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Archiv "1947/1997 – Bundesärztekammer im Wandel (IX): Ärzte und Sozialversicherung (II) -Die Periode der Kostendämpfungspolitik" (04.07.1997)

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In den 70er Jahren begannen die Ausgaben im Gesundheitswesen überproportional zu steigen – zeitlich leicht versetzt zu einer damaligen Lohn- und Preiswelle –: Die Ausga- benexpansion übertraf die – durch den Finanzierungsmechanis- mus der Gesetzlichen Kran- kenversicherung über lohn- und einkommensbezogene Beiträge bedingt – ebenfalls ex- pandierenden Einnahmen der Krankenkassen bei weitem.

Die Konsequenz waren rasch steigende Beitragssätze. Vor al- len die Analysen des seinerzei- tigen rheinland-pfälzischen So- zialministers Heiner Geißler haben die politische Diskussi- on Mitte der 70er Jahre auf die- se Entwicklung gelenkt. Aus seiner damaligen Schätzung ei- nes bei mangelndem Gegen- wirken „explosionsartigen An- wachsens der Beiträge“ zog er die Schlußfolgerung:

„Es kann auf Dauer nicht hin- genommen werden, daß für das Gesundheitswesen, nur weil nach der Konstruktion des Finanzie- rungsverfahrens bei der gesetzlichen Krankenversicherung die Einnahmen nach den Ausgaben bestimmt werden, gleichsam ein unbegrenzter Zugriff auf wachsende Teile des Sozialpro- dukts eröffnet wird. Wer glaubt, auch in Zukunft auf Beitragssatzerhöhun- gen ,ohne Grenzen‘ setzen zu können, täuscht sich.“

Schon 1966 hatte die von Wissen- schaftlern erarbeitete Sozialenquête, die von der damaligen Bundesregie- rung in Auftrag gegeben worden war, unter der Fragestellung „Ist die Ge- setzliche Krankenversicherung zu teuer?“ auf folgendes hingewiesen:

„Die Frage umschließt 2 Teilfragen:

1. Gibt die heutige Gesellschaft für die

Befriedigung des Bedürfnisses nach Gesundheit unverhältnismäßig viel aus, mehr als im Sinne eines objekti- vierten Grenznutzungsausgleichs ge- rechtfertigt erscheint?

2. Verwenden wir die aufgewendeten Mittel – zunächst Geldmittel, alsdann die für diese Geldmittel gekauften Gü- ter und Dienste – in rationaler Weise,

so daß ihre Verwendung den größt- möglichen Nutzen stiftet? . . .

. . . Wir kommen zu dem Ergebnis, daß unsere erste Teilfrage nicht mit ei- nem bündigen Ja oder Nein beantwor- tet werden kann. Wir können nur glo- bal schätzen: Ungefähr dürfte der heu- tige Aufwand an Gesundheitsgütern im System der gesetzlichen Kranken- versicherung einer rationalen Nutzen- schätzung und dem heutigen Wohl- standsniveau entsprechen. Wün- schenswert wäre jedoch die Schaffung eines funktionstüchtigen Steuerungs- mechanismus, der für eine ständige Anpassung des Anspruchsniveaus an das zukünftige Wachstum des Volks- einkommens und an weitere Fort- schritte der Medizin sorgt . . .“.

Und genau dies war und ist auch heute noch die Schlüsselfrage der Ge- setzlichen Krankenversicherung, wie auch immer die Lösung dafür aussieht.

