[88] Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 22|
4. Juni 2010S C H L U S S P U N K T
D
ie Deutschen sind Reiseweltmeister, schei- nen dem unstillbaren Zwang zu unterliegen, alle Hochglanzprospekte der Reisebüros mit per- sönlichem Leben erfüllen zu müssen. Grenzenlose Freiheit, schieres Vergnügen, all das völlig ohne Risiken und Nebenwirkungen. Wenn das nur wirk- lich so wäre. Vor mir sitzt eine 82-jährige schwer herzkranke Dame, deren nichtrevaskularisierbare Koronarerkrankung medikamentös nur schwer einzustellen ist. Und das seit Jahren. Nachdem ich ihr empfohlen habe, die antianginöse Dreifach- therapie bis zur Tagesmaximaldosis zu steigern, erwähnt sie beiläufig, dass ihr Sohn beabsichtige, sie dieses Jahr nach Thailand mitzunehmen. Die Reise sei schon gebucht, ich hätte ja sicher nichts dagegen, nicht wahr? Ich habe etwas dagegen. Ob sie sich vorstellen könne, was passiert, wenn sie in 12 000 Metern Flughöhe einen nitratrefraktären Angina-pectoris-Anfall erleidet? „Ich weiß gar nicht, was Sie sich so anstellen. Vor zwölf Jahren bin ich schon mal dahin geflogen, da ging alles gut!“ Ich teile aber ihren jugendlichen Optimis- mus nicht. Ob eine kardiologische Versorgung vor Ort gewährleistet sei, will ich wissen. „Nun sind Sie mal nicht so pessimistisch. Neben dem Hotel ist ein Krankenhaus!“ Ob denn im besagten Kran- kenhaus die Kosten privat bezahlt werden müss- ten? „Darum brauchen Sie sich nicht zu sorgen, das macht mein Sohn!“ Ich habe zwar keine Lust, den Ferienverderber zu spielen, hinterfrage trotz- dem, ob eine Fahrt ins Landesinnere bei 42 Grad Celsius Außentemperatur und 80 Prozent Luft- feuchtigkeit noch ertragbar sei. „Also, ich weiß nicht, was Sie das kümmert, vor zwölf Jahren . . . “ – ich weiß, da ging alles gut. Nein, so meine ich, es tue mir sehr leid, aber bei einer medikamentös refraktären Angina pectoris CCS III könne ich ihre Fernostreise nicht befürworten.Die alte Dame verlässt das Sprechzimmer, sichtlich enttäuscht. Ein schlechtes Gefühl be- schleicht mich. Am Abend ruft mich der Sohn an, ob ich es ernst meinen würde. Ja, bekräftige ich, die Reise sei aus kardiologischer Sicht nicht zu befürworten. Mein schlechtes Gefühl verdichtet sich. Zwei Tage später trifft die Anfrage der Rei- serücktrittsversicherung ein. Ob die den Urlaub verhindernde Erkrankung bei Vertragsabschluss bekannt gewesen sei, will die Versicherung von mir wissen. Mein schlechtes Gefühl überwältigt mich, soll ich falsch antworten? Nein, ich bleibe
bei der Wahrheit. Ja, ich stelle mich an, es küm- mert mich, ich bin pessimistisch, ich sorge mich, und ich habe jetzt das Problem: Die Versicherung wird niemals die Reisekosten zurückerstatten.
Und wer ist daran schuld? Ich. Aber wir Ärzte kommen ja auch nicht in den Hochglanzprospek- ten vor. Dort gibt es keine Risiken und Nebenwir- kungen.
VON SCHRÄG UNTEN
Fernost
Dr. med. Thomas Böhmeke
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.