aller legalen Schwangerschaftsabbrü- che aufgrund einer „sozialen Not- lagenindikation" vorgenommen werden, muß also wohl für jeden unvoreingenommen Denkenden mindestens die Überlegungen auslösen, daß entweder nicht alle vom Gesetzgeber ausdrücklich gewünschten flankierenden Maß- nahmen hinreichend genutzt wer- den, um diese soziale Notlage ab-

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„Pro familia" und der § 218

zuwenden, wenn nicht gar von vornherein zu verhindern, oder aber daß der sozialen Notlagenin- dikation offenbar nicht in allen Fällen tatsächlich eine soziale Notlage zugrunde liegt.

Für die Ärzteschaft ist es eine Selbstverständlichkeit, daß soziale Notlagen mit entsprechenden Mit- teln angegangen werden müssen;

es ist sicher, daß auf diesem Ge- biet auch in unserem Wohlfahrts- staat an manchen Stellen noch viel zu tun ist. Ebenso unbestritten ist aber, daß soziale Notlagen in gro- ßer Zahl nicht durch die Tötung von Leben behoben werden kön- nen. Es wirkt darüber hinaus min- destens befremdend, wenn ein möglichst großer Anteil von Schwangerschaftsabbrüchen aus sozialer Notlagenindikation offen- sichtlich als Beweis für die Fort- schrittlichkeit einer Gesellschaft hingestellt werden soll.

„Das Recht auf Leben steht unter dem besonderen Schutz des Staates"

Das Recht auf Leben gehört zu den Grundrechten. Jeder Arzt ist verpflichtet, jedem Menschen von der Empfängnis an Ehrfurcht ent- gegenzubringen. Die aufgrund ge- setzlicher Bestimmungen von der Ärztekammer Bremen erlassene und vom Senator für Gesundheit und Umweltschutz in Bremen ge- nehmigte Berufsordnung schreibt z. B. ausdrücklich vor: „Der Arzt ist grundsätzlich verpflichtet, das kei- mende Leben zu erhalten. Schwan- gerschaftsunterbrechungen un- terliegen den gesetzlichen Bestim- mungen." Bestimmungen gleicher Art und meist gleichen Wortlautes finden sich in den Berufsordnun- gen der Ärztekammern anderer Bundesländer.

Es entspricht sowohl rechtsstaat- lichen wie ethisch-moralischen Prinzipien, wenn das Leben unter dem besonderen Schutz der Ge- sellschaft oder des Staates steht, insbesondere dann, wenn es wehrlos ist. Diese Selbstverständ-

lichkeiten sind sogar für kriegfüh- rende Parteien in der Genfer Kon- vention niedergelegt.

„Die Ärzte kennen ihre große Verantwortung für soziale Konsequenzen ihres Handelns"

Aus Ihrem offenen Brief vom 4. Juli 1979 ist für mich nicht nur die tota- le Verkennung aller Lebensum- stände und aller Möglichkeiten in unserem sozialen Rechtsstaat durch Sie zu erkennen, sondern auch ein Mißbrauch und eine Miß- deutung angeblicher Wissen- schaft und eine tiefe Mißachtung des menschlichen — also auch des keimenden — Lebens schlechthin.

Die Ärzteschaft dagegen wird auch in Zukunft bestimmt ihre gro- ße Verantwortung für soziale Kon- sequenzen ärztlichen Handelns er- kennen und zu tragen wissen, sie wird aber keinesfalls Tötung menschlichen Lebens mit konse- quenter Familienpolitik verwech- seln. Die Ärzteschaft wird sich fer- ner energisch dagegen wehren, daß eine solche Grundeinstellung dazu führt, daß diejenigen, die menschliches Leben achten, zu Gesellschaftsfeinden oder zu

„ewig Gestrigen" gestempelt werden.

Nach Ihrem Schreiben scheint Ihre Urteilsfähigkeit für mich durch ei- ne Klassenkampfideologie beein- trächtigt und Ihre Argumentation nicht nur nicht sachbezogen, son- dern schlicht falsch zu sein. Das Schreiben qualifiziert sich daher selbst, so daß es nicht nötig ist, auf alle Einzelheiten einzugehen. Den- noch sollte es eine weite Beach- tung finden, damit sich der Bürger ein Urteil über die von Ihnen mit Bundesmitteln in erheblicher Hö- he geförderte Institution bilden kann.

Nach meiner Auffassung haben sich mit solchem Zynismus und derartiger parteipolitischer und weltanschaulicher Indoktrination in jüngster Zeit nur rechts- und linksradikale Gruppen über ele- mentare Lebensrechte gerade von

schwachen und schutzbedürftigen Menschen hinweggesetzt. Dar- über hinaus gewinnt man aus Ih- rem Schreiben den Eindruck, daß

„Pro familia Bremen", die als Ein- richtung für Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch fi r- miert, gegen Präventivmaßnah- men zum Schutze werdenden Le- bens eintritt und die Tötung menschlichen Lebens der Lösung sozialer Probleme vorzieht.

Die Ärzteschaft jedenfalls hält Tö- tung menschlichen Lebens weder am Anfang noch am Ende des Le- bens für ein geeignetes Mittel, möglicherweise vorhandene so- ziale oder familiäre Probleme zu

lösen. Sie wird sich auch künftig ihrer Verpflichtung bewußt blei- ben, menschliches Leben zu schützen und zu erhalten.

Es ist im übrigen zu bedauern, daß Sie mit Ihrem polemischen offe- nen Brief — dessen Verteiler Sie nicht mitgeteilt haben — jeden An- satz eines konstruktiven und für die Frauen nützlichen Gespräches verschüttet haben. Ob Sie damit den hilfesuchenden Frauen, deren Interesse zu vertreten Sie vorge- ben, geholfen haben, mögen die Leser dieses Schriftwechsels be- urteilen.

Die Veröffentlichung dieses Schriftwechsels wird jedoch si- cher dazu beitragen, daß eine brei- te Öffentlichkeit, die im Grundsatz verschiedene und sich widerspre- chende Einstellung zu elementa- ren Problemen menschlichen Le- bens zwischen Ihnen und uns erkennt.

Mit der Ihnen gebührenden Hoch- achtung

Dr. med. Karsten Vilmar Präsident

der Bundesärztekammer

(Überschriften und Zwischentitel wurden bei beiden „offenen Brie- fen" von der Redaktion einge- setzt.)

1990 Heft 31 vom 2. August 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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