Nach den Geißlerschen Analysen und der politischen Diskussion der

„Kostenexplosion“ reagierte die da- mals die Bundesregierung bildende sozialliberale Koalition (SPD/FDP) in der Mitte der 70er und An- fang der 80er Jahre mit der Vorlage der Kostendämpfungs- gesetze(Krankenversicherungs- Kostendämpfungsgesetz, Kran- kenhaus-Kostendämpfungsge- setz, Kostendämpfungs-Ergän- zungsgesetz). Ihre „Philoso- phie“ war – wie sich auch aus der Entwurfsbegründung zum Krankenversicherungs-Kosten- dämpfungsgesetz entnehmen läßt – die Zielsetzung, das er- reichte medizinische Versor- gungsniveau aufrechtzuerhal- ten, den medizinischen Fort- schritt zu ermöglichen und den dafür erforderlichen Finanzbe- darf mit der Belastbarkeit der Volkswirtschaft und der Bei- tragszahler in Übereinstim- mung zu bringen. Der Mecha- nismus war „die Anpassung der Ausgaben“ an die Einnahmenentwick- lung durch das Referenzkriterium der Grundlohnsummenentwicklung bei der Vereinbarung der Vergütung. Die Grundlohnsumme ist – vereinfacht – das Abbild der Einkommensentwick- lung der Versicherten und damit des Beitragsaufkommens (Einnahmen!) der Krankenkassen.

Die Kostendämpfungsgesetze brachten auch, neben anderen Instru- menten, die Einrichtung der Konzer- tierten Aktion im Gesundheitswesen, in der neben dem zuständigen Bun- desminister die Spitzenorganisatio- nen der Krankenkassen, der Ärzte und anderer am Gesundheitswesen beteiligter Kreise regelmäßige Emp- fehlungen für Steigerungsraten in

B U N D E S A R Z T E K A M M E R. .

Bisher sind in dieser Serie erschienen:

Thomas Gerst: Föderal oder zentral? – Der kurze Traum von einer bundeseinheitlichen ärztlichen Selbstverwaltung (Heft 38/1996) Gerhard Vogt: Arzt im Krankenhaus (Heft 45/1996)

Hedda Heuser-Schreiber: Ärztinnen in Deutschland – Fakten, Be- obachtungen, Perspektiven (Heft 1–2/1997)

J. F. Volrad Deneke: Körperschaften und Verbände – streitbare Verwandte (Heft 4/1997)

Klaus-Ditmar Bachmann, Brigitte Heerklotz: Der Wissen- schaftliche Beirat der Bundesärztekammer (Heft 10/1997) Marilene Schleicher: Die ärztliche Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland (Heft 14/1997)

Jürgen W. Bösche: Die Reichsärztekammer im Lichte von Gesetzge- bung und Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland (Heft 21/1997)

Horst Dieter Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung (I) – Der Weg zum Kassenarztrecht (Heft 26/1997)

1947/1997: Bundesärztekammer im Wandel (IX)

Ärzte und Sozialversicherung (II) –

Die Periode der Kostendämpfungspolitik

Horst Dieter Schirmer

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maßgeblichen Ausgabenbereichen geben. Ziel dieser Empfehlungen ist es ja bekanntlich, die für die Finanzie- rung maßgeblichen Beitragssätze sta- bil zu halten.

Die Periode der

sogenannten Reformgesetze (Gesundheits-Reformgesetz;

Gesundheitsstrukturgesetz)

Auch die Regierungskoalition aus CDU/CSU/FDP hat nach 1982 für die Gesetzliche Krankenversicherung die Stabilitätspolitik fortgesetzt. Als erstes Gesetz fällt in diese Zeit das vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auf den Weg gebrachte Gesundheits-Reformgesetz (GRG), welches am 1. 1. 1989 in Kraft getre- ten ist. Kennzeichen der Krankenver- sicherungsreform des GRG ist eine Bewahrung der grundlegenden Struk- turen des Krankenversicherungssy- stems, insbesondere der Finanzie- rungstechnik ebenso wie des Sachlei- stungsprinzips, das lediglich bei der Versorgung mit zahnärztlichen Lei- stungen (Zahnersatz, Kieferorthopä- die) und im Rahmen einer Experi- mentierklausel für andere Versor- gungsformen, wie die Kostenerstat- tung, geöffnet worden ist.

Entgegen vielen Erwartungen sowohl in der Wissenschaft als auch in Kreisen der Leistungserbringer hat der Gesetzgeber nicht den Weg einer Flexibilisierung verschiedener Instru- mente des Systems gewählt – wie vor- geschlagen hin zu einer Öffnung ge- genüber mehr marktwirtschaftlichen Lösungen –, sondern den bereits in der Kostendämpfungs-Gesetzgebung angelegten Weg einer Kombination von Globalsteuerung durch die Kon- zertierte Aktion im Gesundheitswe- sen und durch Vertragsinstrumente auf Bundesebene einerseits und In- strumentarien zur Lenkung insbeson- dere des ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsverhaltens durch Wirt- schaftlichkeitsvorgaben und Wirt- schaftlichkeitsprüfungen andererseits befestigt.

