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Archiv "Heilkunst oder Leitlinienmedizin: Verantwortung braucht die Freiheit" (30.11.2007)

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A3312 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 48⏐⏐30. November 2007

T H E M E N D E R Z E I T

D

ie ärztliche Tätigkeit sei kei- ne Kunst, sondern sie werde durch eine regelgerechte Doku- mentation zur nachvollziehbaren Leistungserbringung – mit dieser Äußerung wird der Dezernent für Versorgungsqualität und Sicherstel- lung der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung, Dr. med. Bernhard Gi- bis, im Deutschen Ärzteblatt (Heft 20/2007) zitiert. Nur dadurch bleibe die therapeutische Freiheit im wohl- verstandenen Sinn erhalten. Kran- kenkassen wiederum fordern zuneh- mend eine Behandlung nach Leitli- nien – insbesondere in Verträgen zur integrierten Versorgung. Diese gel- ten gemeinhin als zukunftsweisend.

Prof. Dr. med. Dieter Kurt Hossfeld betont dagegen im Hamburger Ärz- teblatt (Heft 5/2007), der Mensch sei keine Maschine, er bestehe viel- mehr aus Körper und Seele – aber das gelte auch für den Arzt; dieser könne und dürfe kein Mechaniker sein, und deshalb werde man auch weiterhin bei dem, was der Arzt ma- che, von der Heilkunst sprechen dürfen. Was stimmt denn nun?

Der ärztliche Beruf ist im Wan- del. War der Arzt noch vor 20 Jahren der omnipotente Heiler, dessen Wis- sen und Handeln durch den Patien- ten nur schwer überprüfbar waren und schon gar nicht infrage gestellt wurden, so gilt heute das Leitbild des informierten Patienten und das part- nerschaftliche Arzt-Patienten-Ver- hältnis als Ideal. Der Patient im Jahr 2007 weiß viel mehr über sich, seine Gesundheit und seine Krankheiten.

Er hat sich im Internet informiert, Bücher gelesen, und Selbsthilfe- gruppen haben ihn mit Informatio- nen versorgt. Unterstützt von Pati- entenbeauftragten und Verbraucher- schützern wähnt er sich auf Augen- höhe mit seinem Arzt. Entscheidun- gen sollen in Gesprächen mit den Patienten gefällt werden. Auch die

Gerichte lassen nur noch den „in- formed consent“ zu. Das Informati- onsgefälle vom Arzt zu seinem Pati- enten scheint also geringer gewor- den zu sein.

Flut von Vorschriften und Gesetzen verschärft die Lage

Gleichzeitig breitet sich eine weitere Tendenz aus. Im Zuge der „evidence based medicine“ werden zunehmend Leitlinien für bestimmte Krankheits- bilder entwickelt. Zunächst als Hil- fen für Ärzte in Klinik und Praxis gedacht, haben nunmehr Leitlinien Einzug in Verträge der integrierten Versorgung (IV), aber auch in Ge- richtssäle gehalten. Auch die zuneh- mende Bürokratie nimmt derglei- chen begierig auf. Lassen sich so doch Statistiken erstellen, Kalkula- tionen berechnen, und alles erscheint auf einmal besser steuerbar. Doku- mentation ist Trumpf. Praxen und Kliniken werden überschüttet mit Formularen, und Dokumentationsas-

sistenten finden immer neue Betäti- gungsfelder.

Auch diese Tendenzen haben Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Patient und Arzt. Der in- formierte Patient trifft heute auf ei- nen Arzt, der zunehmend gezwun- gen wird, seinen Patienten als Fall zu betrachten. Seine Erkrankung muss in eine Leitlinie gepresst wer- den, schließlich verlangt dies der IV-Vertrag oder das Disease- Management-Programm (DMP).

