• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Ärztliche Aufklärung über die Krankheit zum Tode" (17.04.1992)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Ärztliche Aufklärung über die Krankheit zum Tode" (17.04.1992)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Ärztliche Aufklärung

über die Krankheit zum Tode

Jürgen van de Loo und Bernhard Wörmann

.•■•■

Ärztliche Aufklärung im Sinne von Information des Patienten durch seinen Arzt betrifft üblicherweise die möglichen Folgen diagnosti- scher Eingriffe oder von Behandlungsmaßnahmen. Ein Sonderfall ärztlicher Aufklärung ist die Information des Patienten über schwerwiegende Morbidität oder möglichen Tod. Die folgenden Überlegungen treffen sowohl auf Patienten mit bösartigen Krank- heiten im engeren Sinne als auch auf nicht neoplastische, lebens- bedrohende Erkrankungen zu. Sie sollen das Postulat begründen, daß der an einer lebensbedrohenden Krankheit leidende Patient ein Recht auf Aufklärung hat und sich der Arzt nur in Ausnahmefäl- len der Verpflichtung zur Aufklärung entziehen kann.

1

THEMEN DER ZEIT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Vier Problemkreise machen es aus unserer Sicht notwendig, von der Aufklärung des Patienten über seine Krankheit zum Tode zu sprechen und Meinung zu bilden. Zum einen ist die Einstellung von Ärzteschaft und Öffentlichkeit zur Aufklärung bei Krebskrankheiten zwiespältig.

Sogar die Rechtsprechung kennt für die Situation der bösartigen Krank- heiten weitgehende Ausnahmen von der generellen Aufklärungspflicht des Arztes (1). Ein weiterer wichti- ger Gesichtspunkt ist der Fortschritt der medizinischen Behandlungsmög- lichkeiten bösartiger Krankheiten.

Schließlich machen neue Erkennt- nisse zur psychologischen Reaktion des Patienten und seiner Einstellung zu seiner bösartigen Krankheit eine Aufnahme der Diskussion notwen- dig.

Widersprüchliche Einstellung von Ärzteschaft

und Öffentlichkeit

Die heutige Praxis der Aufklä- rung von Patienten über maligne Krankheiten reicht von der generel- len Vorenthaltung der diagnosti- schen Wahrheit bis zu ihrer scho- nungslosen Eröffnung. Dieser Sach- verhalt ist rational schwer begründ-

bar. Zwei typische Erlebnisse mögen beide Alternativen erläutern:

Ein Kollege kommt als Ehe- mann seiner eben am metastasieren- den Mammakarzinom verstorbenen Frau zum behandelnden Kollegen, um ihm für seine ärztliche Betreu- ung zu danken. Insbesondere habe er es als einen Segen empfunden, daß er seiner Frau nie etwas von ih- rem Krebsleiden erzählt habe. So ha- be seine Frau bis zum letzten Tag von der Hoffnung gelebt, bald wie- der gesund zu werden, und Ferien- pläne geschmiedet. Die andere Ge- schichte erzählt vom Ehemann einer kurz zuvor an malignem Lymphom verstorbenen Patientin, der beson- ders dafür dankt, daß sie beide vom ersten Tag der Diagnose über die volle Wahrheit unterrichtet wurden und über alle Entwicklungsmöglich- keiten der Krankheit informiert wa- ren. Sie hätten das Auf und Ab des letzten Krankheitsjahres gemeinsam getragen und die Gemeinsamkeit ih- rer Partnerschaft nie zuvor so inten- siv erlebt wie in diesem Jahr.

Die Einstellung der nicht-ärztli- chen Öffentlichkeit ist nicht minder widersprüchlich. Einerseits treffen wir Patienten, die in gesunden Tagen versichern, von einer späteren bösar- tigen Krankheit nichts wissen zu wol-

len, und ihren Arzt bitten, sie nicht aufzuklären. Es gibt Angehörige, die den Arzt beschwören, dem Patienten nichts von der bösen Wahrheit zu sa- gen. Andererseits verpflichten man- che Patienten ihren Arzt schon im voraus oder während der diagnosti- schen Maßnahmen, die volle Wahr- heit zu sagen, da sie genau wissen wollen, welches Schicksal sie erwar- tet.