Der „magische“ Begriff, unter dessen Regime diese Maßnahmen ih- re innere Rechtfertigung erhalten sol- len, ist nunmehr die „Beitragssatzsta-

bilität“. Mit anderen Worten: Verein- barungen über Vergütungen haben zu berücksichtigen, daß sie einen über den allgemeinen Einnahmenzuwachs aus der wirtschaftlichen Anpassung der Einkommen sich ergebenden „Fi- nanzierungskorridor“ nicht verlassen.

Zugleich impliziert die Verwirkli- chung des Ziels der Beitragssatzstabi- lität die Notwendigkeit zu finanziel- len Umschichtungen in den einzelnen Leistungsbereichen hinsichtlich ihres Anteils am Ausgabenvolumen der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Damit hat die Politik die Grundlagen für die unfruchtbare Entwicklung zu einem „Verteilungsstreit“ der am Ge- sundheitswesen Beteiligten gelegt.

Von Beginn an hat die Bundesre- gierung das Konzept des GRG auch unter die Zielsetzung der Implemen- tation des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung in das Sozialge- setzbuch als der grundlegenden syste- matischen Zusammenfassung des So- zialrechs gestellt. Dies bot sich an, nachdem in den 70er Jahren das Sozi- algesetzbuch geschaffen worden war, um in einer Kodifikation das Sozial- recht zu systematisieren und zusam- menzufassen; neben einem „Allge- meinen Teil“ und „Gemeinsamen Vorschriften“ sowie dem „Verwal- tungsverfahren“ waren besondere Teile bis dahin noch nicht geregelt worden. Hinzu kam, daß das Recht der Gesetzlichen Krankenversiche- rung selbst durch die Vielzahl der Weiterentwicklungen in der Vergan- genheit unübersichtlich geworden war. Eine solche Kodifikation des Rechts der Gesetzlichen Krankenver- sicherung hat das GRG durch seine systematische Zuordnung in ein eige- nes „Sozialgesetzbuch V“ vorgenom- men.

Die Übernahme des

Kassenarztrechts im Wege der deutschen Einigung

Seine Bewährungsprobe hat das politische Modell des Kassenarzt- rechts auch im Rahmen der Rechts- vereinheitlichung aus Anlaß der Her- stellung der Einheit Deutschlands be- standen. Schon im „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirt- schafts- und Sozialunion“ hatte die

damalige DDR die Verpflichtung übernommen, ein System der Gesetz- lichen Krankenversicherung und ein Versorgungssystem nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Im Gefolge dieser Ver- pflichtung erließ der damalige Ge- setzgeber der DDR, die Volkskam- mer, nach Beratung und Abstimmung mit zuständigen Bundesministerien der Bundesrepublik Deutschland im vorbereitenden Gesetzgebungsver- fahren auch Gesetze zur Bildung ei- ner Krankenkassenorganisation und einer Versorgungsorganisation im Verhältnis von Krankenkassen und Leistungserbringern. Der Einigungs- vertrag führte daher das im Sozialge- setzbuch V geregelte System der GKV und das Kassenarztrecht des SGB V mit Wirkung vom 1. Januar 1991 ein. Überleitungsprobleme wur- den durch modifizierende und ergän- zende Vorschriften geregelt.

Hervorzuheben ist dabei das mit dem Einigungsvertrag eingeführ- te Gebot zum Strukturwandel des seinerzeitigen DDR-Gesundheitssy- stems: Um die Niederlassung von frei- beruflich tätigen Vertragsärzten zu fördern, wurde der Fortbestand des DDR-Systems der Polikliniken, der Ambulatorien und vergleichbarer Einrichtungen „eingefroren“. Weite- re Einrichtungen durften nicht mehr errichtet werden. Auf diese Weise war es möglich, daß sich ohne die Konkur- renz der öffentlichen Hand ein heute der Versorgung in den „alten“ Bun- desländern vergleichbares System der vertragsärztlichen Versorgung durch freiberufliche Ärzte entwickelt hat.

