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Archiv "Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik: In Etappen zur Einheit" (10.05.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT ÄRZTEBLATT

UE LE POLITIK

Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik:

In Etappen zur Einheit

Mit der Öffnung der Grenze zur Bundesrepublik sind härtere Daten und zuverlässigere Informationen über die tatsächliche medizinische Versorgung in der DDR verfügbar geworden, die schwerwiegende Män- gel, finanzielle, personelle und orga- nisatorische Defizite, eine augenfäl- lige Diskrepanz zwischen politi- schem Anspruch und tatsächlicher Versorgungssituation im „real exi- stierenden Sozialismus" offenlegten.

In das Vakuum des Nichtinformiert- seins, der Angst und Verunsicherung vor allem bei den Bürgern in der DDR stößt eine soeben erschienene Buchveröffentlichung 1). Die Auto- ren: Prof. Dr. med. Michael Arnold (61), langjähriger Ordinarius für Anatomie an der Universität Tübin- gen, seit April 1990 Inhaber einer Stiftungsprofessur „Gesundheitssy- stem-Forschung" an der Medizini- schen Fakultät der Universität Tü- bingen, zugleich Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Kon- zertierte Aktion im Gesundheitswe- sen; und Obermedizinalrat Dr. sc.

med. Berndt Schirmer (45), Stellver- treter des Ministers für Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, Berlin (Ost).

Was vor noch nicht allzu langer Zeit von offizieller Seite in der DDR totgeschwiegen und/oder beschönigt wurde, wird jetzt als systemimma- nente Mängel eines verplanten, inef- fizienten und total überholungsbe- dürftigen Systems eingestanden.

Als gravierende Mängel werden für das DDR-Gesundheitssiche- rungssystem genannt: Intransparenz der überwiegend steuerlich/staatlich finanzierten Gesundheitssicherung (bis zu 80 Prozent des DDR-Ge- sundheitswesens werden aus starren, staatskontrollierten und völlig unzu- reichenden Töpfen finanziert); In- suffizienz durch Planung auf allen Ebenen, Fehlen von Leistungsanrei- zen, materielle Defizite in allen Be- reichen; kein Datenschutz, erschrek- kender Verfall der Bausubstanz vor

allem bei stationären Einrichtungen, ungenügende und unmoderne tech- nische Ausrüstung; Anonymität der ambulanten Versorgung, einge- schränkte Arztwahl der Patienten;

eklatante Widersprüche von An- spruch und politischem Willen, Ver- geudung von Mitteln, Überbürokra- tisierung und für jeden sichtbar ge- wordene Zwei-Klassen-Medizin vor allem im stationären Bereich infolge der Bevorzugung von Staatskranken- häusern und Sondereinrichtungen für „Polit-Aktive".

Was den Vergleich einiger mar- kanter Kennziffern im Gesundheits- wesen betrifft, so gibt es anscheinend kaum Unterschiede zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR: 1989 waren in der DDR rund 590 000 Mitarbeiter im Ge- sundheits- und Sozialwesen tätig — etwa soviel wie 1988. Allerdings:

Statt des geplanten Zuwachses von 8000 bis 10 000 im Jahr 1989 kam es durch die relativ hohe Zahl von Übersiedlern (etwa 10 000) zur Sta- gnation. Von der Gesamtzahl der Beschäftigten sind rund 40 000 an Universitäten und Hochschulen, zir- ka 5000 in Verkehrs- und Sportmedi- zinischen Zentren und 25 000 in kon- fessionellen Einrichtungen tätig.

Ende 1989 gab es rund 40 000 Ärzte, das entspricht einem Betreu- ungsgrad von mehr als 400 Einwoh- nern je Arzt (Bundesrepublik: 328).

Für 1995 wird von rund 48 000 Arz- ten und für das Jahr 2000 von rund 50 000 Ärzten ausgegangen.

In der zahnmedizinischen Ver- sorgung ist infolge der Westabwan- derung inzwischen ein „Schwund"

festzustellen. 1989 waren von den 12 300 Zahnärzten nur 450 in eigener Praxis tätig. Gegenüber 1988 hat sich die Zahl der berufstätigen Zahnärzte in der DDR erstmals durch die hohe Zahl ausgereister Zahnärzte um 600 verringert. „Geplant" war eigentlich eine Steigerung um 400 bis 500 Zahnärzte. Bis 1995 sollten 15 000 Zahnärzte in der DDR tätig sein.

