DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Gesundheitspolitik:
Rationalität und Verplanung liegen dicht beieinander
So sehr es sich für unterentwik- kelte Länder anbietet, gesundheits- politische „Regionalziele" durch die Weltgesundheitsorganisation aufzustellen, bestimmte Programme zur Verbesserung der gesundheit- lichen Versorgung zu definieren und die Effizienz der Maßnahmen an
„operationalen" Kosten-Nutzen- Kriterien zu messen, so wenig durchsetzbar und den Realitäten an- gepaßt wären solche Handlungsma- ximen in weit entwickelten gesund- heitlichen Versorgungssystemen hoch industrialisierter Länder. Die- se Auffassung vertritt Prof. Dr.
med. Michael Arnold, Ordinarius für Anatomie an der Universität Tü- bingen, Mitglied des Sachverständi- genrates für die Konzertierte Ak- tion. Professor Arnold stellte der Redaktion das Manuskript seines Vortrags zum Auftakt des 36. Inter- nationalen Fortbildungskongresses der Bundesärztekammer und der Österreichischen Ärztekammer in Davos (vom 6. bis zum 18. März) vorweg zur Verfügung.
Ein einzelner Parameter und wenige Indikatoren wären, laut Ar- nold, bei der Vielfalt von Methoden der gesundheitlichen Versorgung, differenzierten Behandlungstechno- logien und zwangsläufig in der Medi- zin verfolgten Einzelzielen nicht ge- eignet, zu einer klaren Aussage über globale Kosten-Nutzen-Relationen zu gelangen, betont Arnold. Gerade gesundheits-ökonomisch orientierte Gesundheitspolitiker in der Bundes- republik und Teile der Ministerial- bürokratie, aber auch die Soziallei- stungsträger und Funktionsträger in Verbänden verfolgt jedoch offen oder stillschweigend solche Konzep- te bei einer meist sehr kritischen Einstellung zum medizinischen Lei- stungsgeschehen. Der Tübinger Wissenschaftler fragt: Ist dieses Vor- gehen „mit dem Selbstverständnis der Ärzte in unserem Versorgungs-
system vereinbar und sollte dies die Grundlage der Gesundheitspolitik eines reichen Landes mit weitge- hend säkularisierter Gesellschaft sein, in welcher der Medizin eine weit über die Wissenschaft hinausge- hende Sozialfunktion zukommt"?
Die weit verbreitete Suche nach einem „Rationalismus" in der Ge- sundheitspolitik, so Professor Ar- nold in seinem Davos-Vortrag weiter, deute sich auch in der Phi- losophie des Entwurfs eines „Ge- sundheitsreformgesetzes" (GRG) des Bundesarbeitsministeriums an.
Ebenso seien die Bemühungen um
„prioritäre" (vorrangige) Gesund- heitsziele zu verstehen. Ziel hier sei es, tragfähige Entscheidungsgrund- lagen und Parameter für eine zentral geplante, planbare und damit als
„rational" angesehene Gesund- heitspolitik zu gewinnen.
Gefahr eines Datenmißbrauchs
Auch beim (abstrakt gesehen wünschenswerten) Bestreben, eine regelmäßige Geundheitsberichter- stattung aufzubauen, die Lücken in der Mortalitäts- und Morbiditätssta- tistik zu schließen und prioritäre Ge- sundheitsziele zu entwerfen, könne es nicht überraschen, daß Gesell- schaftsgestalter und manche Ge- sundheitspolitiker notwendigerweise auf einen Fundus sozialmedizini- scher, epidemiologischer Daten sto- ßen werden, die mißbraucht werden könnten. Sozialmedizinischen und präventivmedizinischen Daten wür- de so ein hoher Rang bei der Lösung von Gesundheitsproblemen einge- räumt werden, während die vorge- schlagenen Maßnahmen und Inter- ventionsmechanismen nur teilweise für das spezielle ärztliche Leistungs- geschehen bedeutsam seien, erklärt Arnold. Der ursprünglich ordnungs- politisch neutral konzipierte Ansatz der Gesundheitsberichterstattung und die Definition von „prioritären Gesundheitszielen" führten leicht dazu, das übergeordnete Ziel der Gesundheit („Gesundheitlichkeit"
im Sinne der Machbarkeit) in De- tailziele aufzusplitten und die Ziel- realisierung teilweise genau zu um- schreiben. Dadurch entfalle sowohl
für die Fixierung als auch die Mes- sung des Zielerreichungsgrades die Notwendigkeit, einen allgemein gül- tigen Gesundheitsbegriff zu definie- ren und anzuwenden.
Eine instrumentell konzipierte Berichterstattung entwickele aber eine Eigendynamik, wenn sie poli- tisch als Entscheidungshilfe verwen- det wird, und dann würden Zielkon- flikte evident: Es sei der Versuch nicht auszuschließen, daß unter dem Vorwand der Rationalität ein ver- plantes System mit ganz heteroge- nen Teilzielen geschaffen werde,
„aus deren jeweiliger Stellung in der Prioritätenliste auf Dauer unver- meidlich Allokationsentscheidungen abgeleitet werden . . ."
Professor Dr. Arnold mutmaßt, daß eine bürokratische zentrale Pla- nung mit Hilfe der Daten der Ge- sundheitsberichterstattung und glo- baler Gesundheitsziele inszeniert werden könnte, zumal damit die po- litischen Bemühungen um eine Da- tensammlung gerechtfertigt werden könnten — ebenso wie die Absicht, die Mittel so zuzuteilen, daß die prioritären Ziele möglichst genau und ebenso inhaltsgetreu realisiert werden.
Trotz der Erfahrung, daß die Auswirkungen von zentral geplan- ten Maßnahmen im voraus kaum ab- zuschätzen sind (weil vielfältige In- terdependenzen im sozialen Bereich herrschen), drohten dadurch Gefah- ren für die Unabhängigkeit der Me- dizin und die Freiberuflichkeit der Heilberufe. Bei politisch fixierten Gesundheitsausgaben laufe die Fest- legung von gesundheitspolitischen Teilzielen nach einer Dringlichkeits- liste auf eine Reallokation von Mit- teln hinaus (beispielsweise in Form einer Verschiebung von Mitteln von der kurativen auf die präventive Me- dizin), betont Arnold.
Andererseits wäre es bei „ab- weichendem Verhalten" und bei ei- ner Verfehlung von Teilzielen leich- ter möglich, aus gesamtgesellschaft- licher Rücksichtnahme auf bestimm- te Behandlungsverfahren zu verzich- ten, sie zu ächten, Leistungen auszu- schließen und die Leistungsträger (Ärzte und andere) zur Verantwor- tung zu ziehen oder mit Mittelabzug zu reagieren. Harald Clade A-584 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 10, 10. März 1988