Ein legislativer Einbruch:

Das Gesundheits- strukturgesetz (GSG)

Nach mehrfachen Vorankündi- gungen schon im Jahre 1991 ist mit Wirkung zum 1. Januar 1993 ein wei- teres Reformpaket in Kraft getreten – das GSG –, das nach verschiedenen Zwischenschritten auf der Grundlage von Entwürfen der Koalition auch die Zustimmung der SPD-Opposition nach entsprechenden Verhandlungen gefunden hatte, welche als „Kompro- miß von Lahnstein“ bekannt gewor- den sind. Entscheidende Elemente

T H E M E N D E R Z E I T 50 JAHRE BUNDESÄRZTEKAMMER

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dieses Gesetzes waren einerseits eine dreijährige strikte Budgetierung der Gesamtvergütungen für die ver- tragsärztliche Versorgung, anderer- seits die Verschärfung von Zulas- sungsbeschränkungen bei Überver- sorgung auf der Grundlage einer ge- setzlichen Fiktion von Überversor- gung bei einem zehnprozentigen Ver- sorgungsübermaß über der bedarfs- gerechten Versorgung und die Ankündigung weitergehender Zu- gangsbeschränkungen ab 1. Januar 1999. Ferner ist eine Altersgrenze von 68 Jahren für die Beendigung der Kassenzulassung kraft Gesetzes ein- geführt worden.

Weitere Elemente des Gesetzes:

Zulassung der Beschäftigung von an- gestellten Ärzten bei niedergelasse- nen Vertragsärzten; Bindung des Ver- gütungsrechts an den Grundsatz der Beitragssatzstabilität mit entspre- chender aufsichtsrechtlicher Überwa- chung; Schaffung von Arzneimittel- und Heilmittelbudgets, deren Über- schreitung zu einer Kürzung der Ge- samtvergütung der Ärzte führt; Ver- schärfung der Aufsichtsmaßnahmen der Aufsichtsbehörden gegenüber der Selbstverwaltung durch Schaf- fung von Vorlagepflichten, Beanstan- dungsrechten, Ersatzvornahmemög- lichkeiten durch Entscheidungen und Rechtsverordnungen in vielen Berei- chen, welche bislang der Vertragsfrei- heit und Selbstverwaltungsautonomie zugänglich waren, und Einführung so- fortiger Vollstreckbarkeit der Auf- sichtsanordnungen.

Die „Reformspirale“

Schon vor dem Ende der „Bud- getierungsphase“ des GSG zeichnete sich die Notwendigkeit zu neuen Re- formschritten ab. Der „Suchprozeß“

des Gesetzgebers ist nicht abgeschlos- sen. Verschiedene Gesetzentwürfe, die im Jahre 1996 als Reformgesetze eingebracht worden sind, sind im Bundesrat durch Verweigerung der Zustimmung der Länder gescheitert.

Zuletzt hat der Bundesminister für Gesundheit den politischen Weg ge- sucht, sogenannte zustimmungsfreie Gesetze in das Gesetzgebungsverfah- ren einzubringen, welche als Erstes und als Zweites Neuordnungsgesetz

(NOG) vom Deutschen Bundestag beschlossen worden sind. Eine Reihe von Regelungen zielt darauf ab, den Krankenkassen einen (geringen) Ge- staltungsspielraum bei der Leistungs- gewährung einzuräumen, verbunden mit Erhöhungen von Zuzahlungen der Versicherten. „Strukturelle“ Än- derungen im Kassenarztrecht (Flexi- bilisierungsmöglichkeiten der Versor- gung, neue Vergütungsregelung, Richtgrößen statt Budgets, Definition des obligatorischen Leistungskata- logs im Bundesausschuß) sind weitere bemerkenswerte Schritte.