Zurückhaltende Rechtsprechung Während die Rechtsprechung und die medizin-ethische Diskussion des letzten Jahrzehnts das Recht des Patienten, über mögliche Gefahren von Eingriffen, diagnostischen Maß- nahmen oder bestimmten Behand- lungsverfahren aufgeklärt zu wer- den, ganz in den Vordergrund stellt (2, 3), werden für die Aufklärung von Patienten über ihre bösartige Krankheit weitgehende Ausnahmen von der Aufklärungspflicht des Arz- tes für rechtens gehalten. Deutsch (1) spricht (1980) vom therapeuti- schen Privileg des Arztes, die Wahr- heit der Krankheit zum Tode dem Patienten aus Gründen seiner Scho- nung vorzuenthalten. In den letzten Jahren entstehen in diesem Rechts- bereich jedoch Unsicherheiten. Die Wahrheit auch bei bösartiger Krank- heit vorzuenthalten, kann dem Prin- zip der sogenannten Selbstbestim- mungs-Aufklärung widersprechen:

„Sie dient der rechtswirksamen Ein- willigung des Patienten in die Heil- behandlung, also der Selbstbestim- mung des Kranken. Diese Selbstbe- stimmungs-Aufklärung soll die freie Entscheidung des Patienten sichern.

Er soll wählen können, ob er einen Eingriff durchführen lassen will oder nicht, und wenn ja, welchen" (Kern und Laufs, 1983, Seite 53) Hinzu kommt ein Wandel in der Einstel- lung zur Frage, ob dem Patienten durch eine solche Aufklärung tat- sächlich Schaden zugefügt wird oder ob sie ihm nicht hilft, seine Krank- heit zu verarbeiten (siehe das folgen- de Kapitel).

Fortschritte der Krebsbehandlung Konnte die Diagnose Krebs frü- her kurzweg mit baldigem Tod und Dt. Ärztebi. 89, Heft 16, 17. April 1992 (27) A1-1415

(2)

schlimmem Leiden identifiziert wer- den und konzentrierten sich die Be- handlungsmaßnahmen weitgehend auf Palliation, hat sich die Situation heute geändert. Zwar ist die Ge- samtzahl der an Krebsleiden verstor- benen Patienten bislang nicht zu- rückgegangen (4), und die Überle- benszeit von Patienten mit einer der häufigen Krebsarten hat sich nur un- wesentlich verlängert. Bei zahlrei- chen Krebsarten sind aber Heilun- gen in steigender Häufigkeit mög- lich, zum Beispiel bei malignen Lym- phomen, Hodenkrebs, osteogenem Sarkom und akuten Leukämien Und es werden in früher hoffnungslosen Situationen zumindest langfristige Remissionen mit guter Lebensquali- tät erreicht. Schließlich haben die Fortschritte der modernen palliati- ven Krebsbehandlung durch Opera- tion, Schmerzbestrahlung, kombi- nierte medikamentöse Analgesie und immer wirksamere Antiemese die Qualität des verbleibenden Le- bens eines Krebskranken erhöht. Da sich also die medizinischen Voraus- setzungen in der hier angedeuteten Weise vielfältig verändert haben, muß sich auch die medizinische Auf- klärung bei Krebskranken neu orien- tieren.

Die psychologische Reaktion des Krebskranken

Die wichtigste Begründung von Arzten, ihrem Patienten die Wahr- heit vorzuenthalten, und von Ange- hörigen, sie vor ihm zu verbergen, war die Furcht vor dem erwarteten Schrecken des Patienten bis hin zu schweren psychotischen Reaktionen, bis zum Suizid. Auch wenn die Häu- figkeit schwerer depressiver Reak- tionen von Patienten in skandinavi- schen Krebskliniken im Vergleich zu anderen Patienten nicht erhöht war, zeigen große Statistiken eine leicht erhöhte Suizidrate unter Krebskran- ken (5). Dies betrifft insbesondere Patienten über 60 Jahre mit fortge- schrittener Krankheit im ersten Jahr nach Diagnosestellung. In vielen Fäl- len hat sich retrospektiv nachweisen lassen, daß suizidale Patienten be- reits eine depressive Veranlagung hatten. Ängste, der Patient breche vor der schlimmen Wahrheit zusam-

men, werden durch die langjährigen Erfahrungen klinischer Onkologen nicht gestützt. Verantwortlich ge- führte ärztliche Aufklärung und das Vertrauen zum behandelnden Arzt, aber auch das offene Vertrauen in- nerhalb Familie und Freundeskreis, lassen schwerwiegende Verzweif- lungsreaktionen heute zur Rarität werden.