Und gleichzeitig muss alles penibel dokumentiert werden. Die Zeit für den Patienten schwindet, die Zeit am Schreibtisch nimmt dramatisch zu. Dazu kommen strenge Budgets, Banken, die Praxen als Wirtschafts- betriebe sehen, und Krankenhäuser, deren Eigner ausschließlich am

„shareholder value“ interessiert sind. Qualitätssicherung (QS), Qua- litätsmanagement (QM) und eine Flut von Vorschriften und Gesetzen verschärfen die Situation weiter. So

HEILKUNST ODER LEITLINIENMEDIZIN

Verantwortung braucht die Freiheit

Der Patient in seiner Individualität, mit seiner Krankheit und dem, was er bewältigen kann, bleibt der Leitlinienmedizin verschlossen.

Ärztliches Han- deln:Die Kunst besteht in der Ver- knüpfung verschie- dener Ebenen. Wis- sen und Ratio wird mit Gefühl, Gespür und Empathie ver- bunden.

Foto:LAIF

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 48⏐⏐30. November 2007 A3313

T H E M E N D E R Z E I T

treffen ein mit Halbwissen vollge- stopfter Patient und ein durch Leitli- nien, Vorschriften, Gesetze, Doku- mentationsvorgaben und wirtschaft- liche Zwänge eingeengter Arzt im Sprechzimmer aufeinander.

Ärzte wählen ihren Beruf heute noch aus genau den gleichen Grün- den wie vor 20 Jahren. Die Idee von einem kommunikativen, menschen- nahen Beruf des Helfens und Hei- lens ist immer noch bestimmend.

Wenn die Realität des beruflichen Alltags sie eingeholt hat, nehmen al- lerdings Frustration, Burn-out und der Wunsch nach vorzeitigem Ru- hestand immer mehr zu. Und der Patient? Das durch Hörensagen, Bücher und Internet erworbene Halbwissen befreit nicht von Sor- gen, Ängsten und Nöten. Im Gegen- teil – häufig genug verstärken derar- tige Informationen die Ängste oder rufen sie gar erst hervor. Sie verun- sichern den Patienten weiter. Wert- los sind sie, wenn sie, wie nicht sel- ten, auf eine völlig fehlende grund- legende Gesundheitsbildung tref- fen. Dazu kommt noch, dass durch fehlende Familienbande und immer kleinere Familien tradiertes Wissen über Gesundheits- und Krankheits- vorgänge zunehmend fehlt. In den wenigsten Familien gibt es heute noch ein Fieberthermometer.

Wechselbad alter und neuer Rollenklischees

Arztserien dagegen erfreuen sich weiterhin größter Beliebtheit. Sie le- ben auch heute noch von den alten Rollenklischees – hier der gute, An- teil nehmende, gütige und selbstlose Arzt, dort der Rat suchende, hilflose und dankbare Patient. Im Gegensatz dazu stehen Bücher wie das Ärzte- hasser-Buch, das auch nach fünf Mo- naten noch in den Bestsellerlisten zu finden ist, oder das Zweiklassenstaat- Buch. Beide zeichnen ein Arztbild zum Hassen – geldgierig und brutal, menschenverachtend und unfähig.

Der Patient steht zwischen diesen beiden Arztbildern und muss sich ent- scheiden. Gewünscht wird wohl Dr.

Jekyll, aber Mr. Hyde bleibt als Angst und Sorge im Hinterkopf.

In der Annahme, einen informier- ten Patienten als Partner vor sich zu haben, behandelt der moderne Arzt

nun nach einer Leitlinie auf Augen- höhe unter der Berücksichtigung von QS, QM, IV, DMP, Arzneimittel- richtlinien und Rabattverträgen. Das Ergebnis überrascht nicht. Ein frus- trierter Arzt hat so einen enttäuschten und frustrierten Patienten generiert.