Eine erste Zwischenbilanz:

Die Aushöhlung der Selbstverwaltung

Es ist nicht zu bestreiten, daß spätestens das GSG der gemeinsamen Selbstverwaltung durch gesetzliche Auftragsvorgaben und antizipierte Verhandlungsergebnisse, zum Bei- spiel bei der Gesamtvergütung, eine neue Funktion zugewiesen hat. Aus der Selbstverwaltung mit Verhand- lungsmandat zur kollektiven Gestal- tung der Versorgungsaufgaben ist ein Vollzugsorgan von Gesetzesaufträgen geworden.

Das immer dichter werdende Netz gesetzlicher Einzelbeschreibun- gen der Aufgaben und Pflichten sowie der vorweggenommenen Gestal- tungsergebnisse durch den Gesetzge- ber, welche das autonome Gestal- tungsfeld garrottieren, mag zwar ei- ner juristischen Meinungsrichtung entgegenkommen, welche dem Kas- senarztrecht als einem „Eingriffs- recht“ in die freie Berufsausübung ein legislatives Defizit in seinen Ermäch- tigungsgrundlagen attestiert. Die Mo- tive des Gesetzgebers des GSG sind indessen nicht aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Schutzes des Grundrechts der Berufsfreiheit ent- standen. Das Motiv der Gesetzgeber seit dem Krankenversicherungs-Ko- stendämpfungsgesetz ist die politi- sche Meinung, daß die GKV-Versor- gungssysteme nicht mehr ausschließ- lich durch die gemeinsame Selbstver- waltung gesteuert werden dürfen, wo- bei dieser die Zielsetzung überlassen bleibt. Der historisch-politische An- satz im Kassenarztrecht, es der Syn-

these aus Interessengegensätzen im Verhandlungsmandat zu überlassen, daß der richtige Weg gefunden wird, wird aufgegeben. Der Staat definiert nunmehr gesetzliche Einzelziele und antizipiert die Verhandlungsergebnis- se durch Gesetzesregelungen.

Der Verlust an Autonomie geht einher mit einer Mutation der Kas- senärztlichen Vereinigungen. Die Ge- nossenschaft der Ärzte wandelt sich in eine Trägerorganisation zur Durch- setzung von Gesetzesaufträgen, also zu einem Vollzugsorgan der Exekuti- ve. Gesetzesvollzug ersetzt autonome Normsetzung in selbstdefinierten Be- reichen. Die formale Beibehaltung der Selbstverwaltung als „Hülse“

kann über einen normativen For- menschwindel nicht hinwegtäuschen.

Auch die allgemeine Rechtsaufsicht wandelt sich bei entsprechender Nor- mendichte materiell in Fachaufsicht.

Diese Entwicklung ist an einem Scheideweg. Ein apokrypher staatli- cher Gesundheitsdienst steht ins Haus. Kassenarztrecht ist dann nicht mehr länger Partizipations- und Mit- bestimmungsrecht im Verhandlungs- modell von Krankenkassen und Ärz- ten, sondern wäre spezielles staatli- ches Berufsausübungsrecht.

Eine zweite Zwischenbilanz:

Die Gefährdung der Freiberuflichkeit

Spätestens mit der Androhung, Überschreitungen des Arzneimittel- budgets durch Ausgleich aus den Ge- samtvergütungen zu egalisieren, ha- ben sich die finanzielle Grenze der Leistungsfähigkeit der GKV und ihre Folgen gezeigt: Budgets bewirken Rationierung. Gesundheitschancen werden unter dem Druck kollektiver Haftung minimiert. Der erhoffte Ra- tionalisierungserfolg blieb auch bei den Vergütungsbudgets aus. Im Ge- genteil: Der durch die gesetzlich begrenzten Vergütungen erhöhte

„Verteilungsdruck“ überspannte die Fähigkeit der Ärzte und der Kas- senärztlichen Vereinigungen zu kon- sentierten Vergütungsregelungen; im- mer neue – mehr und mehr in Vergü- tungspauschalen driftende – Vergü- tungsformen in der Leitnorm des EBM überforderten die individuelle

T H E M E N D E R Z E I T 50 JAHRE BUNDESÄRZTEKAMMER

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Akzeptanz durch den Vertragsarzt, erhöhten die Unsicherheit über die Berechenbarkeit des Honorars und steigerten die Prozeßbereitschaft.