über seine Krankheit zum Tode er- scheint sinnvoll, weil der eigenver- antwortliche Mensch die Chance und das Recht haben muß, eine in- nere Einstellung zum Tode bzw. zu seinem verbleibenden Leben zu ge- winnen. Zum anderen ist die Aufklä- rung für das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt, aber auch zur Familie und unter Freun- den eine entscheidende Vorausset- zung. Schließlich kann nur eine wahrheitsgemäße Aufklärung die vielfältigen und jahrelangen Thera- piemaßnahmen erträglich machen.

Innere Einstellung des Patienten

zum verbliebenen Leben und zum Tod

Es ist für jeden Patienten schwer, die innere Einstellung zur neuen Wahrheit zu finden. Die bis- lang offene, in weiter Ferne liegende Grenze seines Lebens wird plötzlich konkret und bestimmbar. Viele Pa- tienten lernen, sich Gedanken zu machen, wie diese Zeit gut genutzt werden kann. Gelingt es, eine Ände- rung der Einstellung zum verbliebe- nen Leben einzuleiten, dann gelingt es auch, die Krankheit zum Tode besser zu akzeptieren. Die neue Be- ziehung zum eigenen Tod und zum begrenzten Leben wird bei manchen Menschen eine Vertiefung ihrer reli- giösen Bindung auslösen und das Vertrauen in Geborgenheit und Frieden verstärken. Bei vielen Pa- tienten führt die existentielle Bedro- hung zu einer Änderung bisheriger Lebenskonzepte. Für die meisten ist

es ebenso wichtig wie schwierig, die neue Gewißheit gemeinsam mit dem Partner und der Familie zu erleben und den Freundeskreis ungezwun- gen einzubeziehen.

Der Arzt greift in ein komplexes Beziehungsgefüge ein, wenn er dem Patienten die Wahrheit über seine tödliche Krankheit mitteilt. Die Auf- klärung des Patienten ermöglicht es diesem aber, sich innerhalb seiner sozialen Verflechtungen, auf dem Boden seiner Überzeugungen und Einstellungen, sein weiteres Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Der Arzt, der den Patienten nicht aufklärt, übernimmt die Verantwor- tung, ihm diese Möglichkeit vorzu- enthalten. Er muß schwerwiegende Gründe haben, in diese Grundfrei- heit seines Patienten einzugreifen.

Vertrauensverhältnis zum Arzt und zur Familie

Für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist es wichtig, wenn der Patient über die Wahrheit seiner Krankheit zum To- de Bescheid weiß. Allerdings lehrt der ärztliche Alltag, daß Patienten ihrem Arzt auch dann voll vertrauen, wenn er sie aus Gründen der Scho- nung nicht aufgeklärt hat. Dieses Vertrauensverhältnis kann aber jäh zerbrechen, wenn die volle Wahrheit

— aus welchen, oft banalen Gründen auch immer — bekannt wird. Dage- gen fühlt sich der Patient geborgen, wenn sein Arzt ihn über Charakter und Entwicklung der Krankheit in- formiert hat und er darauf bauen kann, daß dieser das auch in Zukunft tut. Die Offenheit zwischen Arzt und Patient wird so eine große Hilfe für den Patienten. Sie ist wie eine Brük- ke, über die er in den kommenden Wochen und Monaten sicher gehen kann.