Katastrophal ist die Situation besonders im Bereich der Ambulato- rien und der Akutkrankenhäuser.

Von den rund 165 000 Betten in 540 Krankenhäusern sind rund 50 000 Betten total erneuerungsbedürftig, zumindest renovierungsbedürftig, um sie auf West-Versorgungsstan- dard zu bringen. Die Medizintechnik und Apparatemedizin ist unzurei- chend und zudem völlig überaltert.

Der durchschnittliche Automatisie- rungsgrad in den Labors der DDR liegt zur Zeit bei nur 18 Prozent, ge- genüber 90 Prozent in Labors von hochindustrialisierten westlichen Ländern. Das Niveau der produzier- ten Medizintechnik hat sich in den letzten Jahren qualitativ nicht ver- bessert. Das vernichtende Urteil des stellvertretenden DDR-Ministers Schirmer: „Die in den Gesundheits- einrichtungen vorhandene Technik ist zum großen Teil überaltert, mora- lisch und physisch verschlissen . . .".

Hoher Sanierungsbedarf

Obwohl die DDR auch einige Pluspunkte für ihr Sicherungssystem reklamiert (so die vier Jahre dauern- de Pflichtweiterbildung zum Allge- meinarzt und/oder das Betriebsge- sundheitswesen), ist nicht alles

„Gold, was glänzt". So ist die haus- ärztliche Versorgung in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik weder flächendeckend noch rund um die Uhr sichergestellt. Auch die angebli- che ambulant-stationäre Verzah- nung der Polikliniken und Ambula- torien läßt noch zu wünschen übrig.

Zudem ist das Arzneimittelangebot in der DDR auf eine Positivliste, die knapp 2000 Präparate enthält, be- schränkt. Die Listenwirtschaft hat ebensowenig den Arzneimittelver- brauch verringert wie das angeblich intakte Betriebsgesundheitswesen (BGW), in dem die Ärzte auch kura- tiv tätig sein können und das daher die Warteschlangen zumindest für Werktätige abkürzt, die Arbeitsunfä- higkeit begrenzt hat.

Die ernüchternde Bilanz der

Autoren Arnold und Schirmer: „Es

gibt bei realistischer Einschätzung der Lage keine andere Lösung, als die Strukturen, Kapazitäten, rechtli- Dt. Ärztebl. 87, Heft 19, 10. Mai 1990 (17) A-1501

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Gesundheitswesen in Ost und West

Unterschiedliche Grundversorgung

Anzahl je 10.000 Einwohner

110

29

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rzte

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Bundesrepublik

Zahnärzte Apotheker

Krankenhaus- betten chen und ökonomischen Rahmenbe-

dingungen der Bundesrepublik zum Vorbild für das medizinische Versor- gungssystem eines freien Deutsch- lands zu nehmen." Dies sei nicht zu- letzt im Hinblick auf den Binnen- markt in Europa ab 1993 angebracht.

Sicherlich würden bei einem bloßen Systemtransfer aus der Bundesrepu- blik in die DDR auch alle Probleme mitübernommen, schreiben die Au- toren, an deren Lösung zur Zeit in der Bundesrepublik gearbeitet wird.

Doch erscheine es in Abwägung aller Alternativen nicht möglich, den Pro- zeß der Angleichung und Harmoni- sierung durch gleichzeitige umfas- sende und sensible Reformen wie et- wa der Organisations- und Struktur- reform der Krankenkassen noch zu komplizieren. Notwendig und über- fällig werdende Reformen sollten so lange zurückgestellt werden, bis ein einheitliches Versorgungssystem mit gegliederten Krankenkassen und ei- ner funktionierenden Selbstverwal- tung (Ärztekammern, Kassenärzt- liche Vereinigungen, selbständige regional gegliederte Kassen) gebil- det wurde. Der Prozeß des Zusam- menwachsens koste eine Menge Auf- wand und Zeit und könne nur in Etappen geschehen. Zeit stünde aber nicht zur Verfügung, wenn man die Lebenslage im Interesse der Be- völkerung der DDR rasch ändern wolle.

Übergangsregelungen

Die Autoren schlagen bei der Neuordnung der Finanzierung vor, ein gegliedertes Sozialversicherungs- system auch unter Berücksichtigung von sofort startklaren privaten Versi- cherungen aufzubauen, das durch solidarisch aufgebrachte Versicher- tenbeiträge finanziert werden sollte.