Die wirtschaftliche Basis der Freiberuflichkeit steht in Frage. Die Selbstverwaltung ist in einem gordi- schen Knoten verstrickt: Ein Geflecht aus unbegrenztem Behandlungsan- spruch des Versicherten, medizinisch verantwortlichem Behandlungsauf- trag des Arztes, wachsenden Möglich- keiten der Medizin, begrenzter Ver- gütung des Arztes und Haftungsdruck der Budgets. Die administrativen Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung tangieren substanti- ell die ärztliche Identität: Kann der Vertragsarzt noch dem beruflich be- gründeten Problem „gewissenhafter“

Berufsausübung verpflichtet sein, oder wird er zum „Verteiler von Ge- sundheitschancen“?

Eine Lösung der Aporie ist von der Politik derzeit nicht zu erwarten.

Die „Elemente“ des sogenannten 1.

und 2. GKV-NOG erlauben nicht den Schluß auf eine zukunftsweisende konsistente Lösung der GKV-Proble- me. Hilflosigkeit breitet sich aus. Wie anders ist die politische Lösung der Bundesregierung zu bewerten, den Sachverständigenrat für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswesen um folgende Expertise zu bitten:

„Welche Lösungsmöglichkeiten sieht der Sachverständigenrat, den durch demografische Entwicklung, den me- dizinischen Fortschritt sowie den tief- greifenden sozialen und gesellschaftli- chen Wandel bedingten zunehmenden Finanzdruck in der gesetzlichen Kran- kenversicherung in Einklang zu brin- gen mit der wachstums- und beschäfti- gungspolitischen Notwendigkeit, ei- nerseits die Arbeitskosten zu entlasten und andererseits die Chancen für Wachstum und Beschäftigung in den gesundheitsnahen Bereichen zu nut- zen?“

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-1863–1866 [Heft 27]

Anschrift des Verfassers

Rechtsanwalt Horst Dieter Schirmer Herbert-Lewin-Straße 3

50931 Köln

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

D

ie in den vergangenen fünf Jahrzehnten eingetretene Entwicklung der Medizin läßt sich beispielhaft mit den Eck- punkten „Beginn der antibiotischen Ära“ zur Zeit der Gründung und „An der Schwelle zur Gentherapie“

im Jubiläumsjahr beschrei- ben. Der Wandel der Me- dizin in dem betrachte- ten Zeitraum kann schlagwortartig mit Beispielen aus zahl- reichen Disziplinen verdeutlicht werden, wie Organtransplan- tation, In-vitro-Fertili- sation, Intensivmedizin, Humangenetik, abbildende Verfahren. An diese Entwick- lungen knüpfen sich berechtigte Hoff- nungen zur Bewältigung bislang un- befriedigend oder kaum gelöster Pro- bleme, zum Beispiel Behandlung der unterschiedlichen Krebsarten oder der verschiedenen Formen der Al- tersdemenz.

Zu den vornehmsten Pflichten des Arztes gehört der verantwor- tungsbewußte Einsatz der ihm zu Ge- bote stehenden Methoden der Dia- gnostik und Therapie zum Wohle des ihm anvertrauten Patienten. Dieser Verpflichtung kann er nur gerecht werden auf der Grundlage einer soli- den wissenschaftlichen Ausbildung in einer Berufsausübung, die sich an ethischen Normen orientiert.

In seinem Grußwort an die World Medical Association (WMA) anläß- lich ihres 50jährigen Bestehens wies Dr. Joseph T. Painter, langjähriger Vorsitzender der „American Medical Association“ und einige Jahre auch Präsident des Council der WMA, dar-

auf hin, daß ebenso wie bei der Grün- dung der AMA im Jahre 1847 hundert Jahre später im Geburtsjahr der World Medical Association die Ein- sicht ausschlaggebend war, auf den Gebieten Ausbildung, ärztliche Be- rufsausübung und ärztliche Ethik seien Standards zu formulie- ren und einzuhalten. Dr.