Ähnliches gilt für die Wahrheit über die Krankheit zum Tode zwi- schen Ehepartnern, innerhalb der Familie und im Freundeskreis. Es ist ein Unglück zu erleben, wenn ein Ehepartner zusammen mit dem be- handelnden Arzt die böse Wahrheit über Wochen und Monate ver- schwiegen hat und sie durch irgend- einen Zufall bekannt wird. Wenn dann das Netzwerk von Halbwahr-

I Motivation zur Aufklänmg iiber die

Krankheit zum Tode

Die Aufklärung eines Patienten

Dt. Ärztebl. 89, Heft 16, 17. April 1992 (29) A1-1417

(3)

heiten zerreißt, kann das Vertrau- ensverhältnis zwischen den Partnern in schwere Krisen geraten. Es ist bit- ter, sich als Patient klar machen zu müssen, daß die Ehefrau seit langem von der existentiellen Bedrohung durch die bösartige Krankheit wußte und man sich selbst grundlosen Hoff- nungen hingab. Tolstoi (6) hat dies eindrucksvoll beschrieben: „Was ihn am meisten quälte, war die Lüge . . daß er nur krank sei und keineswegs auf den Tod darniederliege, und daß er sich nur ruhig verhalten und ku- rieren lassen müsse. . . Es quälte ihn, daß jene nicht eingestehen wollten, was alle wußten und was er auch selbst wußte. Es war ihr Wille, ihn angesichts seiner entsetzlichen Lage zu belügen, ja sie . . . zwangen ihn selbst noch zum Lügen."

Trotz der öffentlichen Diskussi- on über Sterben im Krankenhaus, Hospizbewegung, Patiententesta- ment stehen wir hier dem vielfach beschriebenen Phänomen der Unfä- higkeit unserer Gesellschaft gegen- über, über Sterben, Tod und tödliche Krankheiten mit dem jeweils Betrof- fenen zu sprechen. Dieses Tabu be- trifft auch die Ärzteschaft, so daß nur wenige von uns als Lehrer ihre Studenten und jungen Ärzte lehren, über nahen Tod und Sterben und die Aufklärung darüber mit Patienten und Angehörigen zu sprechen.

Einstellung des Patienten zur Krankheit und ihrer Behandlung

Aufklärung über den Charakter der Krankheit, ihre Ausbreitung und die Lebenserwartung kann man als Voraussetzung für die Entscheidung eines Patienten betrachten, sich in das diagnostische und therapeuti- sche System moderner Onkologie zu begeben. Es ist heute kaum mehr denkbar, sich operieren zu lassen, sich einer Strahlentherapie zu unter- ziehen oder in monatlichen Abstän- den chemotherapiert zu werden, oh- ne zu wissen, welchem Ziel dieser Einsatz dient. Wie könnte ein Pa- tient diese Belastungen ertragen, wüßte er sich nicht in der Führung seines Arztes, der ihn im offenen Gespräch über die Chancen einer längerdauernden Remission, zumin-

dest über längerdauernde Beschwer- defreiheit oder aber über die Mög- lichkeiten einer Heilung informiert hat?

Das Aufklärungsgespräch Der Patient kennt meist nur das ominöse Wort Krebs und assoziiert damit Leiden und Tod. Er sollte da- her zu Anfang erfahren, wie unter- schiedlich Krebskrankheiten ver- schiedener Organe verlaufen und wie sehr sich die Behandlungschan- cen in den letzten Jahren geändert haben. Viele Patienten fragen aber konkret nach der .. Prognose. Wäh- rend die mittlere Überlebenszeit als statistischer Wert bekannt sein mag, liegt die individuelle Prognose im Dunkeln. Dies kann der Arzt nutzen, indem er die Bedingungen besonders ungünstiger und besonders günstiger Verläufe schildert. Der Patient wird für sich in der Regel von einer gün- stigen Prognose ausgehen.

Behandlung und Nebenwirkungen Es ist legitim, die geringen Chancen der Behandlungsmöglich- keiten vor einigen Jahrzehnten jenen moderner Onkologie gegenüberzu- stellen. Darüber hinaus kann der Hinweis hilfreich sein, daß die Krebsforschung kontinuierlich neue Behandlungsmethoden entwickelt, die bei einem späteren Rückfall zur Anwendung kommen können.