Leitlinien auf ein vernünftiges Maß beschränken

Um damit umzugehen, hilft die nähere Betrachtung der gegenseiti- gen Erwartungen. Denn es ist der Patient, der sich die Medizin schafft, nicht die Medizin die Patienten, schreibt Paul Unschuld (DÄ, Heft 17/2006). Wenn der Patient trotz al- ler Informationen aufgrund seiner Ängste und Sorgen, immer noch ge- prägt von traditionellen Rollenbil- dern, den annehmenden und von Sorgen befreienden Arzt erwartet,

> der erst die Person sieht,

> dann die sozialen Aspekte und Beziehungen beleuchtet,

> erst dann in Kenntnis all des- sen die Krankheit zu identifizieren und vor allem zu therapieren sucht,

> für den Leitlinien im Hinter- kopf bleiben,

> einen Arzt also, der kritisch ab- wägt und

> der sich für seine Patienten aus dem Fenster lehnt,

dann wird der Arzt zum Künstler.

Die nüchterne, am Papier und an Schemata verhaftete Leitlinienme- dizin kann diese Erwartungen nicht erfüllen. Die Individualität des Pati- enten, seiner Krankheit und dessen, was er bewältigen kann, ja die ganze seelische Dimension von krank werden, krank sein, krank bleiben oder gesund werden bleibt der Leit- linienmedizin verschlossen, lässt sich nicht in DMP pressen und ent- zieht sich QS und QM.

Die Kunst besteht in der Verknüp- fung der verschiedenen Ebenen ärzt- lichen Handelns. Wissen und Ratio werden mit Gefühl, Gespür und Em- pathie verbunden. Dies unterscheidet im Übrigen auch den Arzt vom Leis- tungserbringer. Dieser Prozess ge- lingt aber nur, wenn der Arzt den Kopf frei hat; wenn er sich auf seinen Patienten einlassen kann. Die Be- ziehung zwischen Arzt und Patient braucht den ganzen Arzt. Die nach wie vor enorme Verantwortung bei

der Ausübung dieses Berufs braucht die Freiheit. Schließlich tragen am Ende immer noch Patient und Arzt persönlich die Konsequenzen aus dieser Verantwortung und nicht die Leitlinie, die Dokumentation oder der Gesetzgeber. Ohne die Freiheit der Therapie, die Freiheit der Be- handlungsmethode und die Frei- heit, der Individualität von Patient, Krankheit und Arzt Rechnung tragen zu dürfen, kann ärztliche Kunst nicht gelingen. Ebenso wird die ärztliche Kunst sich nicht entwickeln können, wenn das moralische und ethische Grundgerüst beim einzelnen Arzt fehlt. Es braucht schon Menschen- liebe für diesen Beruf. Auch im Um- feld, in dem der Arzt seine Heilkunst ausübt, muss dieses Gerüst vor- handen sein. Hier sind alle Betriebe, Praxen wie Krankenhäuser, aber auch alle beteiligten Körperschaften gefordert. Diese müssen die Aus- übung der Heilkunst ermöglichen, fördern und schützen. Auch dies ist einer der Gründe, warum der Staat diese Aufgaben nicht direkt bestim- men darf, wenngleich sein Einfluss bedenklich zugenommen hat. Viel bleibt zu tun zum Schutz der Patien- ten, dieses freien Berufs und eines Arzt-Patienten-Verhältnisses, das bei- de Partner befriedigt.

Der gut informierte Patient bleibt das Ideal. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Grundlegende Ge- sundheitsbildung in allen Schulfor- men tut Not, seriöse Medizinbericht- erstattung und Information müssen noch mehr gefördert werden.

Leitlinien und Dokumentation, so notwendig und hilfreich sie sind, müssen auf ein vernünftiges, die Heilkunst nicht einengendes Maß beschränkt werden. Der freie Beruf des Arztes muss wieder ermöglicht und geschützt werden. Dazu muss die Politik von der Einmaligkeit die- ses Berufs überzeugt werden. Es wird immer Menschen geben, die bereit sind, die Heilkunst als Arzt auszuüben, denn der freie Beruf des Arztes kann ein schöner und befrie- digender Beruf sein. Als Leitlinien- mediziner und pure Leistungser- bringer allerdings wird sich die Ge- sellschaft einen anderen Menschen- typus suchen müssen. I Dr. med. Dirk Heinrich

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