Painter betonte aus- drücklich, daß im Zu- sammenhang mit dem 2. Weltkrieg bekannt- gewordene Verhal- tensweisen von Ärz- ten sowie die hierzu ergangenen Urteile des Nürnberger Gerichtsho- fes die „American Medical Association“ maßgeblich ver- anlaßt hätten, sich an der Gründung der WMA zu beteiligen und ihren Be- ginn durch beachtliche finanzielle Mittel zu unterstützen.

Instanz der ärztlichen Ethik

Der Präsident der Bundesärzte- kammer, Dr. Karsten Vilmar, hob in seinem Beitrag die Bedeutung der im Genfer Gelöbnis kodifizierten ethi- schen Normen als Grundlage ärztli- cher Tätigkeit hervor. Unter den zahl- reichen Stellungnahmen der WMA erwähnte er mit Vorrang die Deklara- tion von Helsinki, die sich inzwischen weltweit als Richtlinie für ärztliche Forschung am Menschen durchge- setzt hat. Hier sowie auf zahlreichen anderen Gebieten sei ein deutlicher Einfluß der WMA erkennbar. Der Weltärztebund habe sich zu einer überzeugenden Instanz der ärztlichen

Wandel der Medizin – Anpassung von Grundsätzen?

50 Jahre Weltärztebund

Im Rahmen seiner 147. Sitzung (8. bis 10. Mai 1997,

Paris) gedachte der Vorstand des Weltärztebundes in ei-

ner bescheiden gehaltenen Veranstaltung der Gründung

der „World Medical Association“ vor 50 Jahren, am

18. September 1947, in der französischen Hauptstadt.

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Ehtik entwickelt, die er frei von Inter- essen und ohne Ansehen der Person vertrete.

Gesprächspartner für Regierungen

Professor Dr. Erik Holst (Däne- mark) erinnerte daran, daß zahlreiche Staaten, wenn auch in rechtlich kaum zu beanstandender Weise, den Ärzte- organisationen ihrer Länder nur eng gesteckte Tätigkeitsfelder einräumen, wodurch zugleich die Mitwirkungs- möglichkeiten in der WMA einge- schränkt sein können. Die WMA selbst kann Ziele und Grundsätze als Leitlinien vorgeben. Darüber hinaus sei sie der geeignete Gesprächspart- ner für Regierungen und Regierungs- organisationen sowie für übernatio- nale Verbindungen von Staaten, zum Beispiel die Vereinten Nationen, die Europäische Union oder für den Eu- roparat. In den kommenden Jahr- zehnten sollte sich der Weltärztebund gerade hier noch mehr als bisher en- gagieren. Er müsse bestrebt sein, auf wichtigen Gebieten, zum Beispiel Menschenrechte oder Grundfragen des Lebens, einvernehmliche Über- zeugungen und Entscheidungen zu fördern, zu denen die Staaten oft aus unterschiedlicher Interessenlage nicht gelangen könnten. Einen Weltärztebund von solchem Gewicht als Gesprächspartner würde die inter- nationale Staatenwelt kaum nur als

„Non Governmental Organisation“

betrachten, sie würde sich nicht mehr darauf beschränken, seine Deklara- tionen bestenfalls zur Kenntnis zu nehmen.

In den Ausschußsitzungen stellte sich gegenüber der Feierstunde sehr schnell wieder die Wirklichkeit ein.

Die bei internationalen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zu beobachtende Prägung der Dele- gierten durch Religion, Kultur, Ge- schichte, Bildung sowie Sitten und Gebräuche ihrer Heimatländer findet sich selbstverständlich auch im Weltärztebund wieder, der Ärzteor- ganisationen aus allen fünf Kontinen- ten vertritt. Die Beratungen im Aus- schuß „Ethik in der Medizin“ insbe- sondere zeigten sehr eindrücklich, daß noch ein weiter Weg zurückzule-

gen ist bis zu einer Vereinbarung dar- über, ob im Wandel der Medizin ethi- sche Grundnormen konstant bleiben oder ob sie sich, gegebenenfalls unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, jenem Wandel anzupas- sen haben.

