Buchbesprechung: Medizin zwischen exakter Naturwissenschaft und humaner Verpflichtung
• Wilhelm Rimpau1
Bibliographische Angaben
Gerald Ulrich
Medizin zwischen exakter Naturwissenschaft und humaner Ver- pflichtung.
Ein interdisziplinäres Symposion.
Perspektiven. Schriften zur Pluralität in der Medizin. Hrsg. von P. F. Matthiessen
Frankfurt: VAS-Verlag für akademische Schriften 2003 ISBN 3-88864-381-3, 73 Seiten, 12,- €
Rezension
Einleitend postuliert der Altmeister der psychosomatischen und integrierten Medizin Thure von Uexküll, dass die Frage nach der Stellung der Medizin zwischen exakter Naturwissenschaft und humaner Verpflichtung Leitfaden jeder Ausbildung zum Arzt sein muss. Die Anwendung von Naturwissenschaft und Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit in und außerhalb der Medizin ist ein Grundproblem, mit dem jeder Arzt konfrontiert ist. Uexküll kon- statiert „frustrierende Orientierungslosigkeit" in den einschlägigen Debatten, z.B. der über die Gentechnologie.
Dem einen mag das vorliegende Büchlein als Einführung dienen, dem anderen werden bekannte Positionen, die seit über 100 Jahren diskutiert werden, erneut vor Augen geführt. Der Leser wird ein- bezogen in einen interdisziplinären Diskurs. Die Lebendigkeit des Austausches, die gemeinsame Konzentration auf jeweils einen Gegenstand nach Präsentationen knapper thesenartiger Einleitungen ist erfrischend und unterscheidet diesen Beitrag von nicht selten dogmatischen Monografien.
Der Psychiater G. Ulrich (Berlin) hat mit dem theoretischen Phy- siker, Astrophysiker, Mathematiker und Philosophen Hans-Jürgen Treder (Berlin) den Germanisten Friedrich Gaede (Freiburg/Hali- fax), den Psychiater Hans Heimann (Tübingen/Lausanne), den
Psychosomatiker Sven-Olaf Hoffmann (Mainz) und den Pharma- zeuten und Philosophen Georg Schönbächler (Zürich) unter der Schirmherrschaft von Thure von Uexküll (Freiburg) 2001 nach Berlin eingeladen. Jetzt erscheint ihr gemeinsames Gespräch.
Uexkülls Leitfiguren sind sein Vater Jakob, dem die Einsicht zu verdanken ist, dass Organismus und Umwelt zusammengehören, Gregory Bateson, der ontologisch-dualistische Konzepte „Sympto- me einer Krankheit der Erkenntnistheorie" nannte, Jean Piaget, der die „Konstruktion der Wirklichkeit" beim Kind nachwies und Charles Sanders Peirce, der die Zeichen-Natur der Bausteine be- schrieben hat, aus denen die Wirklichkeiten lebender Systeme konstruiert werden.
Quintessenz der Diskussion ist Komplementarität. Das Verhältnis zwischen Natur und Geist, zwischen Soma und Pyche, Rationalität und Intuition, Ideographik und Nomothetik, Kausalitätswissen- schaften und Indizienwissenschaften sind gleich einem Januskopf komplementäre Aspekte derselben Wirklichkeit. Studierende und Ärzte müssen sich nicht verlassen fühlen im Dschungel nur scheinbar widersprüchlicher Theorien. Die Entdeckung der Bio- graphie als einer eigenständigen Disziplin oder John Hughlings Jacksons über 100 Jahre alte Forderung nach der „doppelten Buchführung" lässt den Arzt heute eine kritische Haltung einneh- men: Kritik am operationalen Klassifizieren, Kritik an der Entwick- lungslinie Mechanik - Technik - Information, die vom Verständnis der Lebensprozesse weiter weg- als hinführt, Kritik an der patien- tenfernen „Transmitterpsychiatrie" oder dem Satz, „wer die Gene kennt, der kennt das Leben".
Die Medizin ist gegenwärtig durch unvermitteltes und willkürliches Nebeneinander unterschiedlicher Denkstile und Praxisansätze ge- kennzeichnet. Der hier dokumentierte Diskurs zeigt, wie und dass diesem Durcheinander beizukommen ist, wir müssen ihn nur wollen und in unseren Fakultäten, Instituten und Krankenhäusern üben und pflegen.
Korrespondenzadresse:
• Prof. Dr. Wilhelm Rimpau, Park-Klinik Weissensee, Neurologie, Schönstr. 80, 13086 Berlin
rimpau@park-klinik.com
1 Park-Klinik Weissensee, Neurologie, Berlin, Deutschland
BuchbesprechungHumanmedizin
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g2p(Z20050411.3)
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