Auf keinen Fall sollte man die möglichen Nebenwirkungen der Therapie herunterspielen oder dem Patienten diese Information gar vor- enthalten. Die Nebenwirkungen von Strahlen- und Chemotherapie, aber auch die Folgen eines Ileostoma sind der sorgfältigen Besprechung wert.

Eine unerwartete oder bei der Auf- klärung vergessene Nebenwirkung

— etwa Haarausfall — trifft den Pa- tienten ungleich härter, als wenn er von Anfang an damit gerechnet hat.

Gesprächsführung

„Keine Aufklärung ohne Hoff- nung!" Diese Devise sollte über je- dem Aufklärungsgespräch stehen.

Unter den Bedingungen moderner

Onkologie läßt sich in der Mehrzahl der Fälle das erste Gespräch mit be- gründeter Hoffnung verbinden, sei es auf Heilung, auf Verlängerung des Lebens oder wenigstens auf vor- übergehende Besserung der Krank- heitssymptome. Wenn eine dieser Hoffnungen bereits in die ersten Sät- ze des Aufklärungsgesprächs mit hineingetragen wird, ist die Warheit für den Patienten leichter zu ertra- gen.

Auch im Hinblick auf den wach- senden Kenntnisstand der Bevölke- rung über Frühsymptome bösartiger Krankheiten ist es für den Patienten schonender, in Stufen aufgeklärt zu werden. Das soll heißen, daß man schon zu Beginn der Diagnostik auch auf die Möglichkeiten einer schwer- wiegenden Krankheit hinweist. Be- stätigt sich die Diagnose, hat der Pa- tient schon begonnen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Wird der Ver- dacht ausgeräumt, ist die Erleichte- rung groß.

Eine jüngste Studie (7, 8) in den Vereinigten Staaten hat darauf hin- gewiesen, daß Ort und Umstände des Aufklärungsgespräches den Pa- tienten maßgebend beeindrucken. 23 Prozent der befragten Patienten war die Diagnose einer bösartigen Er- krankung per Telefon und 19 Pro- zent im Aufwachraum unmittelbar nach der Operation durch den An- ästhesisten mitgeteilt worden. Diese Art der Aufklärung wurde als un- menschlich empfunden im Gegen- satz zur Aufklärung durch den pri- mär behandelnden Arzt im Sprech- zimmer oder im Krankenzimmer ei- nes Krankenhauses. Die Erfahrung in unserem Lande bestätigt, daß Aufklärung über eine Krankheit zum Tode vielfach in unwürdiger Form stattfindet. Dieser Augenblick im Leben eines Patienten, wo sein Ende plötzlich in eine reale Dimension ge- rückt ist, bedarf aller ärztlichen Ver- antwortlichkeit. Deshalb muß sich der Arzt Zeit nehmen und den rich- tigen Ort finden. Zu einem solchen Gespräch kann der Arzt den Patien- ten — in der Regel zusammen mit seinem Partner — in die Sprechstun- de bzw. in das Arztzimmer der Stati- on bitten. Telefonische Mitteilungen der Diagnose durch den Radiologen oder Aufklärung im Aufwachraum A1-1420 (32) Dt. Ärztebl. 89, Heft 16, 17. April 1992

(4)

durch Ärzte, die den Patienten im übrigen nicht kennen, entsprechen nicht den Bedingungen verantwortli- cher Aufklärung.

Damit stellt sich die Frage, wel- cher der beteiligten Ärzte für die Aufklärung verantwortlich sein soll- te. Das ist eigentlich der für die Pa- tientenbetreuung und das gesamte Krankheitsbild zuständige Arzt. In vielen Fällen ist es der Hausarzt, der d en Patienten kennt und ihn vermut- lich über Monate und Jahre führen wird. Es ist vielleicht der Facharzt, der zum Beispiel als Gynäkologe die Patientin lange Zeit betreuen wird.

Es kann auch der Stationsarzt in ei- nem Krankenhaus sein, wo die Dia- gnose schließlich nach zahlreichen diagnostischen Maßnahmen gestellt wurde und eine Behandlung einge- leitet werden muß. Aus der Sicht des Krankenhausarztes muß angefügt werden, daß es auf keinen Fall einer der konsiliarisch zugezogenen Ärzte sein sollte, der für den Patienten im übrigen nicht verantwortlich ist.