So scheiterte der Versuch, für den Bereich „Wiederbelebungsmaß- nahmen“ eine Deklaration zu erar- beiten, an der Unvereinbarkeit, ja wi- dersprüchlichen Haltung einzelner Delegationen über Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes lebensret- tender Verfahren auch unter Berück- sichtigung ökonomischer Gesichts- punkte. Man vereinbarte, den vorge- legten Text lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ihn jedoch nicht durch eine Abstimmung förmlich als Beschluß anzunehmen. Da sich zu der vorgese- henen Deklaration „Verantwortlich- keit des Patienten“ nicht einmal ein Konsensus abzeichnete, zog die AMA ohne weitere Diskussion ihren Formulierungsvorschlag zurück. Im- merhin konnte man sich auf eine Er- klärung einigen, daß Ärzten, die in ei- nem Lande wegen schwerer Verbre- chen verurteilt wurden, in anderen Ländern keine Berufsausübung er- laubt werden darf. Beim bloßen Ver- dacht sollte ärztliche Tätigkeit erst dann gestattet werden, wenn nach sorgfältiger Prüfung die Beschuldi- gungen sich als gegenstandslos erwie- sen haben.

Pluralität der Auffassungen

Bei den Erörterungen eines Ent- wurfs „Rechte des Ungeborenen“

traten Pluralität der Auffassungen und Unvereinbarkeit der Standpunk- te besonders deutlich zu Tage. So war für einige Delegationen die Formu- lierung, daß der Schwangerschaftsab- bruch auf der Grundlage der jeweili- gen Gesetze respektiert werden müs- se, nicht annehmbar, da hierdurch ei- ne Relativierung ethischer Grundsät- ze eingeführt werde. Demgegenüber fanden andere Delegationen in die- sem und anderen Punkten den Vor- schlag zu restriktiv, da nach der Ge- setzgebung ihrer Länder der Fetus überhaupt keine oder nur sehr gerin- ge Rechte hat. Einige Redner bedau-

erten, daß die Diskussion um den Schutz des Lebens von seinem Be- ginn an nahezu regelmäßig mit der Frage des Schwangerschaftsabbru- ches verknüpft wird. Entgegnet wur- de, eine solche Verbindung sei unver- meidbar, da Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch notwendi- gerweise von Grundauffassungen über den Schutz des werdenden Le- bens abhängen.

Schwierig: Deklaration zu

„Rechte des Ungeborenen“

Unter Hinweis auf die von Land zu Land unterschiedlichen Betrach- tungsweisen gerade in diesem Punkte empfahlen einige Delegationen, von der Formulierung einer Deklaration

„Rechte des Ungeborenen“ über- haupt abzusehen. Schließlich über- wog jedoch die Einsicht, daß die WMA wenigstens den Versuch unter- nehmen solle, in dieser zentralen Fra- ge zu einer einvernehmlichen Hal- tung zu gelangen. Es wurde daher vereinbart, zunächst im Rahmen ei- nes wissenschaftlichen Symposiums Grundlagen und diskrepante Auffas- sungen zum Thema „Rechte des Un- geborenen“ zu identifizieren und zu versuchen, auf der Basis dieser Er- kenntnisse eine gemeinsame Dekla- ration zu formulieren. Das Ergebnis wird zeigen, ob der Weltärztebund die von internationalen Staatenverbän- den seit Jahrzehnten in diesem grundsätzlichen Bereich akzeptierte

„Patt-Situation“ überwindet oder ob auch er im Hinblick auf die „Unver- einbarkeit der Standpunkte“ kapitu- liert. Das Resultat dürfte auch als ein wichtiger Maßstab zur Beurteilung der „World Medical Association“ ins- gesamt herangezogen werden.

Zu den weiteren Beratungen des

„Ethik-Ausschusses“ sowie der son- stigen Ausschüsse der WMA, über die hier nicht berichtet wird, sei ledig- lich angemerkt, daß grundlegende Meinungsunterschiede nicht auftra-

ten. E.D.

Erklärungen, Dokumente etc. des Weltärzte- bundes können in Urfasung und/oder deut- scher Übersetzung bei der Bundesärzekam- mer, Auslandsdienst, Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln, angefordert werden.

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