Allerdings sei zur Bewältigung der Startprobleme eine über Steuern zu finanzierende „Anschubfinanzie- rung" dringend notwendig, denn sonst sei das System überfordert, auch die duale Finanzierung im Krankenhaussektor. Auf eine „zen- trale materielle und personelle Pla- nung" sollte verzichtet werden.

Zur Gewährleistung der statio- nären Versorgung könne nicht der

Neubau von Krankenhäusern mit et- wa 50 000 Betten abgewartet wer- den, vielmehr müßten Übergangslö- sungen gefunden werden. Der Inve- stitionsbedarf beträgt allein im Kli- niksektor nach überschlägigen Schätzungen 25 bis 30 Milliarden DM (!), davon 5 Milliarden DM jährlich. Um die gröbsten Mängel zu beseitigen und die Versorgung zu ge- währleisten, dürfe in keinem Fall nach bundesdeutschen Maßstäben saniert werden, weil damit die Ge- fahr verbunden werde, daß unzu- längliche Provisorien am Leben blie- ben. Um die Niederlassung von Ärz- ten und Zahnärzten (die Rede ist beim Virchow-Bund von rund 8000 Ärzten, die eine eigene Praxis an- streben) sowie die Privatisierung von bisher verstaatlichten Apotheken zu fördern, sei ein weiterer Investitions- bedarf von rund 3 Milliarden DM notwendig. Allerdings müßten zuvor die Eigentums-, Gebührenordnungs- und Finanzierungsfragen und die prinzipiellen Grundstrukturen auch unter Berücksichtigung der Bedarfs- planungsgrundsätze geklärt werden.

90 04 07

Die medizinische Versorgung in der DDR liegt - nicht nur statistisch gesehen - unter dem Niveau in der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn die Zahlen relativ dicht beieinander liegen, die Wirklichkeit sieht trostlos aus. Polikliniken und Ambula- torien, die die medizinische Grundversor- gung gewährleisten müssen, sind beschei- den ausgestattet. Der Gerätepark ist veral- tet, der bauliche Zustand oft miserabel.

Polikliniken und Ambulatorien sollten so weit und so lange weiterge- führt werden, wie dies zur Versor- gung der Bevölkerung erforderlich ist. Um langfristig ordnungspoliti- sche Systemklarheit zu schaffen, soll- ten diese zum anonymen Betrieb tendierenden Institutionen auf Dau- er aufgelöst werden. Parallele und unterschiedliche Versorgungsprinzi- pien seien nicht tolerabel, schon al- lein um unterschiedliche Leistungs- und Anbieterstrukturen zu vermei- den und Abwanderungsanreize in den Westen zu unterbinden. Die teil- weise geringe Produktivität in poli- klinischen und ambulatorischen Ein- richtungen der DDR erlaube es, Per- sonal in Krankenhäuser und Pflege- heime zu vermitteln, in denen zur Zeit noch gravierender Personal- mangel besteht. Eine soziale Absi- cherung der durch Schließung von staatlichen halbambulatorischen Einrichtungen freigesetzten Mitar- beiter müßte selbstverständlich sein.

Die hierfür erforderlichen Aufwen- dungen seien jedenfalls geringer als kostenaufwendige Systemverände- rungen in der Bundesrepublik.

Nachdrücklich empfehlen die Autoren Arnold und Schirmer eine Art „Entwicklungshilfe" und einen beiderseitigen Erfahrungs- und Schulungsaustausch. Rund 30 000 bis 40 000 Mitarbeiter in der DDR müssen geschult werden, um die Verwaltungsstrukturen nach einem in der DDR bisher völlig unbekann- ten gegliederten System aufzubauen, die unter anderem für Beitragsein- nahme, Vertragsabschlüsse und Lei- stungsvergütungen erforderlich sind.

Dabei sollte in der Aufbauphase von den Krankenkassen möglichst ge- meinsam und konzertiert und nicht nur auf der „Wettbewerbsschiene"

gehandelt werden, so die Empfeh- lung der Autoren. Dr. Harald Clade

1) Michael Arnold/Berndt Schirmer: „Gesund- heit für ein Deutschland" — Ausgangslage, Pro- bleme und Möglichkeiten der Angleichung der medizinischen Versorgungssysteme der Bundes- republik Deutschland und der DDR zur Bildung eines einheitlichen Gesundheitswesens, Deut- scher Ärzte-Verlag GmbH, Köln, 1990, 144 Sei- ten, broschiert, 38,- DM/M

Quelle: IW

A- 1502 (18) Dt. Ärztebl. 87, Heft 19, 10. Mai 1990

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