Grenzen der Aufklärung

Wie ein roter Faden zieht sich durch diese Ausführungen die Forde- rung, mit der Aufklärung über die Krankheit zum Tode gleichzeitig Hoffnung zu vermitteln. Ist aber Auf- klärung des Patienten über seinen Zu- stand noch gerechtfertigt, wenn Hoff- nung weder auf Heilung noch auf Le- bensverlängerung noch auf Beeinflus- sung der Beschwerden vermittelt wer- den kann, wenn sich der Patient also in einer hoffnungslosen Endphase sei- ner Krankheit befindet?

Kommt es erst in einer solchen Endphase der Krankheit zur Ent- scheidung über die Aufklärung, ist eine besondere Sensibilität des ver- antwortlichen Arztes notwendig. Der Patient selbst kann der Maßstab sein, ob und inwieweit die Wahrheit über den Krankheitszustand mitge- teilt wird. Es gelingt oft, durch vor- s] chtige Gesprächsführung festzu- stellen, ob der Patient die Wahrheit lieber nicht wissen möchte, ob er von Ängsten vor einer bösartigen Krank- heit erfüllt ist oder ob er ganz darauf fixiert ist, eine weniger schwerwie- gende Krankheit anzunehmen. Wird

so erkennbar, daß er die Wahrheit offensichtlich nicht wissen will oder daß er in anderen Fällen die ihm bis- her wohlbekannte Wahrheit ver- drängt, das heißt nicht mehr wissen will, sind uns keine Argumente be- kannt, die es dem Arzt zur Pflicht machen, dem Patienten diese Wahr- heit jetzt aufzudrängen. Offenbar können Patienten in dieser Situation Schutzmechanismen aufbauen, die sie möglicherweise in früheren Situa- tionen ihres Lebens auch eingesetzt haben. Solche Schutz- und Verdrän- gungsmechanismen scheinen beson- ders ausgeprägt bei Ärzten als Pa- tienten in verzweifelter Situation aufzutreten. Derartige Schutzme- chanismen durch die brutale Wahr- heit zu durchbrechen, ist mit der De- vise des salus aegroti als oberstem Gesetz nicht zu vereinbaren.

Vor einer ganz anderen Situation kann man stehen, wenn ein Patient in dieser Verzweiflung insistierend nach der Wahrheit fragt. Auch wenn es für den Arzt hart ist, die Wahrheit zu sa- gen, und sich Angehörige gelegentlich gegen die Aufklärung des Patienten wehren — der Patient fragt. In dieser Situation die Unwahrheit zu sagen, ist nach unserem Urteil nicht zu verant- worten. Dieser Patient möchte seine letzten Tage in einer Weise nutzen, wie es möglicherweise weder Arzt noch Familie vorhergesehen haben.

Er möchte bewußt zum Sterben kom- men, und dabei muß der Arzt ihm durch die Wahrheit helfen. Wer insi- stierend fragt, hat ein Recht auf Ant- wort. Selbst wenn in dieser Situation keine objektive medizinische Hoff- nung mehr zu vermitteln ist, kann in Würde und Ruhe ein Gespräch über die letzten Tage dieses Lebens zustan- de kommen

Die Fortschritte der modernen Onkologie — charakterisiert durch neue Behandlungsmöglichkeiten mit kurativer Zielsetzung, durch bessere Beherrschung palliativer Therapie und durch Änderungen der Einstel- lung zum verbleibenden Leben — machen ein Überdenken unseres Verhaltens zum Tumorpatienten er- forderlich. Die gemeinsame Bewälti- gung der schweren Last einer Krank- heit zum Tode, unter offener Beteili- gung von Familie und Freunden, kann geistige, emotionale und kör-

perliche Kräfte freisetzen, die die verbleibende Zeit zumindest erträg- lich, oft aber zu einer besonders in- tensiven Lebensphase machen.

Organisatorische Strukturen für die Bewältigung dieser Aufgaben sind nur ungenügend vorhanden.

