Amnesie auf britisch
In einem knitterigen Anzug steht der Patient vorm Arzt und bittet um Hilfe: Vor einem Lon- doner Kaufhaus entdeckte er sich plötzlich sowie die Notiz auf einem Zettel, daß er den Doktor aufsuchen solle. Sonst erinnert er sich an nichts. Mel- depflicht gibt es in Britannien nicht, also ist es unnütz, die Po- lizei zu belasten. Schließlich fin- det sich in einer Anzugtasche ein Foto von einer fülligen Blon- dine im Bikini. „Das ist Mrs. Tay- lor!", jubelt der Arzt, ruft sofort bei ihr an, ihr Mann sei aufge- funden. Die erstaunte Antwort:
„Wieso denn das? Den habe ich seit drei Jahren nicht mehr ge- sehen." Der Mann mit Amnesie wird zu ihr gefahren.
Anruf am nächsten Vormittag in der Praxis: „Das war nicht mein Mann, sondern Mr. Hemmings aus der Nachbarschaft. Ich habe ihn bei mir übernachten lassen, und nun behauptet er, er müsse eigentlich auf einer Erdöl-Bohr- insel in der Nordsee sein." Kurz vor Praxisschluß erscheint er wieder. Er könne sich um nichts in der Welt erinnern, ob er ver-
Rät der britische Kollege: „Er hat kei- nen Lebenswillen mehr, — Sie sollten es mit einer Scheidung versuchen!"
heiratet sei oder nicht, und er zöge das letztere vor, weil es schon zu einem Krach zwischen Mrs. Taylor und Mrs. Hemmings gekommen sei. Der Arzt wird vorsichtig. Es gibt Leute, die Amnesie vorgeben, wenn sie größere Schwierigkeiten „ver- gessen" wollen...
Tags darauf erscheint Mrs. Tay- lor und an ihrer Seite eine Mrs.
Ransom, sichtlich erregt. Wie es sich der Arzt einfallen lassen könnte, ihren Mann, ihren Char- ly, an Mrs. Taylor weiterzuver- mitteln? Sie wolle ihn zurückha-
ben. Vom Arzt persönlich. So- fort. Der derart Bedrängte ver- sucht den Frauen beizubringen, daß er sich nie in die persön- lichen Angelegenheiten seiner Patienten einmische. Beide Frauen beginnen sichtlich zu lo- dern vor Empörung. Schließlich ruft er bei Frau Hemmings an.
„Wieso suchen Sie ihn ausge- rechnet bei mir? Dieser Mensch hat nicht nur mir die Ehe ver- sprochen." Der Arzt zögert, die- se Auskunft den beiden Damen vorm Schreibtisch weiterzulei- ten. Nach kurzer Pause fragt er, wohin der Mann denn nun ver- zogen sei? „Auf seine Bohrin- sel, denke ich." — „Gab er an, auf welche?" fragt der sich am ganzen Körper feucht fühlende Arzt. „Das weiß er nicht, er lei- det ja an Gedächtnisschwund."
Der einzige Ausweg für den ge- plagten Arzt ist der einer Lüge:
„Soeben erfuhr ich, daß er—wie heißt er noch? — der also, seine Stelle bei British Airways als Steward antrat und zur Zeit auf einem Flug nach Bahrein ist..."
Und mit dem freundlichen Rat, die Dinge sich selbst zur Klä- rung zu überlassen, begleitet er die beiden Frauen aufatmend aus der Praxis.
Arno Reinfrank, London
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
POST SCRIPTUM
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2594 (98) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A