Vieles geschieht auf Veranlassung und durch großes Engagement ein- zelner. Wir Ärzte müssen neue Ver- haltensweisen lernen und einüben (8). Seelsorger und Psychologen soll- ten fest in den Prozeß mit eingebun- den werden. Insbesondere ist eine Ausbildung der Studenten und Ärzte in der Führung von Tumorpatienten erforderlich. Das Interesse von Stu- dentinnen und Studenten an Semi- naren oder Vorlesungen über ethi- sche Problemkreise ist groß. Die Sensibilisierung für ein adäquates Verhalten an der Grenzzone zwi- schen Leben und Tod ist spürbar.

Gerade die moderne Onkologie kann zu einem neuen Verhältnis zwi- schen Arzt und Patient führen.

Dt. Ärztebl. 89 (1992) A1 -1415-1421 [Heft 16]

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Jürgen van de Loo PD Dr. med. Bernhard Wörmann Medizinische Klinik und Poliklinik, Abteilung Innere Medizin A, der Universität

Albert-Schweitzer-Straße 33 W-4400 Münster

Literatur

1. Deutsch, E.: Das therapeutische Privileg des Arztes: Nichtaufklärung zugunsten des Pa- tienten. Neue Juristische Wochenschrift 1980, 1305 —1309.

2. Kern, B. R. und Laufs, A.: Die ärztliche Auf- klärungspflicht. Springer-Verlag 1983.

3. Kleinwefers, H.: Zur Aufklärung des Patien- ten. Versicherungsrecht 1981, 99 — 104.

4. Bailar, J. C.; Smith, E. M.: Progress against cancer? New Engl. J. Med. 1986, 314:

1226 —1232.

5. Allebeck, P.; Bolund, C.; Bungbäck, G.: In- creased suicide rate in cancer patients. A co- hort study based an the Swedish Cancer-envi- ronment Register. J. Clin. Epidemiol. 1989, 42: 611— 616.

6. Tolstoi, L.: Der Tod des Ivan Iljitsch, Insel- Verlag 1980, Bd. 5, S. 222 ff.

7. Lind, S. E.; Del Vecchio M. J.; Seidel, S.;

Csordas, T. und Good, B. J.: Telling the Dia- gnosis of Cancer. J. Clin. Oncol. 1989, 7:

583-589.

8. Holland, J. C.: Now We Tell — But How Wen? Editorial: J. Clin. Oncol., 1989, 5:

557 —559.

Dt. Ärztebl. 89, Heft 16, 17. April 1992 (33) A1-1421

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

An selbsterzeugte, vorge- täuschte Krankheit sollte man denken, wenn wieder- holte Krankenhausaufenthal- te mit wechselnden, unge- klärten oder wenig substanti- ierten

„Durch eine allmählich wachsende positive Lebens- haltung habe ich mir selbst geholfen." Neue Lebenskräf- te und eine veränderte Ein- stellung zum Leben halfen auch einer

Dar- über hinaus gibt es einen Überblick über die im Rahmen der Initiative laufenden Pro- jekte sowie über Veröffentli- chungen und

Während der Stillzeit darf das Präparat nicht angewendet werden Hinweis Obwohl keinerlei Hinweise auf eine teratogene oder embryotoxische Wir kung bestehen, sollten Frauen,

Weltrich ha- be stets versucht, diese im Sinne einer Behandlungsfehlerprophylaxe für die ärztliche Fortbildung nutzbar zu ma- chen.. Sein Ziel sei es gewesen, zukünftig für

Zwei Fragen drängen sich auf: Kann das Leben oder auch der Willen des einzelnen Patienten allein vom ärztlichen Han- deln bestimmt sein, oder muß sich eine Behandlung am

Nur: daraus zu schließen, daß viele Krankheiten kein unab- wendbares Schicksal mehr seien und überwiegend auf persönliches Fehlverhalten zurückzuführen sind, ist doch

Die Rätsel der Krankheit sind auch 80 Jahre nach den Originalar- beiten von Alois Alzheimer nicht ge- löst, aber die Fragezeichen der For- schung haben sich